Claudia am 25. März 1999 —

Seit gestern ist also Krieg

Seit gestern ist also Krieg. Es wirkt wie ein schlechter Film und ist doch Realität: „unsere Jungs“ in Mazedonien, auf Tornados im Kampfeinsatz, Bomben auf serbische Stellungen, Ansprache des Bundeskanzlers ans Volk – und zwischen den Nachrichten vom Angriff die üblichen gute-Laune-Trailer im Radio und TV! Krieg unter Rot-Grün, Joschka ist Außenminister – hätte das vor 5 Jahren jemand geglaubt? Die Sender verzichten nicht darauf, ihr übliches Profilierungssüppchen zu kochen, PRO 7 meldete gestern um halb acht allen Ernstes: die Russen machen mobil! Erschreckt an die Glotze geeilt, harrte ich der öffentlich-rechtlichen Tagesschau. Dort nichts dergleichen, aufatmen – aber was nicht ist…. Auf einmal scheint alles wieder möglich.

Diesmal hängt niemand mehr weiße Tücher aus dem Fenster wie zu Beginn des Golfkriegs. Wer wüßte noch eine Alternative zum Zuschlagen nach allem, was war? Nur die PDS mogelt sich mit ihrem völkerrechtlich begründeten „Nein“ noch immer über die Realitäten hinweg: Ein UN-Mandat zum Kampfeinsatz wäre nie zustande gekommen, die Russen hätten widersprochen, wer hätte da Zweifel? „Legal bleiben“ hätte also bedeutet, weiter zuzusehen, wie die Albaner vertrieben und ermordet, die Dörfer in Brand gesetzt werden. Völkerrechtlich korrekt hätte man es zu akzeptieren, daß die Serben eine ganze Volksgruppe aus ihrem Staatsgebiet vertreiben, Hunderttausende, Millionen – ist ja schließlich „nur“ eine innere Angelegenheit.

Doch jetzt geschieht nichts anderes, trotz NATO-Angriffen. Etwas nicht lassen können, was voraussichtlich alles verschlimmert, anstatt zu nützen, das ist das Dilemma. Man kann nicht ewig drohen und dann NICHT zuschlagen, wenn ein Minimum an Glaubwürdigkeit erhalten bleiben soll, bleiben muß. Aber glaubt irgendjemand ernsthaft, daß sich die Lage ohne Bodentruppen wenden ließe? Das behaupten nur die Politiker, gewählt, um den Menschen möglichst lange ihre Illusionen zu erhalten – Illusionen, die in diesem Fall der „ganz normale Bürger“ garnicht hat.

Mein Freund fragt, wie es sein könne, daß die intelligenten Nato-Strategen und die politisch Verantwortlichen sehenden Auges in etwas hineinschlittern, dessen Weiterungen sie nicht absehen, geschweige denn steuern können? Ich denke, es liegt daran, daß Politik und Diplomatie zu großen Teilen eine Veranstaltung zur Aufrechterhaltung von Illusionen sind. Realitätsverlust als Programm. Die Alternativen sind nämlich deutlich: entweder man akzeptiert die „ethnischen Säuberungen“ und nimmt die vertriebenen Millionen in Rest-Europa auf – oder man tritt den Agressoren entgegen, dann aber mit allen Mitteln, die zum Erfolg nötig sind. Daß diese Klarheit in der Politik unmöglich ist, macht Milosovics Vorgehen erst möglich.

Zwischen der Kriegsberichterstattung all die anderen Meldungen, es ist ja viel los, derzeit. Pinochet darf ausgeliefert werden, aber nicht wegen Folter vor 1988 – denn erst seit ’88 gilt den Briten Folter auch außerhalb ihres Staatsgebiets als Straftat. Deutsche Bauern fahren mit 4000 Traktoren in Berlin auf, protestieren gegen die Einkommensverluste aufgrund der AGENDA 2000. Was haben sie eigentlich geglaubt, das Europa für die reicheren Länder bedeutet?

Im Grunde weist alles auf dasselbe Problem hin. Westliche Werte, die viel beschworenen Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, bei uns auch SOZIALE Marktwirtschaft, UMVERTEILUNG zugunsten Schwächerer – sie gelten entweder GLOBAL oder garnicht. Der Nationalstaat als Veranstaltung zur Besserstellung einer räumlich begrenzten Bevölkerung verträgt sich damit nicht, ist inhaltlich überholt. Wer Frieden will, muß teilen, die eigenen Rechte und Möglichkeiten allen zugestehen, Inländern und Ausländern, im In- wie im Ausland.

Eine einfache Wahrheit, so schwer zu verwirklichen. Wieviele Jahrhunderte wird es noch dauern, wieviele Kriege?


Net-News:
die serbische Seite kann man auf Radio Beograd hören, deutschsprachige Nachrichten, allerdings den Ereignissen 1 Tag hinterher. Der Kosovo-Server meldet oft Überlastung aufgrund der Angriffe.

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