Claudia am 28. Juni 2000 —

Draussen sein

Je länger ich in den Netzen lebe, desto mehr geraten Ausflüge ins „Real Life“, gelegentliche Bewegungen durch den physischen Raum zu Besuchszwecken, zu Expeditionen in eine seltsame Anderwelt. Dabei wächst einerseits meine Wertschätzung nicht-medial vermittelter menschlicher Kontakte: Sich ungeschützt und ohne Wahl jenseits jeder Notwendigkeit zu begegnen, ist alleine schon ein Ereignis, das zum feiern einlädt. Man liefert sich freiwillig einer Situation aus, die nicht jederzeit „gecancelt“ werden kann, wie all die Dinge, die ich täglich am Bildschirm herbei und wieder weg-klicke. Das allein ist schon eine Liebeserklärung an den Mitmenschen, allerdings eine, die nur von denjenigen verstanden wird, die ihre Tage lange schon aus freien Stücken im kühlen Schein der Monitore verbringen.

Im Regelfall treffe ich auf eine Anzahl disparater Monaden, physisch zwar im selben Raum versammelt, doch in ihren je individuellen Welten so verschieden, daß noch nicht einmal ein Umeinander-Kreisen in großem Abstand möglich ist, wie es die Planeten im Sonnensystem ohne Stress und Krafteinsatz zustande bringen. Die Abwesenheit aller Formen und gemeinschaftlichen Rituale, zwiespältiges Erbe der 68er Kulturrevolution, verschärft das Empfinden der Unverbundenheit noch. Man gibt sich aufgeschlossen – aber für WAS? Man wandert herum, spricht ein paar Sätze hier und ein paar Worte da – ist das nun zuviel oder zuwenig? Im Zweifel hilft der Alkohol, dem auf den meisten „Festen“ entschlossen zugesprochen wird. Anders als Haschisch vertreibt er diese Wahrnehmungen, wahlweise helfen Bildschirme, die Blicke zumindest äußerlich in diesselbe Richtung zu lenken, auf ein Fußballfeld, zum Beispiel.

Aus der Ferne bin ich den Menschen näher.

In jungen Jahren treiben die Hormone zum Anderen – bis Mitte 30 war ich süchtig nach Menschen, nie zuhause und nie allein; meine Wohnung ein reiner Schlafplatz, manchmal auch Bühnenbild für sorgfältig inszenierte Gelegenheiten, wenn ich einen bisher Fremden verführen wollte. Ich erwartete alles Glück, alle Liebe und Erkenntnis, alles Wunderbare und Abenteuerliche vom ANDEREN, mit dem ich am liebsten verschmelzen wollte in eine letzte Einheit ohne alle Trennungen und Zweifel. Oh heilige Naivität! Es brauchte viele schmerzliche Ent-Täuschungen bis meine Traumwelten endlich unsanierbar in Trümmern lagen und ich einsah, daß der Märchenprinz genauso wenig existiert, wie ich selber als „Märchenprinzessin“ zur Verfügung stehe. Schön wars trotzdem und immer intensiv – doch sehne ich mich nicht zurück.

Formlose Treffen ohne jede bewußte Inszenierung von Gemeinsamkeit suche ich heute nur noch selten auf. Die Erfahrung der Leere mach‘ ich lieber alleine. Dann ist sie das Geheimnis der Welt, aus dem die Fülle kommt, der Raum der Freiheit. Sozial gesehen wirkt sie dagegen immer als Defizit, mit Ausnahme der seltenen Gelegenheiten, die ein gemeinsames Gewahrsein der Leere ermöglichen – und das sind immer bewußte Inszenierungen.

Wer trifft wen im „Real Life“? Treffen da noch Subjekte aufeinander, die sich über Objektives verständigen und verbinden können? Nein, diese Vorstellung trifft nicht mehr: Wir sind zersplittert in unendlich vielschichtige Ebenen, wo sich Individuelles punktuell miteinander vernetzt und verwebt. Wir lernen, Knoten zu knüpfen und das Netz auf mögliche Anknüpfungspunkte zu scannen. Verbunden mit TEIL-Aspekten anderer Netzgeister kreieren wir spielerisch neue Formen, projizieren Gedanken und Gefühle hinaus in die Leere, um dem Tod etwas entgegenzuhalten, um ein bißchen SINN zu machen. Wir sind verteilte Systeme, niemand weiß mehr genau, wo der Andere beginnt.

Die fluktuierende Ordnung der Beziehungen, die so aus dem Chaos entsteht, bewußt und manchmal kunstvoll komponiert von den Beteiligten hinter filternden Interfaces, findet im physischen Raum keine Entsprechung mehr. Dort sind wir Touristen, die einen Reiseführer brauchen, der sagt: „Und hier sehen Sie einen Dorfplatz, früher einmal eine Stätte sozialer Begegnungen, bevor Ende des 20. Jahrhunderts die Shoppingmall eingeführt wurde.“ Oder einen Schamanen, der uns in Rituale hineinführt, die aus dem Nichts ein Bedeutungsnetz schaffen, das für kurze Zeit, für ein paar Augenblicke das Wunder des Zusammenseins spürbar werden läßt.

Nein, das ist KEINE Klage. Nur wer zwischen hier & dort schwankt, wer ganz DA und immer auch ganz DORT sein will, wird von der Unmöglichkeit zerissen. Ich schwimme lieber fröhlich im Feld der Möglichkeiten, wenn das auch bedeutet, auf Realisierungen zunehmend zu verzichten.

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