Claudia am 13. August 2003 —

Neue Ordnung, neuer Plan, neue Arbeit: Über die Wertschätzung des Eigenen

Um neun oder zehn Uhr morgens an dem zu arbeiten, was mir persönlich am wichtigsten ist, kostet erst mal Überwindung. Bisher stellte ich das eher nach hinten, denn in der kollektiven Hauptarbeitszeit – so zumindest meine Begründung vor mir selbst – musste ich „am Ball“ sein, schnellstmöglich reagieren, immer alles sofort erledigen, was per Email den dringlichsten Eindruck machte. Da ich etwa stündlich Mail lese, zersplitterte das meinen Tag, zerschlug mir alle Konzentration und gab mir das Gefühl, jede Menge zu arbeiten, aber doch zu nichts zu kommen.

In den seltensten Fällen handelt es sich dabei um wirklich „Dringliches“, etwa Feuerwehreinsätze für Kunden, auf deren Website schnell etwas getan werden muss, weil die Rechtslage sich geändert hat und eine Abmahnung droht. Meistens sind es die „vielen Kleinigkeiten“, denen ich durch mein ständiges Reagieren ohne Not meinen Arbeitsfrieden opferte: jemand schafft es nicht, die Mailingliste X mit der Adresse XY zu abonnieren, ich soll mal nachsehen, warum das so ist. Ein anderer will, dass ich seinen Beitrag in einem meiner Netzliteraturprojekte der ersten Jahre anonymisiere: Kollegen finden den Text über Google und interpretieren ihn falsch, weil der Kontext fehlt. Oder: Irgendwo ist ein Link kaputt, denn ich richten muss. Jemand hat auf einem Webboard Werbung gepostet, die zu löschen ist. Ein Kunde wünscht Änderung seiner Veranstaltungsdaten, da eine Veranstaltung mangels Masse nicht zustande kommt – ich könnte die Liste lange fortsetzen. Es ist immer etwas zu tun, jedes Mal, wenn die Email herein tröpfelt, sind darunter auch Anforderungen, Bitten und Befehle – und ich springe immer gleich, bisher jedenfalls.

Um dazwischen noch ein Gefühl von Selbstbestimmung zu haben, blätterte ich immer mal wieder trotzig durch meine 22 Mailinglisten, insbesondere die drei, vier, wo ich gerne mal was sage. Doch das ist keinesfalls Entspannung, Rückkehr zum Eigenen, sondern hat ebenfalls ein hohes Zerstreuungspotenzial: mal eben in der „ab 40“ über Yoga oder „Partner-Terror“ schreiben, mit den Ken-Wilber-Freunden diskutieren, inwiefern Reiche durch ein Nadelör kommen oder nicht, in „NetLife“ die neuesten Tricks der Spammer beklagen, und alle paar Monate in der Netzliteraturliste mitlesen, wie jemand die Frage stellt, ob selbige „am Ende“ ist – tja, wann will ich da eigentlich arbeiten?

Damit ist jetzt Schluss! Ich habe aufgehört, alle Stunde E-Mail zu bearbeiten, sondern setze dafür Zeiten. Mehr noch: ich wage es, inmitten der schärfsten Arbeitszeit mein eigenes wichtigstes Projekt zu entwickeln: Schreibimpulse.de kann nicht zustande kommen, wenn ich nicht andere Saiten aufziehe, wenn ich die Arbeit an den Schreibkursen und alles, was drumrum ist, nicht als „Hauptarbeit“ begreife. OBWOHL bzw. gerade weil es nicht etwas ist, das Andere von mir fordern, sondern etwas, das ich selber anbiete.
„Das Eigene zuletzt“ war strukturierender Teil meiner unbewussten „Ordnung“. Ich wundere mich jetzt selbst darüber, weiß nicht einmal, woher diese „Anweisung“ eigentlich gekommen ist – aber letztlich ist das nicht wichtig, wichtig ist, es zu verändern.

Das EIGENE: ein weites Feld! Wer ihm immer den letzten Platz gibt, kann es kaum mehr richtig erkennen, geschweige denn ordnen und entwickeln. Mit einem einmaligen Entschluss, das aktuell Wichtigste an prominenter Stelle zu bearbeiten, ist es lange nicht getan. Das ist nur ein Einstieg, der den Blick auf eine weite Landschaft frei gibt, die – das stelle ich mit gelindem Schrecken fest – einen recht verwahrlosten Eindruck macht. Wie ein Garten, der niemals als Ganzes gesehen, bepflanzt und gepflegt wurde, sondern immer nur mal an dieser oder jener Stelle kurz gegossen, mal eine schöne neue Staude gesetzt und dann sich selbst überlassen, selten gedüngt, immer den wechselnden Wettern der „Spontaneität“ überlassen – da kann ja nichts raus kommen! Weder wirklich gute Ergebnisse, noch innere Befriedigung, oder dauerhafte Freude am Geschaffenen. Auch kein finanzieller Erfolg, der der Rede wert wäre.

Mitschwimmen, den eigenen Impulsen folgen, reagieren auf das, was kommt – lange Zeit war das meine Art, zu leben und zu arbeiten. Es hat auch lange funktioniert, mich immerhin halbwegs versorgt, doch letztlich ist es eine begrenzte, unfreie Weise, das Leben zu verbringen. Das ist mir am Projekt Schreibimpulse so richtig klar geworden: wer Impulse geben will, darf nicht selber allzu impulsiv agieren, sondern ist gefordert, sich einer selbst zu schaffenden Form zu verpflichten, dem „Eigenen“ dauerhafte Gestalt zu geben. Das schränkt Freiheit nicht ein, sondern erweitert den Raum der Möglichkeiten, der relativ klein bleibt, wenn immer nur kurze Sprünge gemacht werden.
Ein erhellender Traum

Ein Anfang, immerhin. Dass es noch viel zu tun gibt, um mir die Landschaft des „Eignen“ wirklich zu erobern, sagte mir heute ein seltsamer Traum. Ich lebte in einer großen Wohnung in einem Haus mit mehreren Wohngemeinschaften. Meine Wohnung hatte Verbindungen zu den anderen Wohnungen, alle Bewohner gingen überall hin. Die Tür zur Terasse in meinem Wohnzimmer stand den ganzen Sommer über offen. Es wunderte mich noch nicht sehr, dass auf einmal zwei, drei unbekannte verlotterte Gestalten in diesem Zimmer herum saßen. Doch immer, wenn ich das Zimmer mal wieder aufsuchte, waren es mehr geworden. Gleichzeitig verschwanden Gegenstände, die Bücherwand schrumpfte, Schränke leerten sich – und erst, als ich um meine neue Kamera fürchtete, von der ich nicht mehr genau wusste, wohin ich sie gepackt hatte, realisierte ich die Lage: mein Wohnzimmer mit der offenen Tür nach draußen war ein Treffpunkt für Obdachlose geworden, die da ihre Zeit herum brachten, sich Kaffee kochten und zechten, und immer mal was mitgehen ließen, was einen werthaltigen Eindruck machte. Ich hatte nichts gegen diese Obdachlosen, aber ich wollte sie plötzlich nicht mehr in meinem Zimmer haben, schließlich hatte ich sie nicht eingeladen. Ich beschloss, sie alle raus zu werfen, die Tür zu schließen und das Zimmer zu renovieren, es wieder zu meinem EIGENEN zu machen – zum ersten Mal wirklich.

Ein interessanter Traum, dessen seltsames Gefühlskonglomerat mir noch jetzt nachhängt. Der aufkommende Unmut und Ärger über das, was da geschah. Das Gefühl, ausgenutzt zu werden, Verwunderung und Scham, dass ich es so weit hatte kommen lassen, ein leichtes Schuldbewusstsein, den Leuten nun ihren Treffpunkt zu nehmen – und ein trotziges „Na und! Das ist MEIN Zimmer!“, das für mich neu ist.

Ja, ich werde mich jetzt um jedes einzelne Zimmer kümmern! Ich sehe diese Zimmer als Bereiche selbst gewählter Tätigkeiten und Freuden: die Schreibkurse, das Digital Diary, meine Webdesign-Arbeit für Andere, Fotografieren und Bildbearbeiten, meine Wohnung, Freundinnen und Freunde, mein Körper. Und soziale Aktivitäten, wie derzeit der Aufbau der Coachingrunde-Berlin.de. Alle diese Bereiche bedürfen sorgfältiger Pflege und intensiver Zuwendung – die ein Leichtes ist, wenn ich für all das dieselbe Wertschätzung empfinde, wie sie mir von Anderen entgegen gebracht wird.
Wow – ein Unterstützer!

Ein alter Stammleser dieses Diary hat mir von sich aus kürzlich eine regelmäßige Spende von 100 Euro pro Monat zugewendet. Er will „das Projekt unterstützen“, mir gerade jetzt, wo ich Neues aufbaue und viel zu tun habe, das Gefühl geben, dass mein freies Schreiben im Diary einen hohen WERT hat, nicht nur für mich. Ich war zunächst irritiert, erinnerte mich dann aber daran, dass ich „das Eigene“ nicht mehr hinten runter fallen lassen will, sondern wertschätzen und entwickeln. Warum bin ich zum Beispiel nicht dem Rat eines anderen Freundes gefolgt, meine „gesammelten Werke“, zumindest das gesamte Digital Diary, auf CD anzubieten? Warum habe ich zwar eine „Leseliste“, aber keinen Bücher-Shop mit meinen Lieblingsbüchern, über den wenigstens ein paar Amazon-Euro rein kämen? Warum hab‘ ich keine „Unterstützer-Seite“ mit Bitten um Verlinkung, netten Buttons und mit meiner Kontonummer, falls noch mehr großzügige Spender auf die Idee kommen, die nonkommerzielle Seite meines Lebens & Arbeitens zu unterstützen?

Ich war es mir nicht wert. Das sehe ich erst jetzt, wo es sich ändert. Und ich bin froh, dass es sich ändert: schon jetzt fühlt sich mein Arbeitsalltag weit besser an, wenn auch noch recht viel zu tun und neu zu schaffen ist. Demnächst auch im Digital Diary!

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