Claudia am 12. September 2003 — 1 Kommentar

Bondage, die Kunst des erotischen Fesselns – ein Workshop

„Ich beiße nicht“, sagt der alte Mann mit den schneeweißen Haaren, und rückt seinen wuchtigen Leib ein wenig mehr in die rechte Ecke des Zweisitzersofas, um mir Platz zu machen. „Ich auch nicht“, sag ich, setze mich neben ihn und schaue in die Runde. Ein Paar um die 40 nestelt kundig an diversen orangenen, weißen und grünen Seilbündeln, die beiden dröseln die Stricke sorgfältig auf, messen die Längen mit den Armen, und wickeln sie wieder ordentlich zusammen. Wir sind jetzt zu acht, drei Männer, fünf Frauen, die Ladeninhaberin mitgezählt, Stühle und Sofa stehen im Kreis. Es ist hell und gemütlich im RauslinkLa Luna, dem „Frauenerotiklanden, in dem auch Männer willkommen sind“. Warme Farben dominieren, an den Wänden stehen Regale mit Büchern und jeder Menge erotischer Objekte, im Hintergrund ein Kleiderständer mit Dessous. Ein prominent platziertes riesiges Ganzschalenkorsett fällt mir auf, die Walküren-Ausmaße signalisieren: auch dicke Frauen sind sexy!

Da der Laden ebenerdig liegt und von außen eingesehen werden kann, verhängt unsere Gastgeberin Fenster und Türen. Dann könnte es eigentlich losgehen mit „Bondage, der Kunst des erotischen Fesselns“, doch zunächst wird über die Lautstärke der Musik diskutiert. Sphärische Klänge aus dem Hintergrund, fast jeder möchte sie noch ein bisschen leiser haben – sehr sympathisch, ich mag nicht gegen Musik anreden müssen, und vermutlich wird hier mehr geredet als „geübt“. So zumindest lässt es der Artikel im Stadtmagazin erwarten, der mich hergelockt hat.

Helena Esprie, die 52-Jährige Kursleiterin, ist leider verhindert, erfahren wir jetzt. An ihrer Stelle werden uns Maya und Ingo (das kundige Paar) in die Kunst einführen, FAST richtige Profis, die seit Jahren miteinander Seilspiele praktizieren und zweimal im Monat in einschlägigen Clubs Performances geben. Maya beginnt mit einer einführenden Rede, erzählt von sich, von ihren Erfahrungen mit vielerlei Spielarten erotischen Tuns, die nicht so ganz dem Mainstream entsprechen. Es geht ihr darum, die Zuhörenden zu lockern, mögliche Unsicherheiten zu besänftigen, doch so, wie hier alle neugierig und interessiert zusehen, ist Schüchternheit eher nicht das Problem. Allenfalls die übliche, zögerliche Konsumhaltung: man erwartet einen professionellen „Input“ und dann klare Anweisungen, welche Art der Beteiligung gewünscht wird. Maya „lockert“ indes weiter, verliest uns eine minutenlange erotische Fantasie, eine Geschichte, die einzig davon handelt, was einer alles denkt, der seine Freundin erstmalig erfolgreich gefesselt hat und nun zu Taten schreiten will. Er denkt viel, sehr viel, und ich denk bei mir: das ist ein Fehler!

Wann werden wir endlich selber reden, miteinander ins Gespräch kommen? Es wirkt fast ein wenig absurd, alle sehen so aus, als würden sie gerne reden, aber niemand mag anfangen. Auch ich nicht, hab‘ ich doch gelernt, meine Löwennatur nicht mehr immer und überall in den Vordergrund zu drängen und das Wort zu ergreifen, wenn die anderen sich nicht trauen. Maya „droht“ schließlich mit einem Assoziationsspiel, was gottlob von einer der Frauen abgelehnt wird: „Ich bin besser im Erzählen, als in Assoziationsspielen“, sagt sie, und alle atmen erleichtert auf. Elke (ich nenne sie mal so) berichtet, dass sie auf Anregung ihres Freundes einige passive Erfahrungen gemacht hat und dabei feststellte, dass sie lieber selber aktiv sein möchte, selber fesseln! Dafür sucht sie nun Tipps und Tricks. Auch Andrea und Birgit wollen ihren Horizont erweitern, Andrea ist stark, kräftig, mächtig und immer aktiv, es reizt sie, die Macht abzugeben und einfach mal „machen zu lassen“. Birgit ist mit einer Hure befreundet, von der sie sich seit zwei Jahren Geschichten erzählen lässt, spannende Geschichten aus deren Berufsleben, doch jetzt will Birgit mal „selber was erleben“.

Andy, der junge Mann auf dem Stuhl rechts neben mir, hat seit vier Wochen eine neue Freundin, die ganz nebenbei erwähnt hat, dass sie „so was“ mag – und da sitzt er nun und will sich informieren, ganz auf die Schnelle, denn morgen schon wird sie wieder kommen. Auch Hermann, mein Sofa-Nachbar, hält nun seine Vorstellungsrede: „Wenn Fantasien da sind“, sagt er, „dann neigt man schon dazu, ihnen in der Beziehung auch mal Gestalt zu geben!“. Alle nicken. Und alle sind erstaunt, als er weiter erzählt, er habe ein einziges Mal, so ungefähr vor dreißig Jahren (!), seiner Frau ganz locker die Hände gefesselt. Das habe, für beide völlig unerwartet, eine Panik-Attacke zur Folge gehabt, weswegen es dann nie wieder zu derlei Experimenten gekommen sei. Und nun hätte er gerade zufällig vor diesem Laden gestanden, hätte die Workshop-Ankündigung gelesen, und da sei er nun!

Ich bewundere innerlich seinen Mut, mit 70+ hier so locker in der Runde zu sitzen. Auch in mir ist offensichtlich die diskriminierende Vorstellung lebendig, im vorgerückten Alter käme allenfalls noch das Gartenzwerge-Aufstellen in der Kleingartenkolonie als passendes Hobby in Betracht. Schön, dass es nicht so ist! Nach ihm bin ich selber dran, erzähle von den immer schon vorhanden gewesenen Fantasien, von den Spielen in der Kinderzeit, die mich auf mir unbekannte Weise erregt hatten; erzähle, dass es nicht möglich war, solche politisch unkorrekten Fantasien in den Beziehungen meiner ersten Lebenshälfte zu realisieren, da diese Beziehungen immer auch Machtkämpfe waren – unmöglich, mich da in eine physisch machtlose Situation einzulassen, Fantasien hin oder her. Und ich erzähle von meinem fernen Freund in B., der mich dazu inspiriert hat, mich für die Seilkünste zu interessieren – im Januar wird er mich besuchen. Bis dahin will ich nicht mehr ahnungslos sein.

Ein Hauch von Utopie…

Ach, es ist wunderbar, in dieser gemütlichen Runde zu sitzen und über erotische Träume und Aktivitäten zu reden wie über Kochrezepte und Yoga-Übungen! Warme, friedlich-fröhliche Gefühle sind im Raum, alle stehen zu sich und dem, was sie hierher geführt hat, jede und jeder ist auf je eigene Weise unterwegs zu neuen Ufern, will MEHR als das erotische Standardprogramm, ist bereit, Risiken einzugehen und sogar bereit, sich mit anderen, wildfremden Menschen darüber auszutauschen. Was für ein Unterschied zur „normalen Gesellschaft“, wo niemand je über das eigene praktische Liebesleben spricht, aber die Speise-Eis-Werbung in drastisch aufgeilender Bildersprache daher kommt. Wo man täglich mit unzähligen medial vermittelten erotischen Reizen konfrontiert wird, immer mit der Aufforderung verbunden, irgend etwas zu kaufen, was nichts, aber auch gar nichts mit Sex zu tun hat. Was würde aus dieser Kommerzwelt werden, wenn sich die Menschen einfach nähmen, was sie suchen? Ohne Umwege über nutzlose Produkte, einfach so, sich einander zuwendend???

Maya reicht jetzt Materialien herum – Tücher, Seile, gepolsterte und ungepolsterte Leder-Manschetten – und erzählt, was man alles damit anstellen könne. Sabine, die Ladeninhaberin, die „eher vom Tantra her kommt“ und erotische Massage-Wochenenden anbietet, verweist auf Federn, Handschuhe, Fell und Eiswürfel für neue Erfahrungen auf gelangweilter Haut. Dann beginnt endlich der praktische Teil: Ingo fesselt Maya! Sie ist klein und sehr schlank, trägt enge schwarze Jeans und einen entsprechenden Body – das orangene Seil, mit dem er sie kunstvoll verschnürt, sieht auf dem dunklen Stoff spitze aus. Die beiden erwähnen, dass in ihren Performances diese Seile schon mal im Schwarzlicht leuchten – hm, ich bekomme Lust, mir das mal anzugucken! Ob ich mich hintrauen werde? Es ist in Kreuzberg, meiner alten Heimat – na, mal sehen…

Danach sind wir dran. Wer mag, darf jetzt experimentieren, sich auf einen Stuhl fesseln lassen oder einfach Knoten üben – ich frag mich einen Moment, ob ich Hermann ermuntern soll, mir die Hände zu fesseln. Wer dreißig Jahre davon träumt, sollte vielleicht hier zum Zuge kommen – aber da steht schon Ingo vor mir. Er sieht aus wie ein Musketier, was Haare und Bart angeht, eine fast romantische Gestalt. Nichts dagegen, mich von ihm fesseln zu lassen! Ich schäle mich aus meinem Rock, unter dem ich eine dunkle, blickdichte Strumpfhose trage – detailliert erklärt er mir, was er macht: eine sehr einfach umzusetzende Seilführung mit diversen Knoten, einmal längs um mich herum, dann werden die Seilenden von hinten nach vorne und wieder zurück geführt. Am Ende sieht das auch an mir richtig toll aus – ich spüre die dicken Schnüre, doch meine Bewegungsfreiheit ist nur minimal eingeschränkt. Das Seil ist zu kurz für Weiterungen, es müsste ein zweites her – aber na ja, wir sind hier ja nur, um erste Anregungen zu bekommen.

Alle üben jetzt irgend etwas, Ingo vertieft sich in Anleitungen für einfache und kompliziertere Knoten – es hat jetzt was von einem Segel-Workshop. Maya steht in einer anderen Ecke und erzählt der Gastgeberin und Hermann, was es in Berlin für Clubs gibt und was dort im Einzelnen geboten wird, bzw. erlebt werden kann. Neuerdings hat sogar ein Restaurant eröffnet, in das man „im Outfit“ gehen kann. Nun ja, essen gehen ist nicht das, was ich in diesem Kontext suche!

Andy, der ja gleich morgen in die Praxis einsteigen will, fragt noch in die sich auflösende Runde, was mann eigentlich tun solle, wenn das Kunstwerk vollendet sei. Wer es gehört hat, muss lächeln: ist es nicht witzig, dass diesem gut aussehenden Twentysomething dazu nichts einfällt?

Versehen mit allerlei Infomaterial und Adressen strebe ich schließlich beschwingt in Richtung U-Bahn, fest entschlossen, Ingo und Maya wieder zu sehen, dann aber „voll in Action“. Es gibt sie also wirklich, ganz real und nicht nur im Internet: eine freizügige erotische Kultur, allein der Lust verpflichtet, voller Respekt und Achtung vor dem Anderen. Ich bin entzückt – und gewiss werde ich weiter forschen. Das Knoten-knüpfen übe ich aber besser erst mal allein daheim mit einem Buch.

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Claudia am 11. September 2003 — Kommentare deaktiviert für Sich veröffentlichen: Vom Schreiben und vom NICHT schreiben

Sich veröffentlichen: Vom Schreiben und vom NICHT schreiben

Ein Webtagebuch ist keine “technische Weiterentwicklung” eines traditionellen Tagebuchs. So manche fragend-kritisch hochgezogene Augenbraue (”Ach, du führst ein Tagebuch im Web??”) erklärt sich aus dieser schlichten Verwechslung: für die Schublade schreiben, womöglich noch in eines dieser “abschließbaren” Poesie-Alben-artigen Leerbücher, wie es viele zu Teeny-Zeiten praktizierten, ist etwas gänzlich Anderes, als sich mit persönlichen Texten einer unüberschaubaren Öffentlichkeit auszusetzen. Das gilt selbst dann, wenn im Einzelfall die Inhalte dieselben sein mögen: Im “geheimen Tagebuch” will sich der Schreibende verbergen, im Webtagebuch will ich mich zeigen.

Sich zeigen??

Wer vor den Zeiten der Ich-AG sozialisiert wurde, empfindet bei der Vorstellung, sich zu zeigen, einen gewissen Schauer von Sündhaftigkeit. Allerlei frühe Konditionierungen schlagen zu: Wer bin ich, dass ich von mir so ein “Aufhebens” machen sollte? Was habe ich schon zu sagen? Bescheidenheit, Zurückhaltung, Sich-nicht-vordrängeln, nicht “angeben”, das Persönliche hinter das Allgemeine zurück stellen – eine ganze Lawine von “Du-sollst” bzw. “Du-sollst-nicht”-Geboten purzelt aus den Schränken des Unbewussten und ergibt eine Gemengelage, deren Entwirrung sich viele lieber nicht zumuten. Der Exhibitionismus-Vorwurf droht, die Welt der Massenmedien, die ja “für die Allgemeinheit” bzw. große Zielgruppen gemacht werden, tradiert beiläufig eine Art gesellschaftliches Tabu gegenüber dem Persönlichen: Erst mal zehn erfolgreiche Romane schreiben, dann darf der Autor auch eine Autobiografie wagen! Oder Außenminister werden, und dann über den “Langen Lauf zu mir selbst” berichten.. Als veröffentlichungswürdig gilt nur das möglichst objektive Allgemeine, bzw. Verallgemeinerbare, aber weil es so schön Quote bringt, Tabus auch wieder zu brechen, werden Menschen andrerseits dazu benutzt, ihr möglichst exotisches Intimleben in unsäglichen Talkshows zum Besten zu geben. Nicht gerade förderlich, um ein entspanntes Verhältnis zum “Sich-Veröffentlichen” zu gewinnen!

Eines der ersten Webtagebücher, das ich zu Gesicht bekam, war untertitelt mit dem Satz “Diese Seite dient allein der eitlen Selbstdarstellung – was sonst?” Die Autorin hatte die “Rezeptionsproblematik” voll erkannt und sich entschlossen, den Stier mutig bei den Hörnern zu packen. Sie zeigte möglichen Kritikern lächelnd den Stinkefinger und schrieb, was sie schreiben wollte – natürlich nicht nur “eitle Selbstdarstellung”. Sie schrieb über alles, was sie beeindruckte und zum Ausdruck drängte, und war damit vielen Ermunterung und Beispiel, es ihr nachzutun.

Die Frage “Was soll ich schreiben?” ist damit im Grunde beantwortet: Wir bringen das, was uns beeindruckt, zum Ausdruck. Bereits die Eindrücke – seien es Sinneswahrnehmungen, Alltagserlebnisse, Medien-Inhalte oder Beobachtungen im Rahmen einer Introspektion – sind ganz persönlich, individuell völlig unterschiedlich. Der Schnee, der vom Himmel fällt, ist nicht für jede und jeden gleich kalt. Vom Liebsten verlassen zu werden oder eine Arbeit zu verlieren, berührt jedes Individuum anders – und das ist interessant! Indem wir uns zu lesen geben, wie wir die Eindrücke verarbeiten, was wir mit den Beglückungen und Katastrophen anfangen, die von allen Seiten täglich über uns herein stürzen, zeigen wir uns gegenseitig echte Alternativen auf. Egal, ob es sich um Großereignisse oder “Banalitäten” handelt: Wenn ich beschreibe, wie es mir damit ergeht, und zwar ohne bewusste Schönung oder sonstige Verfälschung, gibt es immer jemanden, der verwundert denkt: Ach, so geht das also auch, so kann das auch erlebt werden!

“Von sich schreiben” ist im besten Fall zweckfrei, aber deshalb nicht nutzlos. Jedes “andere Erleben”, das mir glaubwürdig und echt erscheint, obwohl es nicht das meine ist, erweitert den Raum dessen, was ich “für möglich halte” – und damit den Raum meiner Freiheit. Das je Eigene zum Ausdruck bringen ist also eine natürliche, lebensfreundliche, sowohl den Schreibenden als auch den Lesenden dienende Aktivität. Wer dazu Lust hat, ist gut beraten, die oben genannten “moralischen Vorhaltungen” locker zu ignorieren – sie treffen einfach nicht den Punkt.

Die Freiheit, NICHT zu schreiben

Wenn ich von mir schreibe, schreibe ich die Wahrheit – MEINE Wahrheit, soweit ich sie in diesem Moment erkennen bzw. überblicken kann. Manchmal ist völlig klar, über was ich schreiben werde, wenn ich mir die Zeit dafür nehme: etwas hat mich so beeindruckt, dass alle anderen Themen nicht in Frage kommen. Oft ist es auch so, dass ich mich hinsetze und warte, in mich hinein lausche und dabei regelrecht beobachten kann, wie mehrere Themen miteinander “konkurrieren” – das sitze ich dann aus, bis sich ein Inhalt erfolgreich durchgesetzt hat und ich mit dem ersten Absatz beginnen kann.

Diese Haltung zum Inhalt, der sich ausdrücken will, ist passiv, ist eher ein “Hören” als ein “Machen”. Es klappt nur, wenn ich mich unter keinerlei Druck gesetzt fühle, weder von außen, noch von einem selbst geschaffenen “Du sollst”. Es war immer gut für mich, mir in jedem Moment bewusst zu sein, dass ich auf meiner Website Königin bin: Was ich nicht zeigen will, kommt da auch nicht hin. Nichts und niemand auf dieser Welt zwingt mich, von dieser Haltung auch nur einen Millimeter abzurücken, gar wegen ihr Schuldgefühle zu empfinden! Ja, sie ist mir Voraussetzung, mich immer weiter vorzuwagen zu Themen, die bisher vielleicht “unschreibbar” wirkten, zumindest in einem öffentlichen Webdiary. Eindrücke drängen zum Ausdruck – das ist “Druck” genug!

Wenn ich zum Beispiel befürchten muss, dass etwas, das ich gerne schreiben würde, eine nahe stehende Person verletzt, dann lasse ich es. Oder wenn mich Bedenken überfallen, dass mein Auftraggeber X. bei der kirchlichen Einrichtung XY das jetzt mitlesen könnte und mich vielleicht nie wieder beauftragen wird, dann lasse ich es auch. Es bringt mir und auch niemand Anderem etwas, wenn ich mich da zugunsten einer “Offenheit” vergewaltige, die nicht WIRKLICH Tatsache ist! Die ich nicht tatsächlich spüre als vollständige Gelassenheit in Bezug auf das “Befürchtete”, sondern die ich mir sozusagen “verordne” – etwa, weil das meiner Bewusstheit und Selbsterkenntnis dienlich sei. Es ist gut, immer zu wissen, dass ich zu meiner Freude schreibe, nicht um mich unter einen “spirituellen Entwicklungsstress” zu setzen. Es genügt, wenn ich hinsehe, wenn ich zusehe, wie die Inhalte sich entfalten wollen und WARUM es an manchen Stellen hakt – dann ent-wickelt sich alles von selbst.

Es wird zum Beispiel dahin kommen, dass ich mich von der Person, die mich in Bezug auf gewisse Themen “im Ausdruck behindert” soweit entferne, dass keine Verletzungen mehr drohen. Oder ich entwickle eine andere Art, mein ökonomisches Überleben zu sichern, das mich weniger abhängig von einzelnen Auftraggebern macht. Die Impulse WIRKEN ja im Leben weiter, auch wenn ich nicht alles schreibe, weil ich dafür noch nicht frei genug bin. Bewusstheit und Selbsterkenntnis gewinne ich, indem ich all das bemerke und beobachte – und Schreiben ist ein wunderbares Mittel, da immer am Ball zu bleiben. Wenn ich FÜHLE, wie sich etwas ausdrücken will, was ich aber leider nicht “raus lassen” kann, aus welchen Gründen auch immer, dann versetzt mich das in Bewegung: wie ein Bach, der sich an einem Hindernis staut, wird der (immanente, nicht äußere!) Druck irgendwann so groß, dass ich in meinem Leben etwas verändere.

Deshalb: Auch “nicht schreiben” ist nützlich – aber nur für den, der “normalerweise” alles schreibt und auch veröffentlicht.

***

Da heute der 11.September ist, las ich mal wieder meinen ersten Diary-Eintrag nach dem Ereignis – tagelang war ich verstummt, beobachtete in mir teils erschreckend abgründige Gefühle, schnell wechselnde Meinungen, verstörende Empfindungen. Anders als sonst wusste ich, dass ich dem Thema nicht einfach ausweichen können würde. Doch während sich aller Orten die Leute mittels “spontaner Statements” in regelrechte “Flame-Wars” verstrickten, Foren schlossen, Freundschaften zerbrachen und Stockhausen ein Engagement verlor, weil er den Anschlag “Kunst” genannt hatte, schrieb ich keine Zeile. Ich wartete ab, bis ich etwas ruhiger geworden war, setzte mich dann hin und ließ heraus, was ‘raus wollte – auch die verstörenden Gefühle, mein “Gefallen” an der Katastrophe. Ich vertiefte mich solange in den “Abgrund”, bis ich durch den Boden desselben in sein Gegenteil fiel – alles zusammen konnte ich dann schreiben und rundum dazu stehen.

* Digital Diary, 18.09.01: Vom Glück mitten im Grauen

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Claudia am 29. August 2003 — Kommentare deaktiviert für Gefühle, Gedanken – und GLÜCK

Gefühle, Gedanken – und GLÜCK

Haben Gefühle einen Grund? Üblicherweise glauben wir das, sind so fest davon überzeugt, dass die Frage niemals aufkommt und wir immer nur in der Betrachtung möglicher Gründe kreisen: Ich ärgere mich – woran liegt das? Wer ist schuld? Ist es der Andere, der mich da gerade nervt, oder bin ich es selbst in meiner ganzen Daseinsgefräßigkeit ? Ist mein Gefühl berechtigt oder anmaßend? Was sagt es über mich aus, dass ich in dieser oder jener Situation ausgerechnet dieses Gefühl habe?

Welchen Sinn haben solche Überlegungen? Ich kenne zwei große Gründe, sich in derlei Spekulationen zu vertiefen, um das Gefühl denkend zu be-greifen: die Suche nach Macht und die Suche nach Wahrheit. Im Dienste der Macht will ich den Ursache-Wirkungs-Zusammenhang verstehen, um bei nächster Gelegenheit etwas „anders zu machen“, die Dinge anders zu betrachten, mich anders zu verhalten, um etwa ein „übles Gefühl“ gar nicht mehr aufkommen zu lassen. Im Dienste der Wahrheit geht es einzig darum, „zu sehen, was ist“, ohne Rücksicht auf die eigene Person. Die Macht, das eigene Leben in den Griff zu bekommen, und die Wahrheit „jenseits des Ich“ werden als oberste Werte dabei nicht weiter hinterfragt. Sie sind Dreh- und Angelpunkte, um die alles andere kreist.

Aber zurück zur Frage: haben Gefühle Gründe? Und wenn, können wir sie erkennen, in Worten dingfest machen, sie erklären? Wenn ich einen Nagel in die Wand schlagen will, nehm‘ ich mir den Hammer, also ein Werkzeug, das die Aufgabe, um die es geht, auch zustande bringen kann. Ist das Denken ein solches Werkzeug, um damit Gefühle zu erklären? Können Gefühle überhaupt „erklärt“ werden – und bringt diese Erklärung das Gesuchte: Macht oder Wahrheit?

Finden oder erfinden?

Jemand rempelt mich auf der Straße an: augenblicklich kocht ein Schwall aus Wut und Ärger hoch. Ich könnte, wäre ich nicht zivilisatorisch gehemmt, sofort zuschlagen. Klare Sache, oder? Doch ein andermal schaue ich nur kurz auf, bemerke, dass mich da jemand in seiner weltvergessenen Beschäftigtheit zufällig touchiert hat, und gehe weiter meinen Gedanken und Beobachtungen nach. Gänzlich unberührt. Doch damit nicht genug: An einem anderen Tag, als mich wieder einmal jemand fast umrennt, sehe ich mir den Anderen an, gewahre seine Eile, seine Gehetztheit, sein Ausgeliefert-Sein an Dinge, die nicht aus ihm selber kommen – und fühle mit, empfinde Liebe, Wärme und Traurigkeit, weil ich ihm nicht helfen kann.

In jedem einzelnen der beschriebenen Fälle lassen sich Gründe für die jeweilige Gefühlsreaktion (er-)finden, sogar mehr als genug. Es ist eine Eigenschaft des menschlichen Geistes, in allem über kurz oder lang Ordnungen und Gesetze zu erkennen, selbst im größten Chaos. Ob aber die gefundenen Erklärungen „stimmen“, dafür gibt es KEINE Beweismöglichkeit – Gefühle sind etwas völlig anderes als Gedanken, sie lassen sich nicht auf Gedanken zurück führen. (Das ist so absurd wie gewisse Bildinterpretationen: Was will uns der Künstler damit sagen? Hätte er etwas SAGEN wollen, hätte er geschrieben, nicht gemalt.)

Vernetzte Impulse

Haben Gefühle also KEINE Gründe? Stehen sie völlig isoliert in der Welt wie Meteore aus unbekanntem Gestein von fernen Galaxien? Das nicht. Natürlich haben Gefühle Ursachen, und zwar jede Menge! Diese Ursachen reichen vom Mückenstich, der mich gerade belästigt, über Charaktereigenschaften, die mir eigen sind, bis hin zu allgemeinen, nur abstrakt formulierbaren Gegebenheiten der Welt, in der ich lebe, vom Klima bis zum Kapitalismus.

Ein Gefühl, wenn ich es schon in Worte fassen soll, ist für mich vergleichbar dem, was man sieht, wenn in einem bildgebenden Verfahren ein „aktiviertes Hirnareal“ sichtbar gemacht wird. Vernetzte Impulse, ein Energieschub bringt allerlei Drähte zum Glühen, und zwar quer durch verschiedene Seinsdimensionen. Der Impuls breitet sich aus, verzweigt sich vielfach, gibt Anstöße und erzeugt Reaktionen – dann beruhigt sich alles wieder und schon gleich geht es anderswo los.

Die „Drähte“, ihre Kontakte und Verzweigungen, also die Kommunikationswege in diesem Bild, sind immer sowohl Grund als auch Wirkung – und alles ist organisch gewachsen, nicht etwa nach einem Plan vorab entworfen oder entstanden, der uns Orientierung ermöglichen würde, könnten wir ihn nur endlich erkennen. Dennoch kann ich einzelne „Drähte“ und Kontakte ansehen, und sehe immer „einen Grund“, bzw. „eine Wirkung“. Diese zu verabsolutieren wäre allerdings völliger Unsinn. Sie gänzlich zu negieren ebenso.

In dem, was ich gerade betrachte, gibt es selbstredend keine scharfe Kante zwischen INNEN und AUSSEN, zwischen „ich“ und „Welt“ – das macht die Sache für den Zugriff des Verstandes noch einmal un-begreiflicher. Denn dieser braucht die scharfe Scheidung zwischen dem Beobachter und dem Beobachteten, sonst gibt er den Löffel ab und zeigt den Blue Screen, ganz wie Windows nach dem Absturz.

..ein bisschen erkennen, ein bisschen leben..

Was folgt aus alledem? Wie steht es mit der „Macht“ und mit der „Wahrheit“? Komme ich diesen Zielen näher, indem ich über mögliche Ursachen von Gefühlen grüble und versuche, ein möglichst großes Stück der jeweiligen Zusammenhänge in den Blick zu bekommen? (Wohl wissend, das ich das Ganze nicht erkennen kann, denn „ich“ gehöre ja dazu, bin auf unabgrenzbare Weise überall hinein verwoben.)

Man könnte denken: Absolut gesehen bringt es nichts, aber „ein Stück weit“ kann man sich doch annähern: Je mehr ich überblicke und interpretieren kann, desto besser kann ich navigieren, kann mir meine Welt zu eigen machen. Und je mehr ich sehe, desto näher bin ich der „Wahrheit“, wenn ich dort auch (denkend…) niemals ankomme.

Ungefähr so hab‘ ich jahrelang gelebt und gedacht. Glaubte, das sei alles, was zu erreichen, zu erkennen, zu erleben sei. Jetzt aber bemerke ich eine grundstürzende Veränderung – und zwar eine, die sich über das Erleben von GLÜCK ins Bewusstsein drängt, nicht über Leiden, wie alles bisherige. Ein Glück, das ich fortlaufend in mir spüre, ohne dass es einen definierbaren Grund hätte – insofern ist das, was ich hier hinschreibe, natürlich auch nur wieder eine denkende Spekulation.

Macht und Wahrheit

Ich grüble nicht mehr über Gründe, sondern ich generiere Glück. Wenn es unübersichtlich viele Zusammenhänge zwischen allem und jedem gibt, wenn es eine Eigenschaft meines Denkens ist, Ordnungen im Chaos zu sehen, dann kann ich diese ebenso gut selbst auswählen und setzen. Kann selbst den Dingen DIE Bedeutung zuordnen, die aus meiner Gesamtsicht, aus meinem gesamten Erleben jetzt das Glück vermehrt und nicht das Leid. Nicht nur „mein Glück“ oder „dein Glück“ – aber auch!

„Jetzt“ ist das Stichwort: Die ZEIT verunmöglicht es grundsätzlich, mittels spekulierendem Denken zu wirklicher Macht, zur ganzen Wahrheit, oder gar zum Glück zu kommen. Im oben beschriebenen Beispiel aus dem Alltag wird ja klar: Alle drei Möglichkeiten der Gefühlsresonanz kann ich erleben, mal bin ich SO, dann wieder ganz anders. Was also könnte ich aus einer einzelnen Reaktion Sinnvolles folgern? Alle drei Varianten legen eine andere Antwort nahe auf die Frage „Was kann ich tun?“ und/oder auf die Frage „wer bin ich?“. Wenn ich eine dieser Antworten ergreife, ihr Wahrheit und Bedeutung zugestehe, mich also damit identifiziere, dann zahle ich auch den entsprechenden Preis! Ich schränke mich selber ein, indem ich begrenzte Vorstellungen von mir hege, die wiederum Folgen für mein Verhalten und meine Selbstwertschätzung haben.

Mit Staunen bemerke ich, was ich alles schon über mich glaubte! Da wirken Gedanken fort, deren Ursachen und Kontexte, in denen sie einmal entstanden sind, seit zwanzig, dreißig Jahren keinerlei Bedeutung mehr haben. Ja, die ich manchmal sogar gänzlich vergessen habe – aber DAMALS hatte ich eine zum aktuellen Geschehen passende Antwort auf die Frage „Wer/wie bin ich?“ gegeben – und das Verhalten, das Denken und Fühlen, das sich daraus (logisch-folgerichtig) entwickelte, hängt mir noch heute um die Seele wie der sprichwörtliche „Muff von 1000 Jahren“!

Dies alles rück-abzuwickeln ist müßig, bringt vielleicht allerlei interessante Einsichten, aber keine Veränderung. Was die Frage nach der Macht angeht, führt das Analysieren, Folgern und Planen zu einem „Leben vom grünen Tisch“ des Verstandes aus. Ich lebe dann nicht mehr aus dem Jetzt, sondern im Blick auf meinen Plan von der Zukunft, von einem besseren Verhalten und daraus sich vielleicht einmal ergebenden besseren Leben. So richtig „Leben“ ist das aber nicht, nur ein grauer, krampfiger Versuch, sich mangels Alternative irgendwie durchzuwursteln.

Was die Wahrheitsfindung angeht, führt die forcierte Selbstbespiegelung zwangsläufig irgendwann in die desolate Situation des Tausendfüßlers, der sich zu fragen beginnt, wie er das Laufen eigentlich bewerkstelligt. Die Bauchlandung ist programmiert: da liegt er nun auf dem Boden, kann nicht mehr gehen, nicht mehr leben, nicht mehr blühen und das Glück des Daseins fühlen, glaubt sich aber auf dem Grund aller Dinge angekommen: seine „Wahrheit“ hat ihn kalt erwischt!
Glück!

Der Knoten des „ergründen-wollenden Denkens“ ist nicht „in der Zeit“ zu entwirren, sondern nur im Augenblick zu durchschlagen. Ich bin NICHT Ergebnis und Opfer meiner Vergangenheit oder irgendwelcher „Verhältnisse“ – ich bin Opfer meines Denkens darüber, was das alles „zu bedeuten hat“ und was daraus folgt.

Das zu erkennen – und sich immer wieder daran zu erinnern, wenn eigene oder fremde Deutungen „zuschlagen – macht nicht nur frei von jeder Menge leidvoller Altlasten, sondern eröffnet auch die bis dahin ungekannte, weil nicht „für möglich gehaltene“ Möglichkeit, SELBST zu deuten, selbst Bedeutung (und damit Wirk-lichkeit) zu erschaffen und als ureigenen Beitrag in die Welt zu entlassen. Nicht mehr stets nur am „Bestehenden“ leiden, die Welt und mich selbst in Grund und Boden kritisieren, rechthaberisch im Elend kreisen – sondern etwas erschaffen: aus Liebe, Freude und Lust.

In diesem Diary und anderswo sprach ich oft davon, dass ich nicht viel grüble, sondern meistens „den Impulsen folge“. Jetzt erlebe ich, dass ich nicht nur Impulsen folgen, sondern sie auch GEBEN kann – sie setzen, aus mir selbst erschaffen.
Einmal angefangen, werd‘ ich gewiss nicht wieder damit aufhören. Es bringt riesengroße Freude, ist immer neu und abenteuerlich – ja, es macht einfach glücklich!

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Claudia am 13. August 2003 — Kommentare deaktiviert für Neue Ordnung, neuer Plan, neue Arbeit: Über die Wertschätzung des Eigenen

Neue Ordnung, neuer Plan, neue Arbeit: Über die Wertschätzung des Eigenen

Um neun oder zehn Uhr morgens an dem zu arbeiten, was mir persönlich am wichtigsten ist, kostet erst mal Überwindung. Bisher stellte ich das eher nach hinten, denn in der kollektiven Hauptarbeitszeit – so zumindest meine Begründung vor mir selbst – musste ich „am Ball“ sein, schnellstmöglich reagieren, immer alles sofort erledigen, was per Email den dringlichsten Eindruck machte. Da ich etwa stündlich Mail lese, zersplitterte das meinen Tag, zerschlug mir alle Konzentration und gab mir das Gefühl, jede Menge zu arbeiten, aber doch zu nichts zu kommen.

In den seltensten Fällen handelt es sich dabei um wirklich „Dringliches“, etwa Feuerwehreinsätze für Kunden, auf deren Website schnell etwas getan werden muss, weil die Rechtslage sich geändert hat und eine Abmahnung droht. Meistens sind es die „vielen Kleinigkeiten“, denen ich durch mein ständiges Reagieren ohne Not meinen Arbeitsfrieden opferte: jemand schafft es nicht, die Mailingliste X mit der Adresse XY zu abonnieren, ich soll mal nachsehen, warum das so ist. Ein anderer will, dass ich seinen Beitrag in einem meiner Netzliteraturprojekte der ersten Jahre anonymisiere: Kollegen finden den Text über Google und interpretieren ihn falsch, weil der Kontext fehlt. Oder: Irgendwo ist ein Link kaputt, denn ich richten muss. Jemand hat auf einem Webboard Werbung gepostet, die zu löschen ist. Ein Kunde wünscht Änderung seiner Veranstaltungsdaten, da eine Veranstaltung mangels Masse nicht zustande kommt – ich könnte die Liste lange fortsetzen. Es ist immer etwas zu tun, jedes Mal, wenn die Email herein tröpfelt, sind darunter auch Anforderungen, Bitten und Befehle – und ich springe immer gleich, bisher jedenfalls.

Um dazwischen noch ein Gefühl von Selbstbestimmung zu haben, blätterte ich immer mal wieder trotzig durch meine 22 Mailinglisten, insbesondere die drei, vier, wo ich gerne mal was sage. Doch das ist keinesfalls Entspannung, Rückkehr zum Eigenen, sondern hat ebenfalls ein hohes Zerstreuungspotenzial: mal eben in der „ab 40“ über Yoga oder „Partner-Terror“ schreiben, mit den Ken-Wilber-Freunden diskutieren, inwiefern Reiche durch ein Nadelör kommen oder nicht, in „NetLife“ die neuesten Tricks der Spammer beklagen, und alle paar Monate in der Netzliteraturliste mitlesen, wie jemand die Frage stellt, ob selbige „am Ende“ ist – tja, wann will ich da eigentlich arbeiten?

Damit ist jetzt Schluss! Ich habe aufgehört, alle Stunde E-Mail zu bearbeiten, sondern setze dafür Zeiten. Mehr noch: ich wage es, inmitten der schärfsten Arbeitszeit mein eigenes wichtigstes Projekt zu entwickeln: Schreibimpulse.de kann nicht zustande kommen, wenn ich nicht andere Saiten aufziehe, wenn ich die Arbeit an den Schreibkursen und alles, was drumrum ist, nicht als „Hauptarbeit“ begreife. OBWOHL bzw. gerade weil es nicht etwas ist, das Andere von mir fordern, sondern etwas, das ich selber anbiete.
„Das Eigene zuletzt“ war strukturierender Teil meiner unbewussten „Ordnung“. Ich wundere mich jetzt selbst darüber, weiß nicht einmal, woher diese „Anweisung“ eigentlich gekommen ist – aber letztlich ist das nicht wichtig, wichtig ist, es zu verändern.

Das EIGENE: ein weites Feld! Wer ihm immer den letzten Platz gibt, kann es kaum mehr richtig erkennen, geschweige denn ordnen und entwickeln. Mit einem einmaligen Entschluss, das aktuell Wichtigste an prominenter Stelle zu bearbeiten, ist es lange nicht getan. Das ist nur ein Einstieg, der den Blick auf eine weite Landschaft frei gibt, die – das stelle ich mit gelindem Schrecken fest – einen recht verwahrlosten Eindruck macht. Wie ein Garten, der niemals als Ganzes gesehen, bepflanzt und gepflegt wurde, sondern immer nur mal an dieser oder jener Stelle kurz gegossen, mal eine schöne neue Staude gesetzt und dann sich selbst überlassen, selten gedüngt, immer den wechselnden Wettern der „Spontaneität“ überlassen – da kann ja nichts raus kommen! Weder wirklich gute Ergebnisse, noch innere Befriedigung, oder dauerhafte Freude am Geschaffenen. Auch kein finanzieller Erfolg, der der Rede wert wäre.

Mitschwimmen, den eigenen Impulsen folgen, reagieren auf das, was kommt – lange Zeit war das meine Art, zu leben und zu arbeiten. Es hat auch lange funktioniert, mich immerhin halbwegs versorgt, doch letztlich ist es eine begrenzte, unfreie Weise, das Leben zu verbringen. Das ist mir am Projekt Schreibimpulse so richtig klar geworden: wer Impulse geben will, darf nicht selber allzu impulsiv agieren, sondern ist gefordert, sich einer selbst zu schaffenden Form zu verpflichten, dem „Eigenen“ dauerhafte Gestalt zu geben. Das schränkt Freiheit nicht ein, sondern erweitert den Raum der Möglichkeiten, der relativ klein bleibt, wenn immer nur kurze Sprünge gemacht werden.
Ein erhellender Traum

Ein Anfang, immerhin. Dass es noch viel zu tun gibt, um mir die Landschaft des „Eignen“ wirklich zu erobern, sagte mir heute ein seltsamer Traum. Ich lebte in einer großen Wohnung in einem Haus mit mehreren Wohngemeinschaften. Meine Wohnung hatte Verbindungen zu den anderen Wohnungen, alle Bewohner gingen überall hin. Die Tür zur Terasse in meinem Wohnzimmer stand den ganzen Sommer über offen. Es wunderte mich noch nicht sehr, dass auf einmal zwei, drei unbekannte verlotterte Gestalten in diesem Zimmer herum saßen. Doch immer, wenn ich das Zimmer mal wieder aufsuchte, waren es mehr geworden. Gleichzeitig verschwanden Gegenstände, die Bücherwand schrumpfte, Schränke leerten sich – und erst, als ich um meine neue Kamera fürchtete, von der ich nicht mehr genau wusste, wohin ich sie gepackt hatte, realisierte ich die Lage: mein Wohnzimmer mit der offenen Tür nach draußen war ein Treffpunkt für Obdachlose geworden, die da ihre Zeit herum brachten, sich Kaffee kochten und zechten, und immer mal was mitgehen ließen, was einen werthaltigen Eindruck machte. Ich hatte nichts gegen diese Obdachlosen, aber ich wollte sie plötzlich nicht mehr in meinem Zimmer haben, schließlich hatte ich sie nicht eingeladen. Ich beschloss, sie alle raus zu werfen, die Tür zu schließen und das Zimmer zu renovieren, es wieder zu meinem EIGENEN zu machen – zum ersten Mal wirklich.

Ein interessanter Traum, dessen seltsames Gefühlskonglomerat mir noch jetzt nachhängt. Der aufkommende Unmut und Ärger über das, was da geschah. Das Gefühl, ausgenutzt zu werden, Verwunderung und Scham, dass ich es so weit hatte kommen lassen, ein leichtes Schuldbewusstsein, den Leuten nun ihren Treffpunkt zu nehmen – und ein trotziges „Na und! Das ist MEIN Zimmer!“, das für mich neu ist.

Ja, ich werde mich jetzt um jedes einzelne Zimmer kümmern! Ich sehe diese Zimmer als Bereiche selbst gewählter Tätigkeiten und Freuden: die Schreibkurse, das Digital Diary, meine Webdesign-Arbeit für Andere, Fotografieren und Bildbearbeiten, meine Wohnung, Freundinnen und Freunde, mein Körper. Und soziale Aktivitäten, wie derzeit der Aufbau der Coachingrunde-Berlin.de. Alle diese Bereiche bedürfen sorgfältiger Pflege und intensiver Zuwendung – die ein Leichtes ist, wenn ich für all das dieselbe Wertschätzung empfinde, wie sie mir von Anderen entgegen gebracht wird.
Wow – ein Unterstützer!

Ein alter Stammleser dieses Diary hat mir von sich aus kürzlich eine regelmäßige Spende von 100 Euro pro Monat zugewendet. Er will „das Projekt unterstützen“, mir gerade jetzt, wo ich Neues aufbaue und viel zu tun habe, das Gefühl geben, dass mein freies Schreiben im Diary einen hohen WERT hat, nicht nur für mich. Ich war zunächst irritiert, erinnerte mich dann aber daran, dass ich „das Eigene“ nicht mehr hinten runter fallen lassen will, sondern wertschätzen und entwickeln. Warum bin ich zum Beispiel nicht dem Rat eines anderen Freundes gefolgt, meine „gesammelten Werke“, zumindest das gesamte Digital Diary, auf CD anzubieten? Warum habe ich zwar eine „Leseliste“, aber keinen Bücher-Shop mit meinen Lieblingsbüchern, über den wenigstens ein paar Amazon-Euro rein kämen? Warum hab‘ ich keine „Unterstützer-Seite“ mit Bitten um Verlinkung, netten Buttons und mit meiner Kontonummer, falls noch mehr großzügige Spender auf die Idee kommen, die nonkommerzielle Seite meines Lebens & Arbeitens zu unterstützen?

Ich war es mir nicht wert. Das sehe ich erst jetzt, wo es sich ändert. Und ich bin froh, dass es sich ändert: schon jetzt fühlt sich mein Arbeitsalltag weit besser an, wenn auch noch recht viel zu tun und neu zu schaffen ist. Demnächst auch im Digital Diary!

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Claudia am 06. August 2003 — Kommentare deaktiviert für Von Schreibblockaden, kalten Rippchen und Startterminen

Von Schreibblockaden, kalten Rippchen und Startterminen

Dieser Text entstand am am 6.August 2003 im „Schreibimpulse-Blog“, das ich zur Begleitung meiner Schreibkurse einige Jahre führte. Ich habe ihn ans entsprechende Datum ins Digidiary „gerettet“, da das Blog nach einigen Jahren (mit vielen wunderbaren Schreibkursen!) eingestellt wurde.

Kurzreise nach Frankfurt. Programmierer leibhaftig gesichtet. Sauna und die Lizenz zum Kontakt.

Die Hitze war höllisch. Hinreise am Sonntag, Montag mehrstündiges Arbeitstreffen, gegen Abend dann gleich zurück nach Berlin. Solche Hau-Ruck-Aktionen sind eigentlich nicht mein Ding, aber jetzt musste es einfach mal sein. Nächste Woche fährt Ulf, der die programmiererische Seite von Schreibimpulse.de entwickelt, nämlich in Urlaub. Der Starttermin für die Kurse muss aber VORHER stehen. Ein bisschen Anmeldezeit braucht es ja doch, auch wenn schon über hundert Leute “Interesse gemeldet” haben. Wer weiß, wieviele davon wirklich dabei sein werden! Himmel, ist das spannend….

Wir haben ihn, den Starttermin! Endlich! Noch nicht auf den Tag genau, aber so um den 14. / 15. Oktober geht’s los. In einem lauschigen Biergaren bei Frankfurt erfreute ich mich an “kaltem Rippchen mit Kartoffelsalat” (das es in Berlin nicht gibt) und an unseren Fortschritten. Seit Monaten maile ich mit Ulf, doch gesehen hatten wir uns noch nie. Er war einer derjenigen, die sich freiwillig gemeldet hatten, um mir das Digital Diary von “händischem Betrieb” auf ein automatisiertes Script umzustellen. Ich wollte einfach keine HTML-Tags mehr sehen, wenn ich Diary schreibe. Nur noch in die Eingabemaske tippen, wenn’s mich überkommt – einfach so über’s Web, das müsste wunderbar sein!

Na, jetzt ist es bald soweit. Das “automatische” Digidiary wird bald das Licht der Welt erblicken – aber eher als ein “Abfallprodukt” unserer Zusammenarbeit. Erstmal hab’ ich Ulf nämlich “umgelenkt”. Das Diary war in meiner Prioritätenliste ziemlich nach hinten gerutscht, ich steckte voll fasziniert inmitten der Planungen für schreibimpulse.de. Einen Namen hatte ich noch nicht, aber Ideen und Pläne, die mich ganz neu faszinerten: Endlich mal nicht Webdesign, endlich mal eine eigene Unternehmung: nicht immer nur Andere in Szene setzen, sondern selbst etwas entwickeln!

Ein eigenes Projekt

Das hatte ich schon lange im Hinterkopf. Sogar mit ganz netten Ideen – doch so richtig “los gegangen” ist nichts davon. Die Ideen berührten mich nicht wirklich, oder nur in einer beiläufigen Art. Zum Beispiel die “Saunaseite Berlin”: Ich wollte alle Berliner Thermen und Saunen vorstellen – natürlich nicht datenbankartig öde, sondern so richtig mit Atmosphäre. Szenen von nackten Schwitzenden aller Altersgruppen und Geschlechter, wie sie im Dampf verschwinden, standen mir vor dem inneren Auge. Oder das Aufguss-Ritual: Saunameister wedelt mit dem Handtuch und treibt jedem den Gluthauch der Wüste Gobi über die nackte Haut – und alle tun so, als wär’ das angenehm! Ja, seit meinen Mecklenburg-Jahren geh ich gern in die Sauna, warum also nicht eine “Saunaseite”?? Ich denke immer gleich in Webseiten – aber wie und wann soll ich die alle schaffen?

Die Saunaseite hatte immerhin schon ein “Finanzierungsmodell”. Ich wollte Sauna-Tücher verkaufen, die ein Logo und eine Art Code tragen: Mit blauem Streifen heisst “lasst mich in Ruh!”, mit rotem “Ich bin auf Suche” und mit gelbem “Alles außer Sex” oder “Plaudern erwünscht”. So hatte ich zumindest ins Grobe gedacht. Die Handtuchträgerinnen und Träger würden einander in den Sauna-Anlagen Berlins erkennen – mir hätte sowas gefallen!

Ich finde, es gibt insgesamt zuwenig “Lizenz zur Kontaktaufnahme” außer in klar vordefinierten Situationen wie etwa als Käuferin, Lehrer, Managerin oder Postbeamter. Am richtigen Ort mit entsprechendem Gegenüber, überall, wo wir Rädchen oder Motoren im Getriebe sind, gibt es “vorgestanzte” Kontakte, voraussehbare Kommunikationsformen und Inhalte. Aber sonst?? Im Alltag muss erstmal ‘was Katastrophisches passieren, damit die Menschen miteinander reden. Und sei es nur, dass ein Bus zweimal hintereinander ausfällt.

Ich verplaudere mich! Das “Handtuchgeschäft” sollte nicht das einzige sein, was für Einnahmen sorgt, sondern ich wollte den Berliner Sauna-Unternehmern auch einen “Sauna-Pass” schmackhaft machen: deutliche Rabatte für Neukunden – und diesen Saunapass dann zum Pauschalpreis anbieten, weit günstiger als die zusammen gerechneten Rabatte. Schien mir aussichtsreich, eine “Win-win-Situation” für alle Beteiligten – und ich würde künstlerisch Saunen in Szene setzen!

Die Saunaseite ist dann doch im Ideenstadium geblieben wie noch manches andere. Schließlich geh’ ich nur einmal die Woche schwitzen und so dringlich ist mein Plauderbedürfnis auch wieder nicht. In der Sauna jemanden ansprechen ist zudem leichter, als ein Webprojekt aus dem Boden zu stampfen, dass das für viele einfacher macht. Meine Motivation, die Tage mit Sauna-Betreibern zuzubringen oder Handtuchproduktionsmöglichkeiten zu checken, hielt sich in Grenzen, versetzte mich nicht in Bewegung. Und: in Berlin gibt’s nur wenige gute Saunen, der letzte Standard fehlt ganz – wer hat hier schon einen Schneeraum? Wer kühlt das Wasser weiter herunter, als es aus der Leitung kommt?

Genug davon. Meine anderen Ideen erzähl ich vielleicht auch nochmal, doch seit mich die Kurse beschäftigen, ist das alles vom Tisch! Heute kommt es mir sogar seltsam vor, dass ich nicht weit früher darauf gekommen bin, genau DAS zum Projekt zu machen, was ich im Alltag am liebsten tue: Schreiben, mit anderen kreativ kommunizieren, lockere Gruppen entstehen lassen und soziale Prozesse möglichst ergötzlich für alle gestalten? Der Untertitel meines Diary sprang mir ganz neu ins Auge: “Vom Sinn des Lebens zum Buchstabenglück” – da stand es ja, warum sollte ich in der Sauna und auf den Friedhöfen (davon demnächst!) suchen?

Fast hätte ich diese Domain “buchstabenglueck.de” genannt. Aber Umlaute im Domainnamen sind nicht so gut und die Welt ist voller Zyniker, die das gewollt missverstehen und sich belustigen würden – also schreibimpulse.de!

Vom inneren Zensor

Im Digital Diary bin ich in der letzen Zeit nicht sehr gesprächig. Eine gewisse Scheu hält mich davon ab, die Stammleser mehr als gelegentlich mit Artikeln über das Werden meiner Online-Kurse zu beglücken. Vermutlich behindert mich ein tief sitzendes, in vielen Netzjahren eingefleischtes Sündenbewusstsein: Man macht keine Werbung für eigene kommerzielle Projekte, das ist igitt! Und wäre nicht alles, was ich darüber schreibe, AUCH eine Werbung – ob ich das will oder nicht? Schließlich bin ich fasziniert von meinen Plänen, es begeistert mich, ich kann also nur “werbend” darüber schreiben.

Im Juli also nur zwei Diary-Beiträge und keinerlei “Einfälle”, die NICHT mit schreibimpulse.de zusammen hingen, auf irgend eine Art. Das Diary trocknete aus wie die Brandenburger Wälder. Was tun? Ich fühlte mich schreiberisch gelähmt! Gestern Abend dann, als ein lieber Freund wieder einmal nichts zu einer Frage geantwortet hatte, die mich in Sachen schreibimpulse.de umtreibt (wie so viele derzeit!), wich die Lähmung von mir: Warum soll ich eigentlich genau das aufgeben, was ich in meinem Kurs A vermitteln will? “Von sich schreiben – Webdiarys und mehr” ist der Titel – und ich hör auf, weil ich in den Klauen des inneren Zensors hängen bleibe??? Es darf gelacht werden! :-)))

Warum nicht die Interessenten fragen, wenn ich eine Frage habe, deren Antwort nur sie wissen? Es war nie mein Ding, über Zielgruppen nachzudenken, ich kommuniziere lieber direkt. Es gibt über hundert Leute, denen ich Infos versprochen habe – was lässt mich eigentlich denken, ich dürfe die erst “zur Besichtigung” einladen, wenn alles fertig ist? Kursbeschreibungen, “Über uns”, Konditionen, AGB, Anmeldeformular – da brauch ich noch ein bisschen Zeit. Warum nicht einfach erzählen, was es Neues gibt? Wie der Aufbau läuft, was für neue Erfahrungen ich mache, was bisher geschah… “Von mir schreiben” und “vom Projekt schreiben” sind zusammen gefallen, na und? Ein Ortswechsel dieses Themas auf schreibimpulse.de verschont das Digital Diary davor, zu “eintönig” zu werden – immerhin interessieren sich viele weder fürs Schreiben noch für den Aufbau eines Web-Projekts.

Aber da ist noch etwas: Erzählt die Unternehmerin, was sie unternimmt?? Liest man irgendwo vom Entstehen der vielen Projekte, die mit viel Einsatz und Hoffnung ins Werk gesetzt werden? Gibt’s da eine Schweigepflicht??? Ist es nicht besser, zu warten, bis eine glitzernde Oberfläche steht und alles perfekt wirkt? Und niemals ein Wort darüber verlieren, wie fraglich, problematisch, fehlerträchtig dies und jenes ist, bevor alles “fertig” im Web steht?

Vielleicht ist das wirklich besser, werbetechnisch betrachtet. Aber deshalb monatelang nicht mehr über das schreiben, was mich hauptsächlich bewegt? Kann ich mir nicht vorstellen! Das wär es mir auch nicht wert. Schreibimpulse.de soll mich bereichern und nicht einschränken, beglücken und nicht deprimieren, den Raum der Möglichkeiten vergrößern und nicht zusammenschrumpfen. Ich schreibe also weiter. An dieser Stelle.

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Claudia am 30. Juni 2003 — Kommentare deaktiviert für Von sich schreiben – Reflexionen in der ersten Person

Von sich schreiben – Reflexionen in der ersten Person

„Kann man irgendwo lesen, was du zum Thema »Von sich schreiben« gesagt hast?“, fragt mich eine Leserin per E-Mail. Ich fühl‘ mich einerseits geehrt, andrerseits kalt erwischt: genau darüber will ich seit Monaten schreiben! Drei angefangene Artikel hängen unvollendet im Ordner „eigene Dateien“, es gibt Stichwortsammlungen auf Papier und Mindmaps mit hübschen Wolken und wilden Assoziationen – sogar bis zu einer Gliederung hab ich’s mal gebracht und dann doch wieder aufgegeben. Kein Artikel – was ist daran nur so schwer??

Frag einen Tausendfüßler, wie er es schafft, beim Laufen die vielen Beine zu koordinieren – er wird ins Grübeln verfallen, erschreckt bemerken, dass er es selber nicht weiß, und nicht mehr von der Stelle kommen – ist es vielleicht diese Angst? Eigentlich nicht. Wer Jahr um Jahr ein Web-Diary führt, in Mailinglisten und auf Webboards in derselben Manier das je Eigene der Welt verkündet, muss nicht wirklich fürchten, auf einmal keinen Text mehr zustande zu bringen. Alle meine Texte entstehen ja wie von selbst: nicht das Schreiben ist ein Problem, eher die Unmöglichkeit, es dem planenden Denken zu unterwerfen – und auch das ist nicht wirklich ein „Problem“, denn üblicherweise ist mein Schreiben spontan, ohne Ziel und Zweck. Wenn ich beginne, weiß ich nicht, wo ich im Lauf des Textes ankommen werde.

Gerade das macht einen wichtigen Reiz aus: Ich will nichts verkünden, es gibt keine vorab feststehende Botschaft, sondern ich setze mich schreibend dem Thema aus, lasse es wirken, beleuchte es von verschiedenen Seiten – und tippe alles in die Tasten, was dazu an Gedanken, Gefühlen und Erlebnissen ins Bewusstsein tritt. Wenn gerade nichts kommt, bearbeite ich den letzten Absatz, stelle Worte und Sätze um, so dass sie „den richtigen Sound“ entfalten. Das ist ein Wechsel vom rein beobachtenden Geist („Was ist?“) ins ästhetische Empfinden („Hört es sich gut an?“), der dem „Selbst-Beobachten“ eine Pause gönnt, was dem Fortgang des Textes äußerst dienlich ist. Es ist dasselbe Oszillieren zwischen Inhalt und Form, wie sie etwa beim Clustering bzw. Mindmapping auf Papier zur Ideenfindung angeraten wird: Ein Wort, ein Satz, eine Assoziation wird nieder geschrieben, und bis die nächste kommt, malt man Wolken um die Worte, verbindet sie mit Strichen, kritzelt so ein bisschen vor sich hin – und schon fallen neue Ideen ein – anstrengungslos.

Aus den Schubladen aussteigen

In den Schulen wird das „intuitive“ Schreiben nicht gelehrt. Dass es mir zunächst nicht gelungen war, das Thema „Von sich schreiben“ wirklich anzugehen, verdanke ich einem Rückfall in genau jene Schreibtradition, die dort mit aller Kraft eingeübt wird: das vermeintlich objektive Schreiben, z.B. in Gestalt der „Erörterung“, zwingt dazu, zunächst einen Überblick über den Stoff zu geben, Fragestellungen zu entwickeln, Argumente zu sammeln und in eine Reihenfolge zu bringen, möglichst viele Sichtweisen zu diskutieren, um ganz am Ende – vielleicht – noch zwei drei Sätze „eigene Meinung“ drunter zu setzen. Das ist Schreiben, wie es im Berufsleben meist gebraucht wird: Konzepte, Berichte, wissenschaftliche Arbeiten, journalistische Artikel – ein Schreiben aus dem „Willen zur Macht“: ein Thema, ein Stück Welt soll in den Griff genommen werden, es geht um Übersicht, Orientierung, Meinungsbildung, um handlungsleitende Verlautbarungen.

Genau so hatte ich nun versucht, über das „persönliche Schreiben“ in Webtagebüchern, Blogs, in Foren und Mailinglisten einen möglichst umfassenden Artikel zu erstellen: Stoffsammlung, Überblick, Beispielsammlung, Kriterien zu deren Bewertung – und meine „innere Schreiberin“ trat prompt in den Streik. Schreibend kann ich offensichtlich nicht zwei Herren dienen: einen „pressemäßig korrekten“, möglichst objektiv klingenden Rumdumschlag in die Welt setzen UND dabei den Geist und die Herangehensweisen meines „Schreibens in der ersten Person“ vermitteln. Gerade bei diesem Thema ist mir das schier unmöglich, aber – und das sei allen Interessenten als Warnung ans Herz gelegt! – auch bei allen anderen Themen verliert sich die Lust an der „objektiven Schreibe“. Es fühlt sich mühsam an, die persönliche Sicht wieder beiseite zu lassen bzw. sie zu verstecken, wenn man einmal in die Praxis des freien Schreibens richtig eingestiegen ist. Das Bedienen von Schubladen, das sich Hinein-Zwängen in allseits erwartete Formen („Formate“), wie es z.B. das Schreiben für Zeitungen und die meisten Magazine erfordert, ist mir schon nach etwa zwei Jahren eigendynamischen Schreibens im Netz derart lästig geworden, dass ich es 1998 mit Freude aufgab. (Die üblichen Honorare waren, als Schmerzensgeld betrachtet, auch kaum geeignet, mich bei der Stange zu halten.).

Die persönliche Sicht

Von meinem Fenster aus sehe ich auf einen Spielplatz, Kinder fahren zu zweit auf kleinen Fahrrädern rund um den riesigen Sandkasten. Gelegentlich höre ich das entfernte Geräusch der S-Bahn, doch außer im Winter bekomme ich die Züge nicht zu Gesicht: große Linden und Ahornbäume lassen die Augen im Grün ausruhen, genau das Richtige für eine wie mich, die fast den ganzen Tag auf einen Monitor starrt. Wenn der Schreibfluss mal stockt, ist es immer gut, sich vom Thema zu lösen und umzusehen, die physische Umgebung zu betrachten, das Zimmer, den Schreibtisch, die eigene körperliche Befindlichkeit. Wenn ich verkrampft sitze, Schultern und Hals verspanne, wird kaum je ein lockerer Text in die Tasten fließen. Ich stehe auch mal auf und gehe herum, trete auf den Balkon oder in die Küche – Schreibpausen sind auch zum beiläufigen Aufräumen und Herumputzen gut geeignet, ich mach dann ja nicht einfach Hausarbeit, sondern „diene dem Fortgang des Textes“!

Schreib ich denn nun wirklich „von mir“, wie es die interessierte Leserin mit dem Subject „Von sich schreiben“ voraus setzt? Viele Diary-Schreiber und Blogger tun erst mal genau das: Sie teilen der Welt mit, was in ihrem Alltag passiert, berichten von der Arbeit, den Erlebnissen in der Freizeit – und bekommen dann üblicherweise Probleme, wenn „brisante“ Themen berührt werden: Konflikte mit Nahestehenden, üble Gefühle, unerfüllte Wünsche, eigene Schwächen. Die meisten lassen dergleichen einfach aus, ihre Diarys sind entsprechend langweilig, insbesondere, wenn ihr Leben von den äußeren Umständen her keine lesenswerten Besonderheiten bietet. Andere setzen sich wild entschlossen über jedwede Hemmungen hinweg und empfinden sich selbst als sehr mutig. Sie nutzen ihr Schreiben entweder als Waffe im täglichen Kampf (wenn etwa die Kontrahenten mitlesen), oder auch als Kanal, um Zuspruch, Ermunterung und Beistand vom Publikum zu bekommen, das ganz wie bei einer „Daily Soap“ in voyeuristischen Freuden schwelgt und gerne Tips gibt, wie in diesem oder jenem Konflikt nun weiter zu verfahren sei.

Andere vermeiden diese „Niederungen“ von vorn herein, indem sie die „Formate“ der üblichen Presse nachempfinden. Sie schreiben zu allgemeinen Themen, jedoch mit deutlicher Präferenz der eigenen Meinung: Brandreden zu diesem und jenem, wie sie auch mal im Lokalblatt unter „Meinung“ oder „Leserbrief“ stehen könnten. Sind es schreiberisch begabte Autoren, liest sich das ganz nett, allerdings fragt man sich, warum es als Web-Diary daher kommt: als Leserin ist mir die Meinung eines Unbekannten nur eine Meinung mehr auf dem großen Haufen der täglichen Meinungsäußerungen, die aus allen Kanälen sprudeln, wenn man in die traditionellen Medien bzw. die ihnen zugehörigen Websites schaut. Auf persönlichen Seiten will ich nicht „noch eine Meinung“, sondern etwas über den Menschen selbst erfahren: Warum denkt er so? Wie erlebt er das, worum es hier geht? Was fühlt er, dass er zu dieser oder jener Meinung neigt?

Ich schreibe also nicht „über mich“, aber auch nicht einfach nur „über die Welt“. Eher ist es ein Schreiben „aus mir heraus“, ein „Ver-äußern“ dessen, was ich gerade (jetzt!) bin in Bezug auf das Thema, über das ich schreibe. Neulich stieß ich auf den Begriff „selbstreflexives Schreiben“, der es ganz gut trifft. Das „Selbst“, das hier reflektiert wird, ist die Gesamtheit aller Empfindungen und Gefühle, das physische und psychische Erleben, dazu die Gedankenwelt mit ihren Bewertungen, Plänen, Zielen, Ängsten, Wünschen und Meinungen, bis hin zu Intuitionen und Meta-Ebenen, die nur schwer in Worte zu fassen sind.

Die richtige Haltung

Diesem „Selbst“ gegenüber nehme ich schreibend dieselbe Haltung ein, wie ich sie auch gegenüber „der Welt“ pflege, wenn ich nicht gerade ein bestimmtes Ziel erreichen will: einfach nur Hinsehen und registrieren, was ist. Jegliches Beurteilen, jedes Sortieren in „angesagt“ oder „unmöglich!“ verstellt die Sicht, verzerrt und verfälscht die Wahrnehmung. Ich darf nicht mit der Vorstellung „So bin ich“ in dieses Beobachten gehen, sondern muss völlig offen sein gegenüber allem, was sich da zeigen mag.

Als ich damit anfing, gab es noch jede Menge innerer Verbote, die Liste der „unbeschreibbaren“ Themen war lang. Reine Meinungsartikel „über die Welt“ oder Schmunzelstoff aus dem Alltag waren die Regel, aber langsam wuchs mir größere Freiheit zu. Ich lernte, den inneren Zensor immer öfter auszutricksen, der mir zwar die Wahrnehmung nicht mehr verstellte, aber doch seine „Do’s und Dont’s“ vor dem Niederschreiben, erst recht vor dem Veröffentlichen errichtete. Immer mehr Themen wurden möglich: Schwächen, verworrene psychische Zustände, Krankheiten, Not-PC-Meinungen, finstere Aspekte der eigenen Vergangenheit, Vater, Mutter, das Geschlechterverhältnis, allerlei Süchte und Unfähigkeiten – all das ist durchaus schreibbar, sobald ich mich in der richtigen „Haltung“ einrichte: Ich schreibe, wie die Dinge gerade für mich aussehen, wie ich erlebe, fühle, darüber denke, bin aber mit alledem, was ich da berichte, nicht voll identifiziert. Befinde mich also schreibend nicht „im Kampf“, sondern „in Touch“ – in Berührung mit mir selbst, was eine dermaßen angenehme, herzerwärmende Erfahrung ist, dass schon dadurch die Motivation immer mehr steigt, dem Zensor Paroli zu bieten.

Den inneren Zensor austricksen

Ein paar Überlegungen sind dafür hilfreich, die ich anstelle, wenn die „Bedenken“ überhand nehmen wollen:

  • Ich schreibe aus dem JETZT: was ich heute zu einem Thema sage, muss nicht für alle Zukunft und angesichts der gesamten Vergangenheit das letzte Wort sein.
  • Ich schreibe FÜR MICH. Es ist schön, wenn das jemand lesen will, aber ich schreibe niemandem nach dem Munde und bediene keine Zielgruppen.
  • Perfekt sein langweilt: Auch meine Leserinnen und Leser sind keine Superfrauen und Männer. Sie kennen die Niederungen des Lebens und finden es vermutlich ganz spannend, wenn ich mal ein „brisanteres“ Thema anfasse, mit dem ich so meine Probleme habe oder hatte.
  • Anders sein ist interessant und erlaubt – aber keine Pflicht! Manchmal ist es sogar mutiger, sich als zum (vermuteten) Mainstream gehörig zu outen, anstatt das „besondere Indivíduum“ zu zelebrieren. Manchmal bin ich die Stimme der „schweigenden Mehrheit“ – na und?
  • Ich bin potenziell ALLES, nicht immer nur bei „den Guten“. Und nicht nur ich bin so, sondern alle, ob sie es wissen (wollen), oder nicht.
  • Ich – mein Empfinden, Fühlen, Denken – gehöre nur mir selbst. Niemand hat das Recht, mir zu verbieten, von mir zu schreiben.

Wenn diese Einwände die Bedenken nicht auszuschalten vermögen, dann schreibe ich eben nicht. Sich selbst unter Druck setzen, ist kontraproduktiv, denn dann „trauen“ sich die wahren Empfindungen und Gedanken schon gleich gar nicht mehr ans Licht des Bewusstseins. Ich lasse alles kommen, was dann wirklich „raus geht“, kann ich immer noch ganz frei entscheiden. Und vielleicht ist das Thema ja an einem anderen Tag, in einer anderen Situation auf einmal „schreibbar“. Wichtige Dinge kommen sowieso immer wieder.

Wahrheit und Wahrhaftigkeit

Wer bis hierher mitgelesen hat, wird verstehen, dass diese Art des „freien Schreibens“ nur funktioniert, wenn ich nichts verfälsche: Keine bewussten Verbiegungen und Schönungen, schon gar keine richtigen Lügen! Schließlich ist das Ganze eine Praxis der Selbsterforschung und Erfahrung. Würde ich die Ergebnisse wissentlich falsch darstellen, entfiele die ganze Motivation, das Abenteuerliche, das Spannende. Wahrhaftigkeit ist fürs selbstreflexive Schreiben also nicht moralische Bringschuld, sondern konstituierende Basis.

Allerdings ist die „Wahrheit“ immer eine punktuelle, relative, aus dem Augenblick und dem jeweiligen Standpunkt erlebte und geschriebene Wahrheit. Ich bin kein statisches Wesen, verändere mich ständig, und ich habe auch nicht immer den gesamten Überblick. Es gibt in meinem Webdiary Artikel, da schreibe ich sogar wissend aus einer aktuellen Verblendung heraus (zum Beispiel über die Freude, wieder zu rauchen) . Aber diese Verblendung ist dann halt Tatsache, da mögen sich die Leser amüsieren, für mich ist es ok, auch dann zu schreiben: zwar „wahrhaftig“, aber mit Blindheit geschlagen.

Über Andere schreiben?

Zuletzt will ich noch einen Punkt behandeln, der speziell Diary-Schreibenden auf dem Herzen liegt: Mein Leben gehört mir, aber in diesem Leben kommen Andere vor: Beziehungspartner, Freunde, Auftraggeber und Mitarbeiter, Verwandte und Bekannte – kann ich auch über sie schreiben? Ist nicht jedes Schreiben „über mich“ auch ein Schreiben „über sie“, sobald diese Anderen zu meinem Erleben beitragen?

Ja, ein heißes Thema, und ich kann nur meine ganz persönlichen Antworten bieten: „Über sie“ schreibe ich grundsätzlich nicht. Das ergibt sich schon daraus, dass die ganze Form nicht pseudo-objektiv angelegt ist. Im reinen Erzählen des Alltags können Andere schon mal vorkommen, doch würde ich nie auf die Idee verfallen, etwa schreiben zu wollen „was mein liebster Freund für einer ist“. Das kann ich letztlich nicht wissen, ich erlebe ja immer nur die eigene Wahrnehmung, die eigenen Urteile – und da ist unerforschlich viel Eigenanteil darin, Objektivität ist nicht möglich.

Aber auch das eigene Erleben zu schildern, ist problematisch. Ich gebe zu, dass ich schon mal interessiert mitlese, wenn jemand sich über das langweilig gewordene Liebesleben mit seiner Frau auslässt – aber gleichzeitig läuft mir ein Schauer über den Rücken! Ich empfinde das als eine Art Verrat, eine Illoyalität gegenüber der Intimität der Beziehung, die auch dadurch nicht „geheilt“ wird, dass so mancher das dann seiner Frau auch noch zu lesen gibt – so ganz offen und ehrlich…! Manchmal fühlen sich die Autoren in der Anonymität relativ sicher: insbesondere in den ersten Jahren des Netzes war es eher unwahrscheinlich, dass das eigene Umfeld mitliest, was man im Web so verbreitet. Das hat sich mittlerweile drastisch geändert und gelegentlich konnte ich mitbekommen, wie hart es für die Autoren manchmal war, wenn der „Clash of Cultures“ plötzlich DOCH statt fand.

Es macht dabei sicher einen Unterschied, ob der Schreibende etwas berichtet, was er auch dem „Gemeinten“ in aller Offenheit ins Gesicht sagt, oder ob es etwas ist, das dem Betroffenen ganz neu ist. Zuhause den Mund nicht aufkriegen, aber im Web jammern, klagen, schimpfen, fordern, das ist so ziemlich die unterste Stufe möglichen Verhaltens, wenn man es moralisch betrachtet – und das tue ich hier, es geht ja um „die gute Sitte“ im persönlichen Schreiben.

Doch auch wenn „nur“ geschrieben wird, was auch dem Betroffenen bekannt ist, ist es doch ein Übergriff auf dessen Leben: Er oder sie muss gewärtigen, dass nun irgend jemand aus dem Bekannten- oder Kollegenkreis haarklein darüber Bescheid weiß, was zu Hause gerade los ist – kein schöner Zustand. Es gibt vielleicht Menschen, die ganz frei mit so etwas umgehen können, aber der Normalfall ist es gewiss nicht. Eher bedeutet es eine Art mediale Vergewaltigung, das Intimleben eines anderen öffentlich zu machen. Deshalb sind dem ja auch in der Welt traditioneller Medien rechtliche Grenzen gesetzt.

Was also tun, wenn mich etwas heftig bewegt, ich aber wirklich nicht berichten kann, was los ist, ohne eine ganz bestimmte Person „öffentlich zu besprechen“? Das Thema wird erfahrungsgemäß jedes Mal in den Vordergrund drängen, wenn ich mich zum Schreiben hin setze. Ich kann beobachten, wie es „sich schreiben will“, betrachte mir das ein bisschen und lehne dankend ab. Es wird wieder kommen, doch nicht mehr in derselben Form. Die innere Schreiberin ändert ihre Methoden, man muss nur abwarten! Meist verstreicht dabei ein wenig Zeit und die ganze Konfliktlage entspannt sich: nicht nur im Schreiben-Wollen, sondern auch in der Realität. Nun finden sich auf einmal Formen, darüber zu schreiben, ohne die konkrete Person erwähnen zu müssen. Es sind abstrahiertere, verallgemeinerte Darstellungsweisen, die aber trotzdem nicht langweilig sein müssen, wenn man dicht an den eigenen Gefühlen bleibt. Bezüge zur Vergangenheit sind auch eine mögliche Form. Wenn ich – ohne Namen und Einzelheiten – über eine Beziehung, die zehn oder zwanzig Jahre her ist, schreibe, interessiert keinen Menschen mehr, WER das nun war, das Erlebte ist zum „allgemeinen Beispiel“ geworden, durchaus schreibbar.

Manchmal erübrigt sich auch die Notwendigkeit, über das aktuelle Erleben „mit dem Anderen“ zu schreiben. Schließlich geht es um mich, und ich konzentriere mich immer sehr bald auf das, was mich weiter bringt. Über das Wieder-alleine-Leben zu schreiben, ist dann zum Beispiel sehr viel nahe liegender als über die Gründe einer Trennung.

Mehr als Text

Wer sein Schreiben ernst nimmt und daraus eine regelmäßige Praxis macht, merkt schnell, dass es weit mehr ist, als nur das Produzieren mehr oder weniger lesenswerter Texte. Dieser Artikel ist zudem nur eine Annäherung: Das „Wie“ hab‘ ich angerissen, kaum noch das „Was“ und auch nicht die konkreteren Umstände und Rahmenbedingungen des Schreibens im Web. Insofern ist das gewiss nicht der letzte Beitrag zu diesem wundervollen Thema – wer mag, schaut mal wieder rein!

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Claudia am 18. Juni 2003 — Kommentare deaktiviert für Weiblich und männlich – Alles und Nichts

Weiblich und männlich – Alles und Nichts

Wenn die Schubladen verschwinden:

Wenn die Bäume sich im Getöse der „orkanartigen Bö“ ungewohnt weit zur Seite neigen, wenn der Sturm mit Knall und Geschepper Gegenstände von den Baugerüsten reißt, Staubwolken, Pappe, Blätter und herab gestürzte Äste durch die Straßen treibt, wenn der Himmel sich verdunkelt, Blitze durch die Wolken zucken, und in den Sekunden danach sich die Zeit in Erwartung des Donnergrollens regelrecht zu dehnen scheint: wenn dann manche einfach vor den Kneipen sitzen bleiben und interessiert zusehen, als liefe ein Naturfilm im Fernsehen, bis der knapp vor den eigenen Füßen zerschellende Blumenkübel aus dem 4.Stock doch aufmerken lässt – ja, dann fühl‘ ich mich seltsam glücklich!

Jetzt scheint die Sonne, nur ein paar sanfte Schönwetterwolken segeln am Horizont daher. Ein vermutlich gemeinnütziger Arbeiter gießt den frisch eingesähten Rasen rund um das neue Schachspielfeld auf dem Rudolfplatz – am kollektiven Freizeitpark wird weiter gebaut, auch in Zeiten dramatisch leerer Kassen. Schach hab ich auch mal gespielt, fällt mir da ein, Anfang 20, Regionalliga Hessen Süd: Sonntags vier bis fünf Stunden gezittert, geschwankt zwischen einer Art Mordlust und der Angst, zu verlieren, mich zu blamieren, wo sie – alles Männer! – doch sowieso dazu neigten, mich erst mal für die Bedienung zu halten. Schweißausbrüche, extreme Spannung, heiße und kalte Schauer über den Rücken, wenn der Gegner endlich den falschen Zug machte. Die Aufregung versetzte den Körper in gänzlich unbekannte Alarmzustände – ohhhhhhh, der Adrenalinrausch hatte mich fest im Griff, während Freund und Feind des eigenen und gegnerischen Vereins ums Brett herum standen und kibitzten, wie „das Mädel sich wohl schlägt“, dabei mit entsprechenden Bemerkungen nicht sparend. Als dann in allen Vereinen endlich klar war: neben der 70jährigen Frau J. gibt’s jetzt NOCH EINE FRAU, die auch nicht schlecht spielt, war dann aber bald die Luft raus. Schach war mir nur Mittel bzw. Waffe gewesen, nicht Selbstzweck. Ohne es mir ganz bewusst zu machen, kämpfte ich darum, als Frau „ernst genommen“ zu werden, und das konnte nur geschehen, indem ich die Herren der Schöpfung in ihren traditionell angestammten Domänen aufsuchte, heraus forderte und – wenn immer möglich – auch besiegte.

Kämpfen, siegen oder verlieren: meine Liebesbeziehungen waren lange Zeit Arenen einer fortlaufenden Auseinandersetzung über alles und jedes. Für Männer mit einer starken oder gar übermächtigen Mutter war ich die Richtige, um ihren eigenen Kampf weiter zu führen – so hatten beide Seiten, was sie brauchten. Nur schade, dass diese Phase so lange dauern musste! Bis Mitte dreißig währte mein ganz persönlicher Beziehungskrieg mit wechselnden Gegnern, dann hatte ich endlich geschnallt, dass das „Siegen“ gleichzeitig ein Verlieren ist. Ich hatte „meinen Mann gestanden“, um als Frau geliebt zu werden, wie absurd!

Genießen statt bekämpfen

Da ich mich nun lange schon blendend „verwirkliche“, ohne dass mir einer aufgrund seines Mann-Seins noch irgend eine Butter vom Brot nehmen könnte, kann ich’s mir mittlerweile leisten, das andere Geschlecht einfach nur zu genießen. Und zwar gerade in seiner Andersartigkeit: wenn es ums Erotische geht, liebt mein weiblicher Aspekt das Männliche im Mann. Die Polarität generiert Spannung und schlägt Funken, nicht die Gleichheit. „Als Frau“ will ich nicht diskutieren, sondern fasziniert, erobert, erkannt werden. Die erotische Ebene ist ja zum Glück KEIN Unternehmen, nicht mal ein Familienbetrieb: nicht aus dem Verstand zu gestalten und zu „bespielen“, sondern aus Gefühl und Intuition.

Gelegentlich ecke ich mit solchen Äußerungen an. Zum Beispiel wehren sich viele Frauen dagegen, bestimmte Eigenschaften dem einen oder anderen Geschlecht zuzuschreiben. Ihre feministische Seite fühlt sich verletzt, wenn ich „althergebrachte“ Zuordnungen benutze, etwa Sanftheit, Weichheit, Launenhaftigkeit dem Weiblichen zuordne. Natürlich haben sie auf eine Weise recht: auch in Männern leben diese Eigenschaften, genau wie mir – physisch und im Ausweis ohne Zweifel weiblich – auch Härte, Durchsetzungsvermögen und Konsequenz zu Gebote stehen. Wir sind eben potenziell ALLES, und gerade dieses Wissen sollte uns in die Lage versetzen, das Spiel mit den Unterschieden, die nichts als unterschiedliche, manchmal jahrtausende-alte Schwerpunktsetzungen und Ausprägungen sind, zu genießen. Die Eigenschaften, die sich jeweils nach außen zeigen, sind ja nicht etwa die einzig vorhandenen, sondern finden ihre Entsprechung, ihren Gegenpart im Inneren – UND im Anderen, im andersgeschlechtlichen Gegenüber. Wie wunderbar!

Das Selbst nicht definieren

Dass es als wunderbar erlebt werden kann, setzt allerdings ein Selbstverständnis, ein Selbst-BEWUSSTSEIN voraus, das von Definitionen völlig absieht. Wenn ich auf die Frage „Wer bin ich?“ einfach nur mit „weiblich“ antworte und es damit bewenden lasse, dann habe ich ein Problem. Dann muss „frau“ tatsächlich GLEICH sein, muss in jeder Hinsicht ebenso geartet sein wie Mann, denn nur so lässt sich Gleich-Berechtigung rational begründen – und diese ist unverzichtbar, schließlich geht es im Leben nicht nur um Liebe und Erotik, sondern auch um die weltliche Macht.

Tatsache ist aber: ich bin nicht „nur“ weiblich. Es gibt auch meinen männlichen Aspekt, der ist sogar recht ausgeprägt. Ein anderer Teil bleibt immer und ewig Kind, „zuständig“ für eine ganze Welt aus Spaß, Freude und Spontaneität, die allen verloren geht, die dieses innere Kind einkerkern und es nicht mal kennen wollen. All diese Aspekte können mal im Vordergrund stehen, mal sind sie eher versteckt – und alle können Beziehungen dominieren: meine männliche Seite kann in Beziehung zu einem Mann stehen, der vor allem seine weibliche Seite nach außen lebt – in der Regel wird das aber keine sexuelle Beziehung sein, denn dafür muss (zumindest bisher), meine „innere Frau“ sich angesprochen fühlen. Um meine Rechte, um das nicht zu vergessen, kümmere ich mich nicht „als Frau“, sondern als Bürgerin, die sich gegen jede Diskriminierung ganz selbstverständlich zur Wehr setzt, öffentlich und wenn’s sein muß auch ganz privat – wobei mir langsam die Diskriminierung „wegen Alter“ brisanter erscheint als die „als Frau“. (Nicht hauptsächlich Frauen werden entlassen bzw. früh verrentet, sondern tendenziell alle über 50!)

Frau, Mann, Kind, nicht zu vergessen die/der ALTE WEISE, ein Aspekt, der in späten Lebensjahren nach außen tritt, aber in gewisser Weise immer schon da ist: ich bin sie alle, aber damit ist noch lange nicht ALLES genannt. Es ist unmöglich, „alles“ aufzuzählen und betrachtend vor sich hin zu stellen, weil wir es eben SIND.

Zu mystisch?? Dann denk mal an dein Lieblingstier. Ist es ein Hund? Oder magst du Katzen besonders gern? Schwingst dich vielleicht gar mit den Raubvögeln in die Lüfte? WARUM glaubst du, liebst du dieses Tier so? Ist es nicht einem Teil von dir unglaublich nah? Dieser Teil WEISS, wie und was dieses Tier ist, es fühlt mit ihm, kann seine Sprache, sein Verhalten in jedem Augenblick verstehen – warum?

Ich weiß nicht, wie du diese Frage beantwortest, ob du dem überhaupt je nachgespürt hast. Spätestens, wenn wir im Zoo den Affen ein Weilchen zusehen, ergreift dich vielleicht auch das Bewusstsein, das ich hier meine: DAS sind wir AUCH!

Hetero – und sonst gar nichts?

All die Seinsaspekte, die ich so schon als Aspekte des „Ich bin….“ kennen gelernt habe, sind nun üblicherweise auch schon gleich wieder „zu Tode definiert“. Zum Beispiel: Ich bin Frau – und hetero-sexuell. Ehrlich gesagt hab ich diese Überzeugung nicht selbst entwickelt. In meinem Umfeld schien es „normal“, hetero zu sein, also war ich es auch. Kam gar nicht erst auf die Idee, Frauen als erotische Wesen anzusehen – ich meine damit nicht „für möglich zu halten“, sondern wirklich persönlich HINZUSEHEN: ihr Lächeln, ihre Haare, ihre Figur… Weil ich immer nur Männer aus diesem erotischen Blickwinkel betrachtete, hatte ich natürlich nie eine gleichgeschlechtliche Beziehung und war umso überzeugter: ich bin heterosexuell, und zwar ausschließlich.

Wer jetzt glaubt, ich hätte gerade die Frau meines Lebens getroffen und fühlte mich deshalb genötigt, meine Lebensphilosophie umzuschreiben, irrt. Es verhält sich eher anders herum: umstellt von Definitionen und Vorgaben, wie man/frau zu sein und zu leben, zu empfinden und zu denken habe, bleibt irgendwann nichts anderes mehr übrig, als all das nicht mehr zu glauben. Sämtliche Konkretisierungen, die auf „Ich bin…“ folgen, sind mir suspekt geworden. Allesamt stehen sie zur Überprüfung an, sind keinesfalls mehr in Stein gemeißelt, sondern geben sich als bloße Programme zu erkennen. Programme, die dazu neigen, den Arbeitspeicher zu verstopfen, auch dann, wenn ich sie gerade nicht benötige.

Seit ich in diesem Sinne nichts mehr glaube, wird auch die Welt, in der ich lebe, zunehmend „undefiniert“. Ich erkenne und ERLEBE, dass die Selbstdefinitionen meine Erfahrung erzeugt, geformt und ausgestaltet haben – sobald ich an der jeweiligen Definition nicht mehr klebe, sie gar in Frage stelle (also beobachtend frage: Ist das wirklich so? NUR so?), eröffnet sich mir auch „der ganze große Rest“ als eigene Möglichkeit: Auch DAS bin ich, bzw. kann ich sein – wenn ich es wähle, ihm Aufmerksamkeit schenke, meine Energie in die neue Richtung lenke.

Himmel noch mal! So hier hingeschrieben hört sich das wunderbar an und das ist es auch. Allerdings fühl ich mich angesichts der vielen Möglichkeiten und Potenziale, die sich mir plötzlich zeigen und immer noch weiter zunehmen, zeitweise etwas desorientiert: Wenn ich so vieles SEIN kann und tatsächlich auch erleben – was WILL ich denn eigentlich? Es ist vergleichsweise leicht, in einer Welt der Schubladen und „Gegebenheiten“ gegen Widerstände zu kämpfen. Kein Problem, sich irgendwie „bei den Guten“ zu fühlen oder den Weg des geringsten Widerstands zu einem ganz bestimmten persönlichen Ziel zu finden. Was aber, wenn „gut“ und „böse“ mitsamt der „Persönlichkeit“ sich im Nebel des Alles & Nichts auflösen? Will ich Heilige oder Hure, Unternehmerin oder Künstlerin, Initiatorin sozialer Netze oder Seelen-Coach für Einzelne sein – oder vielleicht doch lieber ganz „Schreibende“?

Oh, was für Fragen! Überlegen lächelnd rufe ich mir zu: Hey, das ist ein Scheinproblem! Dein Kopf macht sich wieder mal allzu selbständig, die Dinge ergeben sich, wenn es so weit ist, ganz von selbst. Jeder Tag hat seine Erfordernisse. Folge einfach den Impulsen, gib dein Bestes. Iss, wenn du hungrig bist, verteile Wasser, wenn jemand Durst hat und vergiss das sprichwörtliche Holzhacken nicht!

Klar doch. Das sag ich mir dauernd. Was auch sonst. Wenn sich etwas Neues ergeben sollte, gibt’s dann die Fortsetzung. Das Diary lass ich jedenfalls nicht im Nebel verschwinden.

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Claudia am 07. Juni 2003 — Kommentare deaktiviert für Matrix reloaded, Ratio gecancelt

Matrix reloaded, Ratio gecancelt

Matrix Reloaded – diesen Film wollte ich nicht auslassen. Egal, was er ansonsten noch bieten oder vermissen lassen würde: der Augenschmaus der neuesten Computeranimationskünste lockte mich, noch dazu in einer Rahmenhandlung, die den Geist vielleicht nicht gerade fordern, aber doch auch nicht allzu sehr beleidigen würde.

Also los. Ein Bezirkskino am Treptower Park garantierte entspannten Filmgenuss – je älter ich werde, desto weniger mag ich es, wenn „die Massen strömen“, man sich in langen Schlangen anstellen muss, beim Sitzen die Ellenbogen der Nachbarn spürt und der Geruch von Popkorn, Schweiß und zig Sorten Deo-Spray oder Haargel in die Nase zieht.

Je älter ich werde, das merk‘ ich auch schon seit Jahren, umso weniger verschwinde ich in den Filmen: das Eintauchen in die Handlung, die Identifizierung mit den Personen und ihren Zielen ist kaum mehr vorhanden. Bei guten Filmen macht das wenig aus, andere Genüsse treten in den Vordergrund und wiegen den Verlust mehr als auf. Auch bei „Matrix Reloaded“?

Ja. Das Spektakel für die Augen ist erwartungsgemäß beeindruckend. Es amüsiert mich insbesondere, zu bemerken, wie die „Ausstattung“, also die Umwelten, in denen die Handlung spielt, nicht so sehr von Story-Schreibern erdacht zu sein scheint, sondern sich von den aktuellen Möglichkeiten des „3-D-Rendering“ ableitet: als Computer als grafische Werkzeuge gerade erst entdeckt waren, erschien die jetzt mögliche Vollkommenheit glatter Formen und Flächen als das Neue, das NonPlusUltra – die „Zukünfte“ erstrahlten in kalter, technoider Eleganz, aseptisch, unorganisch, und niemals erinnerten sie an das lang vergangene Zeitalter der Mechanik. Man drückte auf Knöpfchen oder sprach in einen Kommunikator, die „Maschinen“ walteten im verborgenen, ganz wie in einem modernen Bürogebäude.

Das ist vorbei! Seit es möglich ist, organische Formen und „unregelmäßig“ gemusterte Flächen darzustellen, sind die Welten wieder geradezu mittelalterlich-mechanisch, voller Rost und Abnutzungserscheinungen, Rohre und Zahnräder, zusammen genietete Altmetalle, die Raumschiffe in Schrotthaufen-Optik – toll!

Und der Inhalt? Die Kunst, Weltmythen ins Bild zu setzen, braucht die Askese des Verstands, den Verzicht darauf, allzu klare Bedeutungen vorzugeben, denn das würde die Möglichkeit jedes Einzelnen beschränken, die je eigenen Interpretationen hinein zu legen. Hinzu kommt, dass der Film überdeutlich als Teil einer größeren Verwertungskette auftritt – wer mehr wissen will, soll sich den ersten Teil, den letzten Teil, die DVD und das Video mit den Interpretationen weiterer Filmemacher und Designer zulegen – und natürlich das Computerspiel erwerben, denn „noch nie griffen Movie & Spiel so perfekt ineinander“.

Ja, das tun sie, nicht unbedingt nur zum Vorteil des Films. Aber egal: der „Content“, der geliefert wird, beeindruckt durch seine Ebenen-Gewichtung: die Rede von Morpheus an die Gemeinde von Zion, das Gespräch mit dem Orakel, die Welterklärungen des „Architekten“ – alles, was das mentale Denken anspricht, passt gut in die Länge eines Diary-Beitrags. Der große Rest spricht andere Ebenen an. Und das nicht einfach nur so, ohne Kommentar, nein, es wird auch in der „Handlung“ thematisiert, geradezu gefordert. Ein beispielhaftes Ineinander-Greifen von Form und Inhalt! Immer wieder mutet mich so etwas an, als betätige sich Hollywood ganz bewusst auf der Ebene des kollektiven Unterbewusstseins: hier geht es darum, die Dominanz des „rechnenden Denkens“, des logischen Verstandes, die im 20. Jahrhundert alles andere überwuchert hat, zurück zu schneiden. Andere Seinsaspekte werden in den Fokus der Aufmerksamkeit gestellt, der Kopf vom „Grübeln“, vom endlosen Wägen und Bedenken tragen entlastet. Das erschöpft sich nicht im Kampf gegen die Maschinen, die man als Metapher für das lebensfeindlich ausgewucherte „rechnende Denken“ verstehen kann, es geht auch explizit um die innere Einstellung der Akteure: nicht aus der Analyse eines Problems beziehen sie ihre handlungsleitenden Anstöße, sondern aus dem Glauben, aus dem Herzen, aus der Intuition.

…du hast dich schon entschieden!

Um dies zu vermitteln, wird doch tatsächlich die derzeit spirituell herrschende „letzte Wahrheit“ vieler, die nicht mehr magisch-religiösen Systemen folgen wollen, eingeflochten: „Entscheidung ist nur eine Illusion, entstanden zwischen den Menschen mit und ohne Macht“. Oder auch „Du HAST dich schon entschieden, es geht nur noch darum, deine Entscheidung zu verstehen!“. Die Bezüge zu den Lehren der Satsang-Bewegung ist unübersehbar: Da ist niemand, der entscheidet. Handlungen geschehen – WER handelt? Als dann Neo zu wählen hat zwischen seiner eigentlichen Aufgabe (Zion zu retten) und seiner Freundin, wenn dabei auch die Menschheit untergehen mag, spürt er in sich hinein und „wählt“ Letzteres. Er KANN erst in dem Moment handeln und die entsprechende Tür nehmen, als man ihm sagt: Du HAST dich doch schon entschieden!!!

Jenseits der Frage, wie die Filmemacher dies meinen, wird mir auf einmal klarer, WAS der „Trick“ dieser Weisungen ist: Erst die Aussage „du hast schon entschieden“ entlastet das Individuum vom eingravierten und angelernten „How-To“ in Sachen: „Was tu ich jetzt?“. Erst durch das Beiseite-Lassen der Verstandes-Ebene tritt der Rest der großen Landschaft des „Selbst“ wieder ins Licht des Bewusstseins. Das einzig legitime und gerechtfertigte Herangehen an „Probleme“ ist nämlich immer noch das „informieren, analysieren, abwägen, berechnen, entscheiden und dann handeln“. Das funktioniert ja auch, soweit es darum geht, die Maschinen, Apparate und Programme der technischen Zivilisation zu erschaffen und am Funktionieren zu halten – aber ist das alles, wofür wir leben??? Umgibt uns nicht mittlerweile ein stählernes Gestell aus vorgegebenen Formen und Regeln, Traditionen und Gewohnheiten, Verhaltens- und Erlebensweisen? Alle rational begründet, sehr „verständlich“ und zwingend, wenn man sie hinterfragt? Aber ist das nicht eine Einbahnstraße, in deren Verlauf wir alles und jedes kalkulieren, auch den Wert der einzelnen Leben? In der wir sogar die „Investitionen“ an Gefühl und Aufmerksamkeit in Beziehungen gegen den Nutzwert abwägen, den sie uns bringen? In der wir vergessen, dass wir arbeiten, um zu leben, und nicht umgekehrt?

Schon das Wort „irrational“ ist nur abwertend und diskriminierend in Gebrauch. Der rationale Verstand ist vom Diener zum Herrscher geworden und negiert alles andere, ja, er versucht sich an der vollständigen Vernichtung aller nicht maschinenhaften (nicht operational „begründbaren“) Selbst-Anteile. Alles nicht Rationale soll bis in die eigene Innenschau hinein als zu verdrängende Altlast gesehen werden. Es wird dann tasächlich „vergessen“, gar nicht mehr wahr-genommen, aus der „Wirklichkeit“ aussortiert. Und so leben dann unzählige Menschen ein Schmalspurleben: wollen immer nur „abgesichert“ handeln, nicht anecken, Ansprüchen genügen, Funktionen erfüllen und dafür anerkannt werden. Und können sich keinen Reim darauf machen, warum es ihnen „trotzdem“ beschissen geht; Ängste, Süchte, innere Unsicherheit, überdruß, Selbstverachtung – und Wut und Groll nach außen auf die „übermächtigen Mächte“, die einen vermeintlich zwingen, SO zu sein, so sterbenselend vernünftig.

Anders die Helden in „Matrix“: die innere Gewissheit, aus der heraus Morpheus seine Rede an Zion am Vorabend des erwarteten letzten Angriffs der übermächtigen Maschinen hält, ist durch „Informationen“ nicht zu erschüttern. Es ist kein ganz so simpler Glaube, wie ihn die „biblischen“ Anspielungen nahe legen, das wird im Zuge der Rede deutlich: Nicht, weil das „Volk von Zion“ irgendwo hin will, oder aus seinem „Herkommen“ einen wie immer gearteten Auftrag bezieht, soll dem Angriff mutig entgegen getreten werden. Sondern „weil wir noch da sind“. Dieses Dasein „Hier-Jetzt“ wird im Anschluss an die motivierende Rede dann auch im spontanen Tanz der Menge gefeiert – kein dumpf-agressiver Kriegstanz, trotz Trommeln, sondern ekstatische Lust! Direkt in diese Szenen hinein geschnitten vereinigt sich Neo, der Außerwählte, in unverstellt erotischen Szenen mit seiner Geliebten – und sie sehen sich „dabei“ sogar in die Augen!

Der Verwurzelung des Herzens im Augenblick hält auch dann noch, als die „große Erzählung“, die für die Verstandesebene des Glaubens noch gebraucht wurde, zusammen bricht: die Prophezeiung entpuppt sich als Märchen – ein Schlag für die Helden, aber kein Grund, zu verzweifeln. Die Liebe hält sie in Bewegung, lässt sie den Forderungen des „Jetzt“ mutig entgegen treten. Wie es weiter geht, wird der dritte Teil zeigen.

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