Claudia am 05. Juli 2002 —

Nähe und Verbindlichkeit

Mal frische Luft schnappen. Ich stehe auf und will die Balkontür öffnen, da sehe ich den Spatz. Am Rande des Betonbodens, auf dem noch die große Pfütze vom letzten Regen steht, hüpft er zögernd vorwärts, schaut suchend um sich, guckt nach rechts, nach links – jetzt hat er mich bemerkt! Ein kurzes Erschrecken und weg ist er.

Mich packt prompt das schlechtes Gewissen, denn ich weiß, was der Spatz gesucht und nicht gefunden hat. Gestern noch, vorgestern und auch schon vor einer Woche hatte ich nämlich auf Fenstersims und Balkonbrüstung Brotreste ausgelegt. Der Wind hatte die Brosamen verweht und über den Boden verteilt, wo sie fein säuberlich von den Spatzen aufgepickt worden waren. Ja ja, ich weiß, weder ist es Winter, noch sind Spatzen „schützenswert“, im Gegenteil, sie gelten als die Allergewöhnlichsten unter den Vögeln. Aber egal, lieber seh‘ ich Spatzen auf dem Balkon als gar keine Vögel – so dachte ich zumindest gestern, vorgestern und vor einer Woche.

Heute aber hab‘ ich es vergessen. Ach was, das wäre schon zuviel gesagt, ich war einfach auf einem anderen Stern, beschäftigt in einer der vielen Welten, die mein Leben ausmachen und doch nicht allzu viel miteinander zu tun haben. Und nur ganz ganz wenig mit Vögeln.

Zum Beispiel gibt es keine Spatzen dort, wo ich gerade versuche, per E-Mail die Verwendung eines FTP-Programms Schritt für Schritt verständlich zu erklären. Auch nicht in den virtuellen Gemeinschaften und Informationsquellen, wo ich gerade für einen Interessenten erforsche, wann eine private Homepage ein Impressum braucht. Himmel, jene Welt ist dafür voll von lauernden Monstern, sogenannten „abmahnanwälten“ die einen Unwissenden hinterrücks überfallen und fünfzigtausend Euro fordern können, wenn man etwas falsch macht. Weit fürchterlicher also als ein realer Dschungel mit echten Würgeschlangen. Ich schaudere und mach‘ mich davon, sende die gesammelten Erkenntnisse noch als Warnung an liebe Freunde und rufe schließlich – Erholung suchend – meine Privatmail ab.

„Ich will dich“, „Get White Teeth Fast“, „Nachrichten von deinem Single-Finder-Team“ – ich schlage mich durch das übliche Gestrüpp aus unverlangter Werbemail und finde tatsächlich eine RICHTIGE Botschaft. Ein Bekannter spinnt einen Gesprächsfaden weiter, der schon vor Wochen abgerissen war, einfach unterbrochen, obwohl wir uns sogar offline getroffen und von angesicht zu angesicht geplaudert hatten. Verbindlichkeit ist eines seiner Themen – Himmel noch mal, ich geh‘ jetzt SOFORT in die Küche, schneide das alte Sesam-Vollkornbrot auf und füttere erst mal die Spatzen!

Verbindlichkeit? Was ist das eigentlich und existiert es noch in den Zeiten der Netze? Wenn ich „potenziell“ immer sofort alles haben, abrufen, ordern, auswählen, in mich hineinfressen, kaufen, genießen und verbrauchen kann, ja sogar soll – was bedeutet dann noch „Verbindlichkeit“?

Das Wort scheint ein Überbleibsel aus Zeiten des Mangels zu sein, wo man sich darauf verlassen können musste, dass unter ganz bestimmten, aber immerhin bekannten Bedingungen jemand da sein wird, für MICH da sein. Ich werde verlässlich bekommen, was ich brauche, seien es materielle Dinge, sei es Schutz, Zuwendung, Fürsorge, Zuspruch – oder einfach eine Gelegenheit, mich fallen zu lassen.

Achtung, hier gerate ich gefährlich nah‘ ans Therapie-Idiom: komm, lass dich gaaaaanz fallen, lass einfach los… Wünschen wir uns etwa Verbindlichkeit, um wenigstens zu bestimmten Terminen wieder Kind sein zu können? Will ich berechenbare Verhältnisse, damit ich psychisch und geistig einschlafen kann? Zumindest ist es bemerkenswert, dass der Hang zur Verbindlichkeit erst mit zunehmendem alter so richtig ins Bewusstsein tritt. In jungen Jahren dominiert die Sehnsucht nach Freiheit, nach Veränderung, nach dem Bruch mit dem allzu Bekannten und Verlässlichen. Spontaneität und Echtheit sind hohe Werte. Keinesfalls will man sich anpassen, womöglich verbiegen, nur um sich in vermeintlich sicheren Bahnen bewegen zu dürfen. Schlimmer noch: Dem Onkel Willy nach dem Munde reden, weil der zu Weihnachten immer das Scheckbuch zückt? Niemals! Zwar ist so eine Liebedienerei nicht dasselbe wie Verbindlichkeit, aber fängt es mit dem fraglosen Einhalten all dieser unausgesprochenen Verabredungen und Erwartungen nicht schon an?

Haben nicht alle Beziehungen etwas Korrumpierendes? Keine Frage, ich brauche Verbindlichkeit, ich sehne mich nach „Nähe“ und möchte gerne MEHR Menschen kennen, denen ich vertrauen, auf die ich mich verlassen kann. Dass ich dieses Bedürfnis spüre, das Gefühl gut kenne, heißt allerdings nicht, dass es damit schon „gut so“ ist. Die Rückseite der Medaille steht mir ebenso im Bewusstsein, die Unfreiheit, die Gebundenheit, ein Gefühl des Ausgeliefertseins und der Machtlosigkeit, das bis zum Ekel gehen kann. Als Kind wurde mir gelegentlich flau im Magen, wenn ich an der Hand meiner Mutter treppauf zur Wohnung unseres Drei-Generationen-Haushalts steigen musste. Ich war erst vier Jahre alt und fühlte mich zum kotzen, wusste aber nicht warum. Es hätte auch keinen erkennbaren Grund gegeben, den ein Beobachter hätte nennen können. Meine Kotzgefühle waren einfach eine Reaktion auf die vielfältigen, meist unter der Decke gehaltenen Konflikte und Spannungen zwischen Vater und Mutter, Eltern und Großeltern – aber es war immerhin „die Großfamilie“, der heut‘ von vielen nachträglich so gern gerühmte Hort der Sicherheit und Wärme.

Befreit vom Druck der Verhältnisse: zu kalt?

In den wunderbaren Atbauwohnungen mit den hohen Decken wohnen wir gerne, aber die Verhältnisse der Menschen, die früher darin lebten, haben wir mit Freude abgeschafft, haben uns weitgehend befreit, zu tun und zu lassen, was wir mögen. Jeder darf seinen eigenen Entwurf leben und diesen so oft wechseln, wie er es vermag; darf denken, sagen, schreiben, was immer ihm beliebt (im Rahmen der Gesetze, versteht sich, die aber vergleichsweise große Freiräume zulassen). Die Welt wird immer komplexer, es gelingt kaum mehr, für oder gegen etwas zu sein, wenn man nicht bei den Banalitäten der Oberfläche stehen bleiben will. Meinungen taugen also immer weniger dazu, Verbindlichkeit zu transportieren, sie wechseln einfach zu schnell oder existieren gar nebeneinander in einem allumfassenden Sowohl-als-auch. Was aber dann? Woher sollen die „Konstanten in menschlichen Beziehungen“, die man so gerne hätte, eigentlich kommen?

Der Partner, die Familie, der Clan, das Dorf oder die Nachbarschaft – all diese Beziehungen und Bezüge, die früher das ganze Leben bestimmten, haben ihre einstige Macht, ihre Bindungskraft aufgrund konkreter ökonomischer Bedingungen verloren. Diese art Verbindlichkeit haben wir gekündigt, uns von konkreten Mitmenschen emanzipiert und statt dessen abstrakte Systeme geschaffen. Das soziale Netz gibt Sicherheit, das Rechtssystem erzwingt Berechenbarkeit – war das nicht eine super Idee? Frei von Zwängen und Notwendigkeiten müsste sich so das Zwischenmenschliche doch eigentlich optimal entfalten können – warum nur stimmt sie auf einmal nicht mehr, diese sozialdemokratische Utopie? Hat es äußere Gründe, weil unser Export-abhängiger Wohlstand durch weltweite Konkurrenz angegriffen wird? Oder ist es einfach die Kälte des „Lebens mit den Systemen“, die immer unerträglicher erscheint?

Der Rollback ist jedenfalls im Gange, nicht erst seit gestern. Das Unbehagen an den erkämpften Freiheiten, das Leiden an der Unverbindlichkeit und „Beliebigkeit“ wird immer stärker. Die Errungenschaften der 68er und Post-68er verschränken sich lange schon mit den Bedürfnissen des alles durchdringenden Marktgeschehens und der damit einher gehenden Rationalisierung. Flexibilität, Mobilität, alles verändert und beschleunigt sich – wir kennen den Sound der Zeit und halten uns immer öfter die Ohren zu. Wo meine Großmutter noch darauf zählen konnte, dass zumindest die Farbe und Form ihrer acht verschiedenen Tabletten von Tag zu Tag gleich blieb, schwindet momentan selbst diese kleine Konstante des alltags im Zuge der Sparmaßnahmen im Gesundheitswesen dahin. Nurmehr „Wirkstoffe“ darf der arzt verschreiben, und der Apotheker sucht dazu die preisgünstigsten Tabletten heraus. Völlig vernünftig, ja sicher – aber wohin mit dem Unbehagen, das mit all diesen Vernünftigkeiten über uns kommt? Vor manchen psychiatrischen Einrichtungen stehen die Menschen schon Schlange (wollen „sich fallen lassen“..), wie mir dort arbeitende glaubwürdig versichern. Und wie viele Individuen mag es geben, die sich in die Haltung eines amok-Läufers so richtig gut einfühlen können?

Hallo, hier bin ich! Und du?

Die Spatzen da draußen lassen es sich gerade richtig gut gehen. Wenn ich ans Fenster trete, bemerken sie mich zwar, flüchten aber nicht mehr gleich. Bloß jetzt nicht hektisch bewegen! Ha, sie sehen mich, behalten mich im augenwinkel, fressen aber trotzdem weiter. So schnell entsteht Nähe aus Zuwendung und Verlässlichkeit, zumindest bei Spatzen. Ist es bei uns denn wesentlich anders?

Und was heißt überhaupt noch „Nähe“? Wir sind doch überall-zu-jeder-Zeit erreichbar – per Handy, per E-Mail, per SMS rufen wir uns gegenseitig zu: „Hallo, hier bin ich, bist du auch da?“ Dieses Hereinbrechen der Stimmfühlungslaute, mit denen wir uns ständig neu aneinander ausrichten wie es Gänseschwarme tun, ist die grundstürzendste Veränderung in Sachen Nähe seit Erfindung der Sprache. Die Tugend, Verabredungen richtig ernst zu nehmen und pünktlich zu erscheinen, verliert so einfach den Boden, auf dem sie entstand. Es ist ja jederzeit möglich, Termine den geänderten Bedingungen entsprechend zu verlegen – und das wird auch zunehmend gemacht. Natürlich müssen dann alle von einer Verlegung Betroffenen in der Folge auch IHRE Termine verlegen – und so weiter und so fort, bis der ganze Gänseschwarm einen Schwenk nach links gemacht hat.

Der Vogelflug am Himmel hat etwas wunderbar Elegantes. Im Herbst schaue ich den Gänsen nach, bewundere die Pfeilformationen und bin tief berührt. Warum nur empfinde ich die technisch implementierte „Stimmfühlungs-Ära“ nicht als ebenso angenehm? Im Gegenteil, es kommen gelegentlich Gefühle auf, wie ich sie als Vierjährige empfand, als ich an der elterlichen Hand das Treppenhaus hochsteigen musste. Ohne zu wissen, was dagegen einzuwenden gewesen wäre, wollte ich einfach nicht!

Es sieht so aus, als bekäme ich auf meine alten Tage noch mal Lust, Sand im Getriebe zu sein. Einfach so, ganz unideologisch, aus rein ästhetischen Gründen. Da ich immer weniger im Außen nach dem suche, was mir gerade fehlt, bin ich auch kaum mehr korrumpierbar und kann es mir besser leisten als in meinen „wilden Jahren“.

Nähe? Je näher ich mir selber komme, desto näher bin ich dem anderen. Und sobald ich mich verbindlich verhalte, bekomme ich Verlässlichkeit zurück.

Es gibt kein Problem. Nur die Freude am aufschreiben.