Claudia am 12. September 2003 —

Bondage, die Kunst des erotischen Fesselns – ein Workshop

„Ich beiße nicht“, sagt der alte Mann mit den schneeweißen Haaren, und rückt seinen wuchtigen Leib ein wenig mehr in die rechte Ecke des Zweisitzersofas, um mir Platz zu machen. „Ich auch nicht“, sag ich, setze mich neben ihn und schaue in die Runde. Ein Paar um die 40 nestelt kundig an diversen orangenen, weißen und grünen Seilbündeln, die beiden dröseln die Stricke sorgfältig auf, messen die Längen mit den Armen, und wickeln sie wieder ordentlich zusammen. Wir sind jetzt zu acht, drei Männer, fünf Frauen, die Ladeninhaberin mitgezählt, Stühle und Sofa stehen im Kreis. Es ist hell und gemütlich im RauslinkLa Luna, dem „Frauenerotiklanden, in dem auch Männer willkommen sind“. Warme Farben dominieren, an den Wänden stehen Regale mit Büchern und jeder Menge erotischer Objekte, im Hintergrund ein Kleiderständer mit Dessous. Ein prominent platziertes riesiges Ganzschalenkorsett fällt mir auf, die Walküren-Ausmaße signalisieren: auch dicke Frauen sind sexy!

Da der Laden ebenerdig liegt und von außen eingesehen werden kann, verhängt unsere Gastgeberin Fenster und Türen. Dann könnte es eigentlich losgehen mit „Bondage, der Kunst des erotischen Fesselns“, doch zunächst wird über die Lautstärke der Musik diskutiert. Sphärische Klänge aus dem Hintergrund, fast jeder möchte sie noch ein bisschen leiser haben – sehr sympathisch, ich mag nicht gegen Musik anreden müssen, und vermutlich wird hier mehr geredet als „geübt“. So zumindest lässt es der Artikel im Stadtmagazin erwarten, der mich hergelockt hat.

Helena Esprie, die 52-Jährige Kursleiterin, ist leider verhindert, erfahren wir jetzt. An ihrer Stelle werden uns Maya und Ingo (das kundige Paar) in die Kunst einführen, FAST richtige Profis, die seit Jahren miteinander Seilspiele praktizieren und zweimal im Monat in einschlägigen Clubs Performances geben. Maya beginnt mit einer einführenden Rede, erzählt von sich, von ihren Erfahrungen mit vielerlei Spielarten erotischen Tuns, die nicht so ganz dem Mainstream entsprechen. Es geht ihr darum, die Zuhörenden zu lockern, mögliche Unsicherheiten zu besänftigen, doch so, wie hier alle neugierig und interessiert zusehen, ist Schüchternheit eher nicht das Problem. Allenfalls die übliche, zögerliche Konsumhaltung: man erwartet einen professionellen „Input“ und dann klare Anweisungen, welche Art der Beteiligung gewünscht wird. Maya „lockert“ indes weiter, verliest uns eine minutenlange erotische Fantasie, eine Geschichte, die einzig davon handelt, was einer alles denkt, der seine Freundin erstmalig erfolgreich gefesselt hat und nun zu Taten schreiten will. Er denkt viel, sehr viel, und ich denk bei mir: das ist ein Fehler!

Wann werden wir endlich selber reden, miteinander ins Gespräch kommen? Es wirkt fast ein wenig absurd, alle sehen so aus, als würden sie gerne reden, aber niemand mag anfangen. Auch ich nicht, hab‘ ich doch gelernt, meine Löwennatur nicht mehr immer und überall in den Vordergrund zu drängen und das Wort zu ergreifen, wenn die anderen sich nicht trauen. Maya „droht“ schließlich mit einem Assoziationsspiel, was gottlob von einer der Frauen abgelehnt wird: „Ich bin besser im Erzählen, als in Assoziationsspielen“, sagt sie, und alle atmen erleichtert auf. Elke (ich nenne sie mal so) berichtet, dass sie auf Anregung ihres Freundes einige passive Erfahrungen gemacht hat und dabei feststellte, dass sie lieber selber aktiv sein möchte, selber fesseln! Dafür sucht sie nun Tipps und Tricks. Auch Andrea und Birgit wollen ihren Horizont erweitern, Andrea ist stark, kräftig, mächtig und immer aktiv, es reizt sie, die Macht abzugeben und einfach mal „machen zu lassen“. Birgit ist mit einer Hure befreundet, von der sie sich seit zwei Jahren Geschichten erzählen lässt, spannende Geschichten aus deren Berufsleben, doch jetzt will Birgit mal „selber was erleben“.

Andy, der junge Mann auf dem Stuhl rechts neben mir, hat seit vier Wochen eine neue Freundin, die ganz nebenbei erwähnt hat, dass sie „so was“ mag – und da sitzt er nun und will sich informieren, ganz auf die Schnelle, denn morgen schon wird sie wieder kommen. Auch Hermann, mein Sofa-Nachbar, hält nun seine Vorstellungsrede: „Wenn Fantasien da sind“, sagt er, „dann neigt man schon dazu, ihnen in der Beziehung auch mal Gestalt zu geben!“. Alle nicken. Und alle sind erstaunt, als er weiter erzählt, er habe ein einziges Mal, so ungefähr vor dreißig Jahren (!), seiner Frau ganz locker die Hände gefesselt. Das habe, für beide völlig unerwartet, eine Panik-Attacke zur Folge gehabt, weswegen es dann nie wieder zu derlei Experimenten gekommen sei. Und nun hätte er gerade zufällig vor diesem Laden gestanden, hätte die Workshop-Ankündigung gelesen, und da sei er nun!

Ich bewundere innerlich seinen Mut, mit 70+ hier so locker in der Runde zu sitzen. Auch in mir ist offensichtlich die diskriminierende Vorstellung lebendig, im vorgerückten Alter käme allenfalls noch das Gartenzwerge-Aufstellen in der Kleingartenkolonie als passendes Hobby in Betracht. Schön, dass es nicht so ist! Nach ihm bin ich selber dran, erzähle von den immer schon vorhanden gewesenen Fantasien, von den Spielen in der Kinderzeit, die mich auf mir unbekannte Weise erregt hatten; erzähle, dass es nicht möglich war, solche politisch unkorrekten Fantasien in den Beziehungen meiner ersten Lebenshälfte zu realisieren, da diese Beziehungen immer auch Machtkämpfe waren – unmöglich, mich da in eine physisch machtlose Situation einzulassen, Fantasien hin oder her. Und ich erzähle von meinem fernen Freund in B., der mich dazu inspiriert hat, mich für die Seilkünste zu interessieren – im Januar wird er mich besuchen. Bis dahin will ich nicht mehr ahnungslos sein.

Ein Hauch von Utopie…

Ach, es ist wunderbar, in dieser gemütlichen Runde zu sitzen und über erotische Träume und Aktivitäten zu reden wie über Kochrezepte und Yoga-Übungen! Warme, friedlich-fröhliche Gefühle sind im Raum, alle stehen zu sich und dem, was sie hierher geführt hat, jede und jeder ist auf je eigene Weise unterwegs zu neuen Ufern, will MEHR als das erotische Standardprogramm, ist bereit, Risiken einzugehen und sogar bereit, sich mit anderen, wildfremden Menschen darüber auszutauschen. Was für ein Unterschied zur „normalen Gesellschaft“, wo niemand je über das eigene praktische Liebesleben spricht, aber die Speise-Eis-Werbung in drastisch aufgeilender Bildersprache daher kommt. Wo man täglich mit unzähligen medial vermittelten erotischen Reizen konfrontiert wird, immer mit der Aufforderung verbunden, irgend etwas zu kaufen, was nichts, aber auch gar nichts mit Sex zu tun hat. Was würde aus dieser Kommerzwelt werden, wenn sich die Menschen einfach nähmen, was sie suchen? Ohne Umwege über nutzlose Produkte, einfach so, sich einander zuwendend???

Maya reicht jetzt Materialien herum – Tücher, Seile, gepolsterte und ungepolsterte Leder-Manschetten – und erzählt, was man alles damit anstellen könne. Sabine, die Ladeninhaberin, die „eher vom Tantra her kommt“ und erotische Massage-Wochenenden anbietet, verweist auf Federn, Handschuhe, Fell und Eiswürfel für neue Erfahrungen auf gelangweilter Haut. Dann beginnt endlich der praktische Teil: Ingo fesselt Maya! Sie ist klein und sehr schlank, trägt enge schwarze Jeans und einen entsprechenden Body – das orangene Seil, mit dem er sie kunstvoll verschnürt, sieht auf dem dunklen Stoff spitze aus. Die beiden erwähnen, dass in ihren Performances diese Seile schon mal im Schwarzlicht leuchten – hm, ich bekomme Lust, mir das mal anzugucken! Ob ich mich hintrauen werde? Es ist in Kreuzberg, meiner alten Heimat – na, mal sehen…

Danach sind wir dran. Wer mag, darf jetzt experimentieren, sich auf einen Stuhl fesseln lassen oder einfach Knoten üben – ich frag mich einen Moment, ob ich Hermann ermuntern soll, mir die Hände zu fesseln. Wer dreißig Jahre davon träumt, sollte vielleicht hier zum Zuge kommen – aber da steht schon Ingo vor mir. Er sieht aus wie ein Musketier, was Haare und Bart angeht, eine fast romantische Gestalt. Nichts dagegen, mich von ihm fesseln zu lassen! Ich schäle mich aus meinem Rock, unter dem ich eine dunkle, blickdichte Strumpfhose trage – detailliert erklärt er mir, was er macht: eine sehr einfach umzusetzende Seilführung mit diversen Knoten, einmal längs um mich herum, dann werden die Seilenden von hinten nach vorne und wieder zurück geführt. Am Ende sieht das auch an mir richtig toll aus – ich spüre die dicken Schnüre, doch meine Bewegungsfreiheit ist nur minimal eingeschränkt. Das Seil ist zu kurz für Weiterungen, es müsste ein zweites her – aber na ja, wir sind hier ja nur, um erste Anregungen zu bekommen.

Alle üben jetzt irgend etwas, Ingo vertieft sich in Anleitungen für einfache und kompliziertere Knoten – es hat jetzt was von einem Segel-Workshop. Maya steht in einer anderen Ecke und erzählt der Gastgeberin und Hermann, was es in Berlin für Clubs gibt und was dort im Einzelnen geboten wird, bzw. erlebt werden kann. Neuerdings hat sogar ein Restaurant eröffnet, in das man „im Outfit“ gehen kann. Nun ja, essen gehen ist nicht das, was ich in diesem Kontext suche!

Andy, der ja gleich morgen in die Praxis einsteigen will, fragt noch in die sich auflösende Runde, was mann eigentlich tun solle, wenn das Kunstwerk vollendet sei. Wer es gehört hat, muss lächeln: ist es nicht witzig, dass diesem gut aussehenden Twentysomething dazu nichts einfällt?

Versehen mit allerlei Infomaterial und Adressen strebe ich schließlich beschwingt in Richtung U-Bahn, fest entschlossen, Ingo und Maya wieder zu sehen, dann aber „voll in Action“. Es gibt sie also wirklich, ganz real und nicht nur im Internet: eine freizügige erotische Kultur, allein der Lust verpflichtet, voller Respekt und Achtung vor dem Anderen. Ich bin entzückt – und gewiss werde ich weiter forschen. Das Knoten-knüpfen übe ich aber besser erst mal allein daheim mit einem Buch.

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Ein Kommentar zu „Bondage, die Kunst des erotischen Fesselns – ein Workshop“.

  1. […] erotischer Interessen, in die ich mich auch begeistert “hinein stürzte”, neue Erfahrungen machte und meinen jetzigen Partner kennen und lieben lernte. In Beruf und Hobby (nicht immer klar […]