Claudia am 30. Juli 2002 — Kommentare deaktiviert für Das Einfache ist nicht einfach, das Schwierige nicht schwer

Das Einfache ist nicht einfach, das Schwierige nicht schwer

Eine Website zu gestalten ist eigentlich kein Problem, wenn man die dafür notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten (und ein paar Jahre Erfahrung) voraus setzt. Kurze Ladezeiten, eine ansprechende Optik, der schnelle Überblick über die Inhalte – mehr will der Surfer erst mal nicht. Ist das irgendwie schwierig?

Webdesign hat mir von anfang an Spaß gemacht, um so mehr, da ich zu einem Zeitpunkt eingestiegen bin, als bei weitem noch nicht ausgemacht war, was aus dem Web einmal werden würde. Ich zögerte nicht, es zum Erwerbsberuf werden zu lassen, als mich auf einmal Leute fragten, ob ich auch „im auftrag“ arbeiten würde: aber sicher doch! Besser kann das Leben ja eigentlich nicht laufen, als wenn man für das bezahlt wird, was man sowieso gerne tut, dachte ich mir so. Einfach nur immer Ja sagen, kein Drücken, kein Sich-mühsam-anpreisen, kein direktes Konkurrieren (wer ein Klinger-Design will, will nicht irgend etwas anderes) – nur immer den eigenen Impulsen folgen, schreibend, gestaltend, kommunizierend. Dadurch teilt sich der Welt ganz automatisch mit, was ich kann und was nicht und wie ich die Dinge sehe. Wenn dann jemand kommt, der etwas Spezielles haben möchte, brauch‘ ich nur einen Kostenvoranschlag machen und loslegen. Wunderbar!

Es gibt allerdings einen Moment der Unsicherheit im Herstellungsprozess einer Site, den ich niemals „in den Griff“ bekomme: der erste Entwurf. Vorher sammle ich Material, schau mir Seiten aus dem Umfeld an, versuche heraus zu bekommen, was für Farben, Formen und Stile dem auftraggeber gefallen könnten (was gar nicht leicht ist, weil er das selber nicht weiß). Aber irgendwann sitze ich dann doch da, schaue auf die leere Fläche in der Größe einer Webseite und schiebe ein Logo hin und her oder sonst etwas, was gerade als minimaler ausgangspunkt dienen mag. Jetzt „denke“ ich nicht mehr, sondern schalte auf „fühlen“ bzw. spüren um. Auf der leeren Seite tu ich das, was alle Lebewesen überall tun: Leiden meiden und Freude suchen. Genau wie sich ein Satz holprig anhören, eine Formulierung unglücklich wirken, ein absatz sich schmerzlich in die Länge ziehen und unendlich langweilen kann, so enthalten auch die einzelnen Elemente einer Seite – Farben, Formen, Bilder, Textblöcke – ihre gefühligen aspekte, die es „sprechend“ einzusetzen und auszugleichen gilt.

Wer das diskursive Denken nicht abschalten kann, kann nichts gestalten, allenfalls vorhandene Werke mehr schlecht als recht nachahmen. Als letztes Mittel schwebt genau das als Möglichkeit vor dem Gestalter, dem (noch) nichts eingefallen ist – diese angst geht dem ersten Entwurf jedes Mal voraus, selbst wenn sie einem kaum mehr auffällt, weil man an sie gewöhnt ist wie an Nachbars stinkenden alten Hund.

Persönlich erlebe ich diese Angst nicht direkt als Angst, etwas in mir verweigert sich diesem Gefühl. Statt dessen erscheint es als ein Hinauszögern, als schier endloses Vor-mir-her-Schieben dieser Gestaltungsaufgabe. Das wirkt durchaus so verrückt, dass ich nicht darüber hinwegsehen kann. Immerhin verzögere ich etwas, das ich „eigentlich“ gerne tue! Irgendwann findet diese Phase ihr natürliches oder von meinem Zeitplan verordnetes Ende und es wird Ernst: Ich sitze vor der leeren Seite, schiebe ein Logo hin und her oder sonst etwas, versuche es mit dieser oder jener Form, teste eine Farbe an, probiere eine bestimmte Raumaufteilung, dann eine andere…

…und wenn das so eine halbe Stunde gegangen ist, kommen auf einmal „Ideen“ (bzw. fallen ein) – ich schreibe sie in anführungszeichen, weil sie sich keinesfalls rein mental ins Spiel bringen. Eher sind es heiße Wünsche, Empfindungen heftigen Verlangens: hier MUSS einfach noch ein Rot hin, damit das andere nicht so alleine klotzen kann! Und da oben ist ein Loch im Raum, das auf keinen Fall so bleiben darf – jetzt aber sieht alles schrecklich bieder aus, um Himmels Willen, da muss ein Bruch rein, eine Irritation, ein bisschen Schmerz für den Betrachter, der sich dann umso besser auf dem warmen runden Orange da drüben wieder erholen kann….

Es spricht für die Verrücktheit der Gesellschaft, diese Form von Kreativität als schöpferische LEISTUNG bestimmter Individuen in den Himmel zu heben. Und richtig peinlich wird es, wenn Einzelne mit diesem gewissen Ich-der-Kreative, ICH-die-Künstlerin-Gestus auftrumpfen. Ich vermute mal, das sind meistens Leute, die entweder zu den geschickten Nachahmern gehören, oder solche, die gar nicht wissen, was sie (nicht) tun, dumm genug, um sich das Geschehen und die Ergebnisse als „Leistung“ anzurechnen, nicht bemerkend, dass alles „von selber“ geschieht.

Im kreativen Prozess muss man nämlich nichts leisten: keine Kraft einsetzen, keine großen anstrengungen, nicht kämpfen, nicht dominieren und sich durchsetzen, auch nicht intellektuell brillieren, im Gegenteil: man muss sich los lassen, alles ausprobieren, was so „ein fällt“, nicht urteilen, einfach nur spielen und fühlen, fühlen, fühlen – zur Saite werden, zum Resonanzboden, der auf verschiedene auslöser unterschiedlich reagiert. Und dann eben einfach reagieren, das Ergebnis als neuen Impuls erleben, wieder spüren, wie es sich JETZT anfühlt – die einzige „Leistung“, wenn man es unbedingt so nennen will, ist die Konzentration, das Fokussieren der aufmerksamkeit auf diese Resonanz und sonst gar nichts.

OB da etwas geschieht, WaS da geschieht, ob etwas dabei heraus kommt (?) oder doch nicht – letztlich können wir das nicht vorher wissen, es ist immer eine art Zitterpartie. Gott lob nur für den Teil des Geistes, der noch darüber grübelt, ob der auftraggeber das mögen wird, ob der Termin einzuhalten ist, ob nicht all dieses ausprobieren und Herumspielen lange schon den veranschlagten Zeitrahmen sprengt – aber genau dieser Teil ist ja vorübergehend von der Bildfläche verschwunden, wenn der kreative Part aktiv ist!

Um 90 Grad gedreht

So, es ist jetzt halb drei, die Hitze draußen ist gewaltig und von Minute zu Minute wird es schwüler. Mir geht’s dennoch ausgesprochen gut, denn heut‘ hab ich mich spontan aufgerafft, meinen Schreibtisch umzustellen – einschließlich des ganzen Computer-Equipments, das da dran hängt. Alles um 90 Grad nach links gedreht, so dass ich jetzt mit dem Rücken zur Wand sitze – und nicht mehr zur Tür! Schräg rechts ist jetzt das Fenster, gerade aus ein kleiner Tisch mit drei Buddhas und Blumenstrauß, links die immer offen stehende Tür, ich kann ein Stück weit in den Flut sehen.

Was für ein gutes Gefühl, nicht mehr dieses energetische „Loch“ im Rücken zu spüren, das ich mir seit Jahren freiwillig zumute. Und nicht etwa aus Unwissenheit – jeder weiß schließlich Bescheid, was das „Mit-dem-Rücken-zur-Tür-Sitzen“ angeht – sondern aus Hybris: allen Ernstes hab‘ ich angenommen, ich könne mich gewaltsam umgewöhnen, das Phänomen ignorieren, das Unwohlsein „aussitzen“ und so im Lauf der Zeit zwingen, mangels Beachtung einfach zu verschwinden. Weit gefehlt, es hat sich keinen Deut verändert, das bemerke ich jetzt, wo es verschwunden ist. Wie schön, wenn der Schmerz nachlässt!

Das Einfache ist nicht einfach und das Schwierige nicht schwer. Je älter ich werde, desto klarer wird das. Eine Kampagne planen und zwanzig Mitarbeiter leiten ist einfacher, als im eigenen Zimmer eine transparente Ordnung zu erhalten, die nicht nur aus dem Kopf kommt, sondern sich rundum gut anfühlt. Keine überflüssigen Dinge horten und alles belastende Zuviel vermeiden ist weit anspruchsvoller als das schlichte Powerplay, mit dem man in der Gesellschaft „etwas wird“. Zustände analysieren, Einfälle auswerten, Vorgehensweisen planen, umsetzen und kontrollieren, berechenbare Ziele anstreben und erreichen – man glaubt viel zu lange, das sei es, was das Leben für uns bereit hält, was die Welt von uns will. Dabei ist es nichts anderes als die Ideologie des Funktionierens: alles muss flutschen. Bau mit am großen Programm, sei innovativ, schaff dein ureigenes „Feature“, setze es am Markt durch und du wirst unsterblich sein – ein Lacher! Morgen wirst du durch das Feature deines Konkurrenten ersetzt, das alles, was du kannst, weit besser und schneller zustande bringt – und warum auch nicht? alles, was berechenbar ist, ist letztlich langweilig und menschlicher Befassung nicht wert – wir wissen schon, warum wir das Funktionieren ganz gern den Programmen und automaten überlassen!

Richtig spannend, wirklich abenteuerlich wird das Leben erst, wenn keine Ziele mehr locken und der Blick endlich frei wird. Frei für das, was immer schon da ist, übersehen, unbemerkt: die unendliche Weite des Augenblicks. Ziele, Wünsche, Vorhaben können sich ja nur auf bereits Bekanntes richten; meist sind es die öden Ziele der Gier, das immer gleiche Haben- und Absichern-wollen.

Das Unbekannte zeigt sich erst, wenn wir „genug davon“ haben, wenn wir uns selbst nicht mehr in den Mittelpunkt der aufmerksamkeit drängen.

So einfach. So schwer.

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Claudia am 17. Juli 2002 — Kommentare deaktiviert für Kurz dahin geplaudert…

Kurz dahin geplaudert…

Einfach mal in die Tasten tippen und schauen, was dabei heraus kommt. Nicht lang überlegen, immer im Rhythmus bleiben – oh, jetzt hab‘ ich den verbotenen Gedanken gedacht und schon stockt das Ganze, noch bevor es richtig angefangen hat. Okay okay, also lieber Zeit lassen, die Leere im Hirn genießen, nicht nach Themen und Lesern fragen, nicht nach arbeit, die lautstark nach mir ruft und nicht nach dem nächsten Kaffee, für den die Milch nicht mehr reicht, sondern erst beim Bäcker gegenüber geholt werden muss.

Es ist halb neun und schreibend komme ich mir vor, als würde ich die Schule schwänzen. Ich verbrauche Energie, die für andere Dinge verplant ist, um Sätze aneinander zu reihen, einfach nur, weil es mich glücklich macht. Manchmal schreib ich nur kurz, wie jetzt, manchmal dauert so eine Session aber auch bis zu zwei Stunden; dann ist eine Pause fällig, in der ich allenfalls mechanische Dinge tun kann, ganz gewiss nichts Kreatives mehr!

So manches mal verschwindet auch schon recht früh am Tag die Bereitschaft, immerzu auf einem Stuhl zu sitzen. Der Körper mag einfach nicht mehr – und das wirkt sich auf alles aus, was ich dann noch tue, denke, schreibe und gestalte, nicht unbedingt zu dessen Vorteil.
Lieber mal aufstehen – BEVOR es richtig ätzend wird! – und eine Yoga-Übung einschieben. Kaum etwas regeneriert, erfrischt, belebt, beruhigt und klärt die Gedanken in kürzerer Zeit.

Zum Beispiel mach‘ ich gerne die Vorbeuge: Rücken gerade, aus der Hüfte heraus langsam „abknicken“, den Oberkörper nach unten hängen lassen, die Haare berühren den Boden, ein ulkiges Gefühl. Durch die Beine hindurch sehe ich die Welt um 180 Grad gedreht, ich schaukle mit dem Kopf, um sicher zu sein, dass er ganz locker nach unten baumelt – wie angenehm!

Zumindest sieben Atemzüge sollte man in einer solchen „Asana“ ausharren, so lange dauert es nämlich, bis alle Ebenen meines Wesens die Veränderung bis in ihre Einzelheiten mitbekommen und mitgefühlt haben. Bei Übungen wie dieser bleibe ich auch gerne länger in der Stellung, genieße sie richtig, ja, ich genieße alle Übungen, die nicht auf aktiver Muskelanspannung (Kraft-ausübung) beruhen – vermutlich einer der Gründe, warum ich „zusätzlich“ ins Fitness-Center gehe. Dort begegnet mir das Thema Kraft nämlich als „Problem mit einem Gerät“ – und DaS ist schließlich eine heute ganz übliche und ausgesprochen gewohnte Form, der Welt ins kalte auge zu schauen.

Tja, und wenn ich das mal so aus der Distanz betrachte, stelle ich fest, dass ich auch im Center die Gerätschaften tendenziell eher meide, die Zeiten werden kürzer, die Wiederholungen weniger, eigentlich macht mir das Ganze schon keinen Spaß mehr. Dafür sind Fitness und ausdauer im Cardio-Training (Walken, Rudern, Steppen) gewaltig gewachsen. Im letzten September schaffte ich gerade mal zehn Minuten, heute laufe, rudere und steppe ich locker eine dreiviertel Stunde, fühl‘ mich dabei blendend und genieße das Schwitzen. Dazu 20 Minuten nicht mehr so richtig ernst gemeintes Krafttraining, und dann, ja dann geht’s in mein persönliches Paradies, die SaUNa. (Ohne die Sauna wär‘ ich nämlich gar nicht erst Mitglied geworden!)

Wenn ich dann hinterher auf der Bäderliege entspanne, empfinde ich jedes Mal große Dankbarkeit für das mir ohne Zutun geschenkte Dasein in der entwickelten Industriegesellschaft, die dieses privilegierte Schwelgen im reinen Wohlgefühl ermöglicht: in Frieden und Freiheit, mit frischer Luft und sauberem Wasser, zu einem für die große Mehrheit erschwinglichem Preis. Wer hat das schon, mal weltweit umher geschaut? Schade nur, dass es für selbstverständlich genommen wird und kaum noch jemanden glücklich macht. Die meisten laufen hierzulande mit einer Miene herum, als hätten sie in den Wüsten des Sudan Hunger und Krieg zu erleiden oder neben den lecken Pipelines im ölverseuchten Nigeria dem Shell-Konzern ein paar Dollar abzubetteln. Aber was rede ich, vermutlich sehen die Leute dort vergleichsweise gut aus, sind weder übergewichtig noch neurotisch und lachen sich ganz oft an!

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Claudia am 11. Juli 2002 — Kommentare deaktiviert für Donner, Blitz und wahrer Wille – von der höheren Macht

Donner, Blitz und wahrer Wille – von der höheren Macht

Heute morgen, während der letzten zehn Minuten im Bett, hatte das Schreiben schon angefangen: Satz um Satz floss durch mich hindurch und wollte hinaus. „Merk dir das für nachher“ redete der innere Lektor auf mich ein, obwohl es wahrlich nichts Besonderes war, was da nach Veröffentlichung drängte. Ich sehnte mich einfach nach dem weißen Raum, nach der Tastatur, nach der Stille, die eintritt, wenn der Strom der Gedanken endlich im Fokus der Aufmerksamkeit steht wie ein geladener und freudig erwarteter Gast. An Schlaf war nicht mehr zu denken.

„Sieben Tote in Brandenburg“, sagte mein Lebensgefährte, als ich mir den ersten Kaffee aus der Küche holte. 1000 Bäume sind heute Nacht umgestürzt, einige davon auf Autos, Zelte und Menschen! Es scheint, als verstärkten sich in letzter Zeit die Unwetter, die Schäden werden größer, die Verletzten und Toten immer zahlreicher. Ist das die Klimaveränderung? Ich glaube, dass es sich hier zumindest auch um Kollateralschäden des Info-Zeitalters handelt: von klein auf gewohnt, Medien weit wichtiger zu nehmen als das meiste „Realgeschehen“, ist jeglicher Respekt vor den Naturgewalten abhanden gekommen. Wer hat denn noch Angst vor Blitz und Donner? Wer fragt sich, ob er „Schutz bei Buchen suchen“ oder lieber „unter Eichen weichen“ soll? Vielleicht fallen mir gleich noch ein paar Sinnsprüche meiner Kindheit ein, deren Richtigkeit zwar angezweifelt wurde, nicht aber deren Berechtigung!

Die Freaks und Trinker auf dem Boxhagener Platz bleiben einfach sitzen, wenn der Himmel sich verdunkelt und der Sturm die Blätter treibt als sei es schon Herbst, wenn die Äste der Kastanienbäume hin und her peitschen, wie man es ihnen gar nicht zutrauen würde und die Abstände zwischen Blitz und Donner immer kürzer werden. „Du musst die Sekunden zählen“, sagte mein Vater mit gesenkter Stimme, wenn ein starker Blitz das Zimmer erhellte und die ganze Welt in einer Schrecksekunde gefangen war: „Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, weiterzählen bis es donnert! Dann weißt du, wie viele Kilometer das Gewitter noch weg ist.“ Und ich zählte, ja, ich zähle heute noch und überlege mir viel zu lange, ob es jetzt Zeit ist, den PC herunter zu fahren und den Stecker zu ziehen. Oder ob das nicht doch ein bisschen übertrieben ist? Wer denkt denn ernsthaft daran, der Blitz könnte „ins Gerät fahren“???

Bisher hatte ich Glück in meinem Leichtsinn. Nicht so ein guter Freund, der bei einem Gewitter den für computergestützte Menschen größten anzunehmenden Unfall erleben musste: es hat ihm beide Festplatten gleichzeitig zerschossen. Ich muss ihn doch mal anrufen und fragen, ob er mittlerweile immer den Stecker zieht.

Endlich Nichtraucherin?

Gut sechs Wochen sind es nun schon, die ich rauchfrei zubringe und zum ersten Mal seit 32 Jahren fühle ich mich als Nichtraucherin. Während der vorhergehenden Aufhörversuche – drei Wochen im letzten Jahr oder damals 1998, als ich monatelang ein Nichtraucher-Tagebuch schrieb – war es anders. Ich blieb geistig im Raum des Rauchens, wenn auch in einer negativen, ablehnenden Weise. Man ist kein Nichtraucher, solange man ans Nicht-Rauchen denkt, solange man sich innerlich ständig bestärken und mit Rauchern vergleichen muss, um weiterhin der Meinung zu bleiben, „ohne“ sei das Leben besser als mit der Kippe.

Heute komme ich tagelang ohne Gedanken ans Rauchen oder Nichtrauchen aus – glücklicherweise hat auch mein liebster Freund die Kippen aus der Wohnung und unserem gemeinsamen Leben verbannt, so dass der Übergang in ein rauchloses Dasein vergleichsweise leicht geglückt ist. In den ersten zwei Wochen erlebte ich noch häufige „Verlangensattacken“, doch dann sind sie fast ganz aus meinem Leben verschwunden und melden sich nur noch sehr selten. Ein guter Gedanke in einer solchen Situation ist: „Ob ich jetzt rauche oder nicht rauche: das Verlangen wird in kürzester Zeit vorbei sein“. aber wie gesagt, es kommt kaum noch vor, ich kann das alles für lange Phasen vergessen, wie wunderbar!

Neben allen Veränderungen auf der körperlichen und psychischen Ebene nehme ich dieses Mal deutlicher denn je wahr, dass eine geistige Vernebelung von mir gewichen ist, die mein ganzes Leben umfasste. Mit den Giften aus der Zigarette konnte ich bestimmte aspekte meines Daseins verstärken und andere unterdrücken, ganz ohne dass mir das im Einzelnen bewusst gewesen wäre, bzw. dass ich da etwas GEWÄHLT hätte. Meine Bereitschaft, Dinge hinzunehmen oder mich ihnen zu wiedersetzen, mein Vermögen, aktiv das Leben zu gestalten oder es nur passiv zu beobachten, mein Vertrauen in das eigene Empfinden und ins Selber-Denken (!) – all dies war durch das Rauchen zumindest schwer verzerrt, teils sehr stark beeinträchtigt.

Weil viele immer nur die psychophysischen aspekte des Rauchens erwähnen, will ich das an einem Beispiel erläutern: Wir sind es ja alle gewohnt, immerzu die Welt zu kritisieren, Missstände zu benennen, uns über alles und jedes aufzuregen und Verbesserungen zu fordern: ob es die Politik, das Wirtschaftsleben, die ganz persönliche arbeitswelt oder unsere Beziehungen betrifft: so vieles ist nicht so, wie wir es gerne hätten! aber was soll eigentlich das ganze Kritisieren und Herummäkeln, wenn wir uns – ungerührt vom eigenen Verbesserungs-Geplapper – Tag für Tag das Leben wissentlich selbst verkürzen, die eigene Gesundheit sehenden auges zerstören, Woche für Woche, Jahr für Jahr? Und dafür, als Gipfel des Irrsinns, auch noch ein kleines Vermögen ausgeben?

Warum denn die Natur schützen, wenn ich meine Lungen zur braun verklebten Müllhalde umfunktioniere? Warum die Hühner aus den Käfigen befreien, wenn ich doch jeder Zelle des eigenen Körpers ein „inneres Gerüst“ aus Nikotin verpasse, damit ich weniger spüre?

Es geht hier nicht um Fragen der Glaubwürdigkeit in Bezug auf eine „außenwelt“, nicht um andere Menschen, die so denken und mich nicht ernst nehmen könnten. Diese Gefahr ist tatsächlich gering, denn das Rauchen gilt als derart normal, dass eher diejenigen unter Verdacht geraten, die diese Gedanken offen aussprechen. Mir geht es jetzt einzig und alleine um mich: was ich selber von mir halte, wie ernst ich mich selbst nehmen kann, inwiefern ich meiner eigenen Wahrnehmung (von mir selbst UND der Welt da draußen) vertrauen und mein Denken und Handeln daran ausrichten kann.

Wow, und das hat jetzt eine ganz andere Qualität! Seit es gelungen ist, das, was nervt und stinkt und schmerzt und kostet, endlich los zu lassen, hat alles andere in meinem Leben auf neue Weise Hand und Fuß. Das ist KEINE Sache des Denkens, des oberflächlichen Sich-selbst-bewertens: Ich habe mich ja wegen des Rauchens nicht etwa verurteilt oder auch nur ernsthaft kritisiert, sondern im Gegenteil stets getröstet, gerechtfertigt und verteidigt: auch Nichtraucher müssen sterben! Wer macht schon alles richtig im Leben? Bin ich denn eine Heilige?

aber unterhalb dieses Mich-Beschwichtigens, weit unterhalb des „vernünftigen Denkens“ und all der Unvernünftigkeit, zu der es fähig ist, lebt etwas, das sich nicht bestechen und belügen lässt. Dort ist der Ursprung der angst, das Leben selbst, das nun mal Überleben will und alles Todbringende ablehnt und fürchtet. Man kann nicht mit ihm diskutieren, man kann nur seine Wahrnehmung ablehnen, die eigenen Kanäle verstopfen, sich betäuben und benebeln.

Das klappt. Sogar sehr gut. Allerdings verliert man dabei nicht „nur“ die Wahrnehmung der angst und des eigenen Leidens, sondern gleich alle „Tiefenwahrnehmung“, die uns Menschen eigentlich natürlich ist. Das Gespür für den anderen, für die Situation, für den richtigen Zeitpunkt: die 360-Grad-Wahrnehmung des augenblicks im Hier & Jetzt, quer durch alle Ebenen des Daseins. Im Yoga spricht man von den Siddhis, den „Fähigkeiten“, auch diese sind hier mit gemeint. Sie werden idiotischerweise auf dem Eso-Buchmarkt als „‚was ganz Besonderes“ vermarktet und sind doch nur verfeinerte Wahrnehmungsweisen, die allen Menschen zugänglich sind, mal mehr, mal weniger, je nach Offenheit, Veranlagung und Temperament. Jeder sieht ein bisschen hell, solange er nicht mutwillig den eigenen Blick (besser: das Gespür) verdunkelt, zum Beispiel mit stofflichen Giften und Suchtmitteln.

Die Chancen wachsen!

Ich weiß, dass solche Texte den Noch-Rauchenden nicht gerade angenehm sind. Weil es nun mal nicht in der je eigenen Macht liegt, das Rauchen von jetzt auf gleich zu lassen, fühlt man sich ziemlich beschissen. Man ist adressat von Vorwürfen, ausgesprochen oder nicht, und dabei kann doch kein Nichtraucher nachvollziehen, wie man sich tatsächlich befindet. Es SCHEINT ja so, als könne man das Elend jederzeit beenden: die Kippen wegwerfen und mit einer der üblichen Methoden – von der Gehirnwäsche mit alan Carr übers Nikotinpflaster bis hin zum gefährlichen Zyban – in ein hoffentlich langes Nichtraucherleben starten. Aber der Wille ist eine begrenzte Ressource, alleine reicht er nicht aus, um „mal eben so“ zum Nichtraucher zu werden. Kaum einer schafft es beim ersten Mal, egal, ob das Loslassen nun als schwierige langwierige Unternehmung oder mit a. Carr als „ganz leicht“ betrachtet wird. Immerhin: bei jedem aufhören wird es wahrscheinlicher, dass der Raucher frei wird, das ist mittlerweile statistisch bewiesen.

Was ist Wille? Wenn ich sage, der Wille allein reicht nicht, meine ich damit nicht nur die heftige Willensanstrengung, die zusammen mit der „Punkt-Schluß-Methode“ in Verruf geraten ist, weil sie die meisten Rückfälle produziert. Auch jede geschickte art und Weise, die Dinge anders zu betrachten, sie mal genau zu beobachten, um dabei festzustellen, dass all die vermuteten Leiden, die mit dem Entzug herein brechen sollen, in Wirklichkeit halb so wild sind – all diese geistigen Methoden zähle ich zum „inneren Ikebana“, das ich erst einmal anwenden WOLLEN muss, bevor es funktionieren kann.

Und: Ich kann zwar lernen, zu wählen, was ich denken will, aber mir eben NICHT aussuchen, was ich wollen soll. Dazu reiche ich nicht aus, bzw. das, wozu ich (aus guten Gründen!) gewohnt bin, „ich“ zu sagen, reicht nicht bis in die Tiefendimension des Ganzen hinein, aus der der wahre Wille sich täglich neu gebiert. Was immer dieser Wille sein mag: es handelt sich in jedem Fall um ein ganz anderes Kaliber als dieses blasse „ich denke, ich sollte…“, das wir manchmal Wille nennen.

Kann man also etwas tun? Sicher! Ich habe immer wieder versucht, das Rauchen aufzugeben. Dafür muss ich mich immer wieder freiwillig in den „Entwöhnungsraum“ begeben: diese hässlichen Informationen über die Schäden des Rauchens lesen, mit anderen kommunizieren, neue Versuche starten, das Beste hoffen, den Willen anstrengen, den Willen ignorieren, alles genau beobachten, nicht dran denken, das Thema vergessen, die Geister beschwören, oder auch bitten, betteln, beten und befehlen – alles, alles, alles, was irgendwie nützt!

Was aber letztlich geschieht, habe ich NICHT im Griff. Einzig dieser Gedanke – ihn zu REALISIEREN, nicht nur zu denken – erlöst von aller Sucht.

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Claudia am 05. Juli 2002 — Kommentare deaktiviert für Nähe und Verbindlichkeit

Nähe und Verbindlichkeit

Mal frische Luft schnappen. Ich stehe auf und will die Balkontür öffnen, da sehe ich den Spatz. Am Rande des Betonbodens, auf dem noch die große Pfütze vom letzten Regen steht, hüpft er zögernd vorwärts, schaut suchend um sich, guckt nach rechts, nach links – jetzt hat er mich bemerkt! Ein kurzes Erschrecken und weg ist er.

Mich packt prompt das schlechtes Gewissen, denn ich weiß, was der Spatz gesucht und nicht gefunden hat. Gestern noch, vorgestern und auch schon vor einer Woche hatte ich nämlich auf Fenstersims und Balkonbrüstung Brotreste ausgelegt. Der Wind hatte die Brosamen verweht und über den Boden verteilt, wo sie fein säuberlich von den Spatzen aufgepickt worden waren. Ja ja, ich weiß, weder ist es Winter, noch sind Spatzen „schützenswert“, im Gegenteil, sie gelten als die Allergewöhnlichsten unter den Vögeln. Aber egal, lieber seh‘ ich Spatzen auf dem Balkon als gar keine Vögel – so dachte ich zumindest gestern, vorgestern und vor einer Woche.

Heute aber hab‘ ich es vergessen. Ach was, das wäre schon zuviel gesagt, ich war einfach auf einem anderen Stern, beschäftigt in einer der vielen Welten, die mein Leben ausmachen und doch nicht allzu viel miteinander zu tun haben. Und nur ganz ganz wenig mit Vögeln.

Zum Beispiel gibt es keine Spatzen dort, wo ich gerade versuche, per E-Mail die Verwendung eines FTP-Programms Schritt für Schritt verständlich zu erklären. Auch nicht in den virtuellen Gemeinschaften und Informationsquellen, wo ich gerade für einen Interessenten erforsche, wann eine private Homepage ein Impressum braucht. Himmel, jene Welt ist dafür voll von lauernden Monstern, sogenannten „abmahnanwälten“ die einen Unwissenden hinterrücks überfallen und fünfzigtausend Euro fordern können, wenn man etwas falsch macht. Weit fürchterlicher also als ein realer Dschungel mit echten Würgeschlangen. Ich schaudere und mach‘ mich davon, sende die gesammelten Erkenntnisse noch als Warnung an liebe Freunde und rufe schließlich – Erholung suchend – meine Privatmail ab.

„Ich will dich“, „Get White Teeth Fast“, „Nachrichten von deinem Single-Finder-Team“ – ich schlage mich durch das übliche Gestrüpp aus unverlangter Werbemail und finde tatsächlich eine RICHTIGE Botschaft. Ein Bekannter spinnt einen Gesprächsfaden weiter, der schon vor Wochen abgerissen war, einfach unterbrochen, obwohl wir uns sogar offline getroffen und von angesicht zu angesicht geplaudert hatten. Verbindlichkeit ist eines seiner Themen – Himmel noch mal, ich geh‘ jetzt SOFORT in die Küche, schneide das alte Sesam-Vollkornbrot auf und füttere erst mal die Spatzen!

Verbindlichkeit? Was ist das eigentlich und existiert es noch in den Zeiten der Netze? Wenn ich „potenziell“ immer sofort alles haben, abrufen, ordern, auswählen, in mich hineinfressen, kaufen, genießen und verbrauchen kann, ja sogar soll – was bedeutet dann noch „Verbindlichkeit“?

Das Wort scheint ein Überbleibsel aus Zeiten des Mangels zu sein, wo man sich darauf verlassen können musste, dass unter ganz bestimmten, aber immerhin bekannten Bedingungen jemand da sein wird, für MICH da sein. Ich werde verlässlich bekommen, was ich brauche, seien es materielle Dinge, sei es Schutz, Zuwendung, Fürsorge, Zuspruch – oder einfach eine Gelegenheit, mich fallen zu lassen.

Achtung, hier gerate ich gefährlich nah‘ ans Therapie-Idiom: komm, lass dich gaaaaanz fallen, lass einfach los… Wünschen wir uns etwa Verbindlichkeit, um wenigstens zu bestimmten Terminen wieder Kind sein zu können? Will ich berechenbare Verhältnisse, damit ich psychisch und geistig einschlafen kann? Zumindest ist es bemerkenswert, dass der Hang zur Verbindlichkeit erst mit zunehmendem alter so richtig ins Bewusstsein tritt. In jungen Jahren dominiert die Sehnsucht nach Freiheit, nach Veränderung, nach dem Bruch mit dem allzu Bekannten und Verlässlichen. Spontaneität und Echtheit sind hohe Werte. Keinesfalls will man sich anpassen, womöglich verbiegen, nur um sich in vermeintlich sicheren Bahnen bewegen zu dürfen. Schlimmer noch: Dem Onkel Willy nach dem Munde reden, weil der zu Weihnachten immer das Scheckbuch zückt? Niemals! Zwar ist so eine Liebedienerei nicht dasselbe wie Verbindlichkeit, aber fängt es mit dem fraglosen Einhalten all dieser unausgesprochenen Verabredungen und Erwartungen nicht schon an?

Haben nicht alle Beziehungen etwas Korrumpierendes? Keine Frage, ich brauche Verbindlichkeit, ich sehne mich nach „Nähe“ und möchte gerne MEHR Menschen kennen, denen ich vertrauen, auf die ich mich verlassen kann. Dass ich dieses Bedürfnis spüre, das Gefühl gut kenne, heißt allerdings nicht, dass es damit schon „gut so“ ist. Die Rückseite der Medaille steht mir ebenso im Bewusstsein, die Unfreiheit, die Gebundenheit, ein Gefühl des Ausgeliefertseins und der Machtlosigkeit, das bis zum Ekel gehen kann. Als Kind wurde mir gelegentlich flau im Magen, wenn ich an der Hand meiner Mutter treppauf zur Wohnung unseres Drei-Generationen-Haushalts steigen musste. Ich war erst vier Jahre alt und fühlte mich zum kotzen, wusste aber nicht warum. Es hätte auch keinen erkennbaren Grund gegeben, den ein Beobachter hätte nennen können. Meine Kotzgefühle waren einfach eine Reaktion auf die vielfältigen, meist unter der Decke gehaltenen Konflikte und Spannungen zwischen Vater und Mutter, Eltern und Großeltern – aber es war immerhin „die Großfamilie“, der heut‘ von vielen nachträglich so gern gerühmte Hort der Sicherheit und Wärme.

Befreit vom Druck der Verhältnisse: zu kalt?

In den wunderbaren Atbauwohnungen mit den hohen Decken wohnen wir gerne, aber die Verhältnisse der Menschen, die früher darin lebten, haben wir mit Freude abgeschafft, haben uns weitgehend befreit, zu tun und zu lassen, was wir mögen. Jeder darf seinen eigenen Entwurf leben und diesen so oft wechseln, wie er es vermag; darf denken, sagen, schreiben, was immer ihm beliebt (im Rahmen der Gesetze, versteht sich, die aber vergleichsweise große Freiräume zulassen). Die Welt wird immer komplexer, es gelingt kaum mehr, für oder gegen etwas zu sein, wenn man nicht bei den Banalitäten der Oberfläche stehen bleiben will. Meinungen taugen also immer weniger dazu, Verbindlichkeit zu transportieren, sie wechseln einfach zu schnell oder existieren gar nebeneinander in einem allumfassenden Sowohl-als-auch. Was aber dann? Woher sollen die „Konstanten in menschlichen Beziehungen“, die man so gerne hätte, eigentlich kommen?

Der Partner, die Familie, der Clan, das Dorf oder die Nachbarschaft – all diese Beziehungen und Bezüge, die früher das ganze Leben bestimmten, haben ihre einstige Macht, ihre Bindungskraft aufgrund konkreter ökonomischer Bedingungen verloren. Diese art Verbindlichkeit haben wir gekündigt, uns von konkreten Mitmenschen emanzipiert und statt dessen abstrakte Systeme geschaffen. Das soziale Netz gibt Sicherheit, das Rechtssystem erzwingt Berechenbarkeit – war das nicht eine super Idee? Frei von Zwängen und Notwendigkeiten müsste sich so das Zwischenmenschliche doch eigentlich optimal entfalten können – warum nur stimmt sie auf einmal nicht mehr, diese sozialdemokratische Utopie? Hat es äußere Gründe, weil unser Export-abhängiger Wohlstand durch weltweite Konkurrenz angegriffen wird? Oder ist es einfach die Kälte des „Lebens mit den Systemen“, die immer unerträglicher erscheint?

Der Rollback ist jedenfalls im Gange, nicht erst seit gestern. Das Unbehagen an den erkämpften Freiheiten, das Leiden an der Unverbindlichkeit und „Beliebigkeit“ wird immer stärker. Die Errungenschaften der 68er und Post-68er verschränken sich lange schon mit den Bedürfnissen des alles durchdringenden Marktgeschehens und der damit einher gehenden Rationalisierung. Flexibilität, Mobilität, alles verändert und beschleunigt sich – wir kennen den Sound der Zeit und halten uns immer öfter die Ohren zu. Wo meine Großmutter noch darauf zählen konnte, dass zumindest die Farbe und Form ihrer acht verschiedenen Tabletten von Tag zu Tag gleich blieb, schwindet momentan selbst diese kleine Konstante des alltags im Zuge der Sparmaßnahmen im Gesundheitswesen dahin. Nurmehr „Wirkstoffe“ darf der arzt verschreiben, und der Apotheker sucht dazu die preisgünstigsten Tabletten heraus. Völlig vernünftig, ja sicher – aber wohin mit dem Unbehagen, das mit all diesen Vernünftigkeiten über uns kommt? Vor manchen psychiatrischen Einrichtungen stehen die Menschen schon Schlange (wollen „sich fallen lassen“..), wie mir dort arbeitende glaubwürdig versichern. Und wie viele Individuen mag es geben, die sich in die Haltung eines amok-Läufers so richtig gut einfühlen können?

Hallo, hier bin ich! Und du?

Die Spatzen da draußen lassen es sich gerade richtig gut gehen. Wenn ich ans Fenster trete, bemerken sie mich zwar, flüchten aber nicht mehr gleich. Bloß jetzt nicht hektisch bewegen! Ha, sie sehen mich, behalten mich im augenwinkel, fressen aber trotzdem weiter. So schnell entsteht Nähe aus Zuwendung und Verlässlichkeit, zumindest bei Spatzen. Ist es bei uns denn wesentlich anders?

Und was heißt überhaupt noch „Nähe“? Wir sind doch überall-zu-jeder-Zeit erreichbar – per Handy, per E-Mail, per SMS rufen wir uns gegenseitig zu: „Hallo, hier bin ich, bist du auch da?“ Dieses Hereinbrechen der Stimmfühlungslaute, mit denen wir uns ständig neu aneinander ausrichten wie es Gänseschwarme tun, ist die grundstürzendste Veränderung in Sachen Nähe seit Erfindung der Sprache. Die Tugend, Verabredungen richtig ernst zu nehmen und pünktlich zu erscheinen, verliert so einfach den Boden, auf dem sie entstand. Es ist ja jederzeit möglich, Termine den geänderten Bedingungen entsprechend zu verlegen – und das wird auch zunehmend gemacht. Natürlich müssen dann alle von einer Verlegung Betroffenen in der Folge auch IHRE Termine verlegen – und so weiter und so fort, bis der ganze Gänseschwarm einen Schwenk nach links gemacht hat.

Der Vogelflug am Himmel hat etwas wunderbar Elegantes. Im Herbst schaue ich den Gänsen nach, bewundere die Pfeilformationen und bin tief berührt. Warum nur empfinde ich die technisch implementierte „Stimmfühlungs-Ära“ nicht als ebenso angenehm? Im Gegenteil, es kommen gelegentlich Gefühle auf, wie ich sie als Vierjährige empfand, als ich an der elterlichen Hand das Treppenhaus hochsteigen musste. Ohne zu wissen, was dagegen einzuwenden gewesen wäre, wollte ich einfach nicht!

Es sieht so aus, als bekäme ich auf meine alten Tage noch mal Lust, Sand im Getriebe zu sein. Einfach so, ganz unideologisch, aus rein ästhetischen Gründen. Da ich immer weniger im Außen nach dem suche, was mir gerade fehlt, bin ich auch kaum mehr korrumpierbar und kann es mir besser leisten als in meinen „wilden Jahren“.

Nähe? Je näher ich mir selber komme, desto näher bin ich dem anderen. Und sobald ich mich verbindlich verhalte, bekomme ich Verlässlichkeit zurück.

Es gibt kein Problem. Nur die Freude am aufschreiben.

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Claudia am 03. Juli 2002 — Kommentare deaktiviert für Die Bewegungsmeisterin

Die Bewegungsmeisterin

Eigentlich ein ganz normales Treffen. Gemütlich sitze ich mit zwei lieben, langjährig bekannten Kollegen auf der Veranda einer frisch angemieteten Idylle am Rande Berlins. Ich bestaune den freundlichen Garten, die waldreiche Umgebung: mitten im Grün zu wohnen ist doch wirklich wunderbar! Noch dazu sind es kaum fünfzehn Autominuten bis zum Kudamm, wenn man es versteht, die richtige Autobahnauffahrt zu finden. Auf dem Herweg ist mir das leider nicht gelungen.

Immerhin bin ich angekommen. Mein Orientierungsvermögen im realen Raum ist nämlich mehr als beschränkt, allenfalls für kleine Fußwege auf bekanntem Terrain ausreichend. Wenn ich wirklich einmal weitere Strecken fahre (also nicht nur bis zum Fitnesscenter, sondern auf die andere Seite der Stadt), quäle ich mich mit dem Stadtplan von Ampel zu Ampel, schaffe es niemals wirklich, mich in der kurzen Haltephase ausreichend zu orientieren, verärgere regelmäßig Autofahrer hinter mir, die mich hupend daran erinnern, dass jetzt grün ist. Mit dem quadratmetergroßen Plan über dem Lenkrad kämpfend, behindere ich andere Menschen in ihrem Recht auf ein schnelles Fortkommen, weil ich selber da einfach einen Knacks in der Birne habe! Selbst nach über 20 Jahren Berlin ist keine Besserung in Sicht – ätzend!

Was ich eigentlich erzählen wollte: Wir sitzen also auf der Veranda und plaudern gemütlich über unsere aktuellen und künftigen Projekte, während im Wohnzimmer, das sich zur Veranda hin öffnet, die 12jährige Tochter meines Kollegen auf eine kleine Trommel einschlägt. Erst haut sie eine Zeit lang auf den hölzernen Rand, dann auf das Trommelfell, dann auf ihre eigenen Oberschenkel und zur Abwechslung auf die Sitzfläche der Couch. Schließlich greift sie sich ein kleines Holzschränkchen und trommelt darauf weiter, ja, jetzt wird es richtig laut! Wir schauen ihr zu, ohne Ärger, wissen wir doch, dass sie nicht hören kann: Nicht den Ton, den sie der Trommel oder anderen Gegenständen entlockt, nicht unsere Stimmen, nicht das Radio, nicht das Rauschen der nahen Autobahn und auch nicht das Zwitschern der Vögel im Garten. Vera weiß nicht einmal, dass ich gekommen bin, dass eine Fremde mit ihrem Vater auf der Veranda sitzt, seit Stunden schon. Vera sieht nicht und hört nicht, Vera ist taubblind.

Was für ein Leben muss das sein, so ohne Licht, ohne Farben, ohne Töne? Oft hab‘ ich mich das gefragt und automatisch angenommen, es müsse leidvoll sein. Das wird mir jetzt erst richtig bewusst, wo ich Vera zusehe: ein Mädchen, das kein bisschen leidend wirkt, sondern fröhlich vor und zurück schaukelt, trommelt, alle erreichbaren Gegenstände betastet, auf den Boden schlägt – immer bleibt sie irgendwie in Bewegung, ruckelt hin und her, wippt auf und ab. Flexibel wie ein Schlangenmensch schlägt sie die Beine übereinander, knickt spielerisch in der Hüfte ab, wiegt nun liegend die verknoteten Beine auf- und nieder. Yoga-Übende kennen eine ähnliche Haltung: der mit dem Lotus-Sitz kombinierte „Fisch“. Nur dass es den meisten Yoga Übenden ziemliche Mühe macht, die Beine derart zu verschränken.

Anders als ich gedacht hatte, spielt das taubblinde Mädchen ganz für sich. Lange Zeit vergeht, ohne dass sie etwas oder jemanden braucht. Wir unterhalten uns und sie spielt und schaukelt dahinten, es ist kein Problem. Als wir später um den Kaffeetisch sitzen, verdrückt sie in Windeseile kleine, für sie zurecht geschnittene Käsebrote – dann sitzt sie rittlings auf Vaters Schoß, schaukelt wieder weiter, schlägt ihm mit beiden Händen auf den Rücken, kuschelt sich in seine Arme, stößt ihn mal eben heftig mit dem Kopf, weint sie jetzt etwa? Ich begegne ihr heute zum ersten Mal und kann nicht gleich alle Regungen und Bewegungen deuten. Immer seltsamer erscheint mir auch die Tatsache, dass sie nicht weiß, dass ich da bin. Andrerseits: Sie einfach so berühren geht nicht, das wäre vermutlich äußerst erschreckend. Also sehe ich den beiden nur zu, diesem ständigen Fluss der Bewegungen: schlagen, tätscheln, streicheln, massieren, schaukeln, umarmen, drehen, wiegen, klopfen – Kommunikation durch Berührung. Erst wirkt es ein wenig wunderlich, doch je länger man zusieht, desto selbstverständlicher wird es. Unser Gespräch über eine Datenbank für verschlüsselte Mailadressen wird dadurch jedenfalls nicht gestört.

Es ist schon Nachmittag, bald werde ich die Heimreise nach Friedrichshain antreten. Seit einiger Zeit schon bin ich aufgestanden, gehe plaudernd und gestikulierend vor dem Tisch auf und ab, Himmel, es ist wirklich öde, so lange reglos auf einem Stuhl zu sitzen! Ich verlagere das Gewicht vom rechten auf den linken Fuß, massiere ein bisschen den Oberarm, trete vor und zurück, stelle mich auf die Zehen und wippe auf und ab. Ich genieße den Kontakt der Fußsohlen mit dem Parkettboden – Zehen, Ballen, Ferse, und dann wieder umgekehrt. Mit den Fingern möchte ich eigentlich gern mal auf diesen schönen Holztisch trommeln – was ist nur los, hab‘ ich zuviel Kaffee getrunken?

Nein, ich merke erstaunt: es ist nicht der Kaffe, es ist Vera. Das Mädchen ist hochgradig ansteckend! Ihr Sich-Bewegen-wie-es-gerade-kommt macht Lust, es ihr nach zu tun. Für den Verstand wirkt dieses „Herumwuseln“ erst einmal völlig verrückt, der Körper aber weiß Bescheid und wird neidisch, möchte auch in diese Freiheit eintreten, sehnt sich geradezu danach, das ihm eigentlich zugehörige Universum des Spürens ebenso lebendig zu erforschen und zu beleben. Da ist nicht Verrücktheit, nicht Störung, nicht einmal Behinderung. Sondern einfach Bewegung, unbehinderte Bewegung, das, was da ist, wenn man mal vom Hören & Sehen absieht. Nicht nur bei Vera, sondern bei jedem, bei allen, auch bei mir: es ist der Rhythmus, wo ich mit muss!

„Stell mich doch mal vor!“, sag‘ ich zum Vater und strecke meine Hand aus, Handfläche nach oben. Ganz spontan kommt mir diese Bewegung richtig vor, eine Einladung zur Berührung. Aber leider – ich dachte es mir schon – ist es für heute zu spät für eine Kontaktaufnahme. Es wäre ja nicht nur ein kurzes Handschütteln, wie es uns Sehenden und Hörenden genügt, ja, wie wir es – zumindest im Westen – auch schon weitgehend abgeschafft haben.

Schade. Es hätte mir jetzt bestimmt großen Spaß gemacht, mich einfach in diese Spontaneität fallen zu lassen. Einfach tun, was der Körper tun will, nicht mehr ruhig und still und aufrecht und „konzentriert“ auf dem Stuhl sitzen, sondern „im Fluss sein“, das Gegenüber und die ganze Welt berührend erkunden – es ist wie Lust auf Tanzen.

Bestimmt werde ich einmal wiederkommen. Ich verabschiede mich, setze mich ins Auto, finde diesmal dank genauen Anleitungen unproblematisch den Weg in die City. Während ich durch Kreuzberg fahre, gehen mir vielerlei Gedanken durch den Kopf. Über „Behinderung“, bzw. das, was wir so nennen. Wie wir aus all diesen Abweichungen von der Norm so ein Riesenproblem machen: nicht nur ein organisatorisches, pflegerisches Problem, sondern vor allem ein Problem im Kopf und im Herzen. Wir sehen immer nur das Defizit, das, was den „Behinderten“ (im Moment find‘ ich das Wort irgendwie komisch) fehlt, aber niemals das, was sie uns – deshalb! – voraus haben. Und schon gar nicht das Potenzial, das sich aus diesen Andersartigkeiten, die auch Fähigkeiten sind, ergeben könnte.

In einer anderen, weniger verrückten Welt wäre Vera nicht Problemfall, sondern Therapeutin. Zu für Körperarbeit oder Massagen üblichen Stundensätzen von 30 bis 80 Euro würde sie Menschen empfangen und behandeln, indem sie einfach auf IHRE Weise mit ihnen kommuniziert. Ich denke an verspannte, neurotische Menschen, an alle, die steif wie ein Stock nur aus dem Kopf leben, an die auf vielfältige Weise von Ängsten geplagten, an alle, die man einfach mal heftig schütteln müsste, damit sie von ihrer persönlichen Macke herunter kommen. Aber eben auf eine Art, die nicht noch mehr angst macht.

Nicht zu vergessen die vielen, die – gesund aber unheilbar unzufrieden – gern allerlei Workshops, Übungssysteme und „Behandlungen“ ausprobieren und gut bezahlen. Vieles davon, wie etwa Yoga, Feldenkreis, Alexandertechnik, Shiatsu, etc., bedeutet das Ein- oder ausüben sehr kontrollierter Bewegungen. Es gibt aber auch Methoden, die das Gegenteil lehren bzw. ermöglichen sollen: Tanzen, intuitiv massieren, „dynamische“ Meditation, Körperbemalungen, vielerlei Übungsweisen, die das „Ki“ in spontanen Bewegungen erlebbar machen sollen – oh, man kann da jede Menge Geld los werden!

Andrerseits gibt es Taubblinde, die nichts anderes KENNEN, als die Welt der Bewegung und Berührung, sie sind immer SO, immer Da, immer im Hier & Jetzt! Spontaneität in psychophysischer Hinsicht müssen sie sich nicht erst mühevoll erarbeiten. Diese Menschen sehen wir aber als Sozialfälle an, als von vornherein für die Gesellschaft nutzlosen Ballast, den man aus humanitären Gründen und christlicher Nächstenliebe (falls noch Restbestände vorhanden) bestmöglich versorgt. Nun ja, was heißt schon bestmöglich: Wer selber Menschen mit behinderten Kindern kennt, weiß, dass es jede Menge Schwierigkeiten bedeutet und einen ständigen Kampf um Unterstützung, um Geld, um Anerkennung, um vieles, was man sich als unbetroffener Ignorant einfach nicht träumen lassen würde. (Weil wir ja auch eher selten hingucken…).

So, es ist jetzt fast geschafft, die Oberbaumbrücke, einzige Verbindung zwischen Kreuzberg und Friedrichshain, liegt schon hinter mir. Kein Stau hat mich aufgehalten, jetzt noch ein bisschen Parkplatzsuche und die Heimat hat mich wieder. Es war ein guter Tag – einerseits wegen den Freunden und den interessanten Gesprächen. Aber auch wegen Vera, der Bewegungsmeisterin: Sie hat mir gezeigt, dass ich noch ein lebendiger Mensch bin und nicht nur eine vernünftige Stuhlbesitzerin. Im Moment fühl‘ ich mich so richtig nach tanzen & springen! Der Platz vor dem Monitor kann mich heut‘ abend jedenfalls nicht mehr locken!

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Claudia am 26. Juni 2002 — Kommentare deaktiviert für Vom goldenen Zeitalter, von Chaos und Beständigkeit

Vom goldenen Zeitalter, von Chaos und Beständigkeit

Kleine Rede gegen alles, was nervt:

Dereinst, als ich mit meiner ersten Webveröffentlichung „Human Voices“ schwanger ging, durchwanderte ich die Netze auf der Suche nach lehrreichen Seiten. Die Einfachheit des neuen Kommunikationsmediums faszinierte uns damals alle, die wir mit wild quietschenden Modems täglich in die neuen Datenwelten aufbrachen und uns daran machten, eine „Heimseite“ zu errichten: der Windows-Editor und ein paar Stunden RauslinkSELFHTML-Studium reichten dafür völlig aus. Mittels weniger Mausklicks traten wir mit unseren schlichten Erstlingswerken ein in die unendlichen Weiten und waren Teil des „globalen Dorfs“ – wow! Eine Art Pfingstwunder begab sich: Auf all den neuen Homepages meldeten sich echte Menschen zu Wort, Leute, die man „einfach so“ ansprechen konnte, ohne einen Grund vorschützen zu müssen. Und nicht nur das, sie waren auch alle ungeheuer nett zueinander, freundlich und jederzeit bereit, zu teilen, was sie hatten. Der „Cyberspace“ hatte seinen kurzen Sommer der Anarchie und erschien als Land der Freiheit und Brüderlichkeit. Und die Sprache des Web, das damals noch so schlichte HTML, tat das ihre dazu und machte erst einmal alle GLEICH.

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Claudia am 19. Juni 2002 — 1 Kommentar

Wahrheit und Tod.

Sterben, wie man lebt: Vaters letzte Tage

Ich stell‘ mir öfter mal vor, ich läge im Sterben und das zöge sich einige Wochen und Monate dahin. Würde ich deswegen eigentlich meine „virtuelle Existenz“ aufgeben wollen? Nicht mehr ins Diary schreiben, was ich über die Welt denke? Keinen Newsletter mehr aussenden und nicht mehr mit Stammgästen und Gelegenheitsbesuchern im Forum plaudern? Bewahre! Es kommt natürlich drauf an, in welchem Zustand ich mich befinde und was für Fähigkeiten mir bleiben: Kann ich noch am Bildschirm lesen? Kann der Mausfinger noch klicken und finde ich noch immer die richtigen Tasten? Wenn ja, sehe ich momentan keinen Grund dafür, etwas zu verändern, mit irgend etwas aufzuhören, das Teil meines Lebens ist, „nur“ weil ich bald sterbe.

Da wir nie wissen, WANN das sein wird, sind wir im Übrigen sowieso immer in derselben Situation. Als mein Vater starb, hab‘ ich zum ersten Mal überdeutlich mitbekommen: Man stirbt ganz genau so, wie man lebt: In dem Maß an Wahrheit und Bewusstheit, zu dem man eben in der Lage ist. Das wird nicht auf einmal mehr oder weniger!

Ich war gerufen worden, weil es mit ihm zu Ende ging. Die Ärzte hatten einen aggressiven, schnell fort schreitenden Krebs diagnostiziert, gegen den sich im Grunde nichts mehr machen ließ, da er bereits „überall“ war. Allerdings durfte ihm das nicht gesagt werden, seine dritte Frau erwartete, dass ich ihm eine Ausrede bezüglich meiner Anreise aus Berlin erzählen würde, irgend etwas mit Computer-Workshops, vielleicht ein Arbeitstreffen. Ja, ich sollte tatsächlich sagen, ich sei wegen Maschinen und Programmen gekommen, nicht etwa wegen ihm.

Meine Güte! Ich war völlig entnervt wegen dieser Zumutung, schließlich bin ich schon das ganze Leben lang der festen Überzeugung, die Wahrheit über den eigenen Zustand dürfe man niemandem verheimlichen. Sollte jetzt also ICH diejenige sein, die das entgegen dem lügnerischen Bemäntelungsverhalten seiner Frau, nach deren Weisungen sich auch alle anderen richteten, durchsetzen sollte? Lag es an mir, zu sagen: Papa, du stirbst?

An Mut hätte es mir nicht gefehlt. Diese ganz persönliche Rücksichtslosigkeit im Namen der Wahrheit war mir dereinst ja sehr nahe. Glücklicherweise hatte ich im Lauf‘ des Lebens schon dazu gelernt, so dass ich auch wahrnahm, dass so ein Verhalten auch immer etwas Eigennütziges hat. Man kann damit rechnen, sich irgendwie GROSSARTIG zu fühlen, wenn man dem Anderen eine existenziell wichtige Wahrheit um die Ohren haut, die er vielleicht lieber nicht hören will – das ist MACHT, vermeintlich im Sinne hoher Werte ausgeübt. Eine gute Gelegenheit auch, sich für Verletzungen aus der Vergangenheit zu revanchieren . Und wer hätte mich je mehr verletzt als mein Vater – damals, als ich noch ein Kind war?

Ich saß ihm Zug nach Wiesbaden und grübelte: Sollte ich brav den Mund halten, wie seine Frau verlangte? Oder sagen, was anliegt – vor ihr? Oder erst, wenn ich mit ihm alleine wäre? Vielleicht gar ganz offen die Kooperation der Lüge verweigern und ihr das bereits vorher „ansagen“? Ich kam zu keinem Ergebnis, für alles gab es ein Für und Wider, die Gedanken überschlugen sich und mir wurde nur immer enger zu Mute, als trüge ich eine zu kleine Rüstung um die Brust. Ich dachte an meinen Vater, stellte ihn mir im Krankenbett vor, erinnerte mich an vergangene Krankenhausaufenthalte, an seine unnachahmliche Manier, mit einem kleinen Stapel medizinischer Fachbücher und Lexika die Ärzte zu beeindrucken. An seinem Bett stehen und über ihn reden, als sei er nicht da, das konnte man mit ihm nicht machen!

Jetzt aber gab es gar nichts mehr zu tun. Seine Macht, seine ganze Kompetenz, andere nach seiner Pfeife tanzen zu lassen, war obsolet geworden. Wie würde er das verkraften? Niemand sprach ja mit ihm darüber. Alle verbargen das Offensichtliche und taten, als wäre nichts, als werde er bald genesen – wie schrecklich!

Auf einmal musste ich weinen. Ich fühlte die Verzweiflung, die er fühlen musste, angesichts dieser seiner letztlichen Machtlosigkeit – und er tat mir so leid! Schließlich hatte er sich nie im Leben mit diesem Aspekt des Daseins auseinander gesetzt, sondern immer nur darum gekümmert, seine persönliche Macht, seinen Einfluss auf die Dinge zu erhalten, bzw. zu stärken. Er wusste immer, wo es lang zu gehen hatte und was das Richtige sei. „Umgeben von Idioten“ zweifelte er niemals an sich selbst, zeigte es zumindest nicht – es musste furchtbar für ihn sein, am Ende des Machens anzukommen!

Das Weinen rettete mich. Der Schmerz des unerwarteten Mitgefühls befreite mich vom Denken. Ich merkte, dass es nichts zu entscheiden gab, dass ich einfach aus dem Augenblick heraus handeln würde, oder eben nicht. Zur Not würde ich einfach in Tränen ausbrechen, die Ebene des „Vernünftigen“ hinter mir lassen, wo Entscheidungen gefordert sind – meine Güte, was für eine Freiheit!!!! Und nicht nur für diese Situation, sondern ÜBERHAUPT!

Als ich dann an seinem Krankenbett saß, war auch der Arzt da. Schon draußen im Flur hatte er mich über den unveränderten Stand der Dinge in Kenntnis gesetzt: Keine Therapie würde mehr etwas bringen, ja, man könne ihm deren „Nebenwirkungen“ eigentlich auch nicht mehr zumuten. Auch G., seine dritte Frau saß am Bett und schaute voller Angst auf den Arzt, was der wohl jetzt sagen werde.

„Sie sind ein Mann wie ein Baum, aber der Baum ist von innen morsch“, fing er an. Ich schaute auf meinen Vater, der, obwohl völlig wach, die Botschaft nicht zu verstehen schien. Jedenfalls lächelte er, als habe er ein Kompliment bekommen. Klar, er hatte nur die erste Hälfte des Satzes an sich heran gelassen! Ich hörte weiter zu, verfolgte mit äußerster Konzentration dieses denkwürdige Gespräch zwischen dem Arzt und meinem Vater – war das wirklich ein Gespräch? Aus meiner Sicht hatte der Arzt alles in gebotener Deutlichkeit gesagt und nichts verschwiegen – es aber andrerseits meinem Vater überlassen, sich die Botschaften heraus zu suchen, die er vernehmen wollte. Und der wollte auf keinen Fall zur Kenntnis nehmen, dass es mit ihm zu Ende ging, dass auch die medizinische Kunst hier am Ende war. Ich staunte, ja, ich war völlig perplex. Sowas hatte ich bis dahin nicht für möglich gehalten: Man konnte die Wahrheit hören, sich aber vollständig vor ihr verschließen!

Er brachte es sogar fertig, sich eine (völlig nutzlose) Chemotherapie mit „halber Dosis“ zu verordnen – der Arzt hat es ihm nicht verweigert und ich musste zugeben: Ja, das ist jetzt das einzig richtige, das mitmenschliche, nämlich dasjenige Verhalten, das die Selbstbestimmung des Patienten an die erste Stelle setzt. Wenn der es nun mal vorzieht, die Wirklichkeit zu ignorieren und sich bis in die letzten Momente mit fürchterlichen Medikamenten voll zu dröhnen, dann ist das so zu akzeptieren!

Noch ein paar Tage war ich dort, saß täglich am Krankenbett und hörte meinem Vater zu. Der sprach meist ohne Punkt und Komma von Belanglosigkeiten, und wenn ihm mal der Faden ausging, machte seine Frau weiter. Bloß keine Lücke entstehen lassen, in die der Gedanke an die Realität eintreten könnte!

Und doch drang sie manchmal durch die Ritzen seines Bewusstseins. Er war ja selber der Körper, der hier starb, wie konnte ihm das verborgen bleiben? Ich sah, wie er gelegentlich etwas unkonzentrierter wurde, sein aktuelles Thema schien dann zu verblassen, die Aufmerksamkeit sich nach innen zu verlagern, als würde er dort etwas hören…. und sofort umnachtete sich sein Geist. Manchmal kamen noch ein paar Tränen, doch immer gleich auch hilfreiche Halluzinationen, die ihn ablenkten von dem, was er weder hören noch spüren wollte: das Zimmer drehte sich wie ein Karusell, an den Wänden erschienen Bilder in schnellem Wechsel – aufgeregt berichtete er von dem, was er sah, schimpfte auf das Krankenhaus, das nicht einmal die Stabilität der Möbel im Griff habe, verlor sich weiter und weiter in Belanglosigkeiten…

So ist er dann auch gestorben, etwa zwei Wochen später. Zurück in Berlin hatte ich noch mal mit ihm telefoniert: immer noch redete er von der hoffentlich bald eintretenden Besserung, von der Chemotherapie, deren Dosis man vielleicht erhöhen müsse….

Ich habe viel von ihm gelernt. Durch dieses Sterben vermutlich genauso viel und Wichtigeres, als während seines ganzen Lebens. (Danke, Papa!)

In meinem Herzen lebt er, solange es mich gibt.

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Claudia am 18. Juni 2002 — Kommentare deaktiviert für Menschen, nicht Automaten!

Menschen, nicht Automaten!

Insgesamt sind es vielleicht so ein paar hundert Leute, die ich „aus den Anfängen“ kenne. Wie anders ihr Blick auf das Netz doch ist, verglichen mit der Sicht derjenigen, die erst in den letzten zwei Jahren eingestiegen sind! Und immer noch ist es ausgesprochen spannend, zu beobachten, wie das „soziale Neuland“ Unsicherheiten hervorruft, die im „Real Life“ lange schon unter irgendwelche Decken und Teppiche gekehrt wurden.

Missbrauche Menschen nicht als Dienstleistungsautomaten!

Wie kommt zum Beispiel einer, der mich nie zuvor angeschrieben hat, auf die Idee, mir eine Latte Fachfragen vorlegen zu dürfen, weil er offensichtlich zu faul ist, seine Klausur selber auszurecherchieren? (Was versteht man unter dem EVA-Prinzip? Wie viele Zeichen passen auf eine Diskette? Wieviel wäre das in Seiten ausgedrückt? Was versteht man unter Proprietär? usw. usf.). „Wäre nett, wenn Sie mir helfen können“, schreibt er immerhin dazu. Aber WARUM ich meine Zeit opfern sollte, um ihm unbekannterweise Lernarbeit zu ersparen, sagt er mir nicht. Frisch-fröhlich hab‘ ich ihm angeboten, seine Anfrage zu meinem üblichen Stundensatz zu bearbeiten – und dann natürlich nie mehr von ihm gehört!

Vielleicht hat er ja in einem alten Buch oder Artikel gelesen, man solle ruhig fragen. Wer eine Website habe, wolle auch angesprochen werden, die Netizens seien eine fröhliche Schar und ausgesprochen hilfsbereit. Tja, es war aber immer schon ein Missverständnis, dass das bedeutet, einfach andere Leute die eigene Arbeit machen zu lassen. Eigene Bemühungen dürfen dem Um-Hilfe-bitten schon voraus gehen – und DIESE Fragen hätten sich binnen Minuten von Google beantworten lassen.
Merke, Neuling: Missbrauche niemals Menschen als Automaten! Auch wenn beide im Netz ganz ähnlich ‚rüber kommen‘, nämlich durch Texte und Bilder, Zeichen und Symbole, so gibt es da doch noch riesige Unterschiede!

In der Pfeil nach draussenSelf-HTML-Louge diskutieren sie gerade den Stellenwert eines Webforums: ist es eher eine lockere Zusammenkunft, bei der man auch mal ganz wischi waschi ins Unreine plaudern kann? Oder haben diejenigen Recht, die so ein Forum mit preußischer Korrektheit bearbeiten, ihre jeweiligen Argumente wohl erwägen, jedes Wort sehr überlegt setzen und das auch von Anderen so erwarten?

Und hier, in meinem eigenen Board auf einmal die Frage: Kann man „hier“ über Tod & Sterben reden? So mit ganz unbekannten Leuten? Ich fand es anrührend, wie in diesem Fall derjenige, der eigentlich reden wollte, das Thema dann – sensibel für sich selbst – wieder „begraben“ hat: „Du musst ihnen in die Augen sehen .., Du musst ihnen vertrauen können, und sie dir. Sonst kannst du über so ein Thema nicht reden.“ Gefällt mir gut, es wird einfach viel zuviel daher gequatscht, meist „ohne Rücksicht auf Verluste“, man sieht ja nicht, wie es dem anderen gerade geht.

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