Claudia am 20. Dezember 2007 —

Wieder gelesen: Vom Weihnachts-Irresein

Gestern hab‘ ich mal in alten, rund um Weihnachten geschriebenen Diary-Artikeln gestöbert. Seit 1999 sind das immerhin acht Jahre Weihnachten. Meine Scheu, eigene Texte wieder zu lesen, kann ich noch nicht wirklich erklären, doch empfand ich gelindes Erschrecken über die Gleichförmigkeit der Gedanken und Empfindungen, die da zum Ausdruck kommen. Als würde die Schreibende sich niemals ändern. Mit immer gleichen Blick beschreibt sie die wieder kehrenden Phänomene: die gewisse Genervtheit vom kollektiven Weihnachtszirkus, dann die Freude an der Stille und Leere, am Freiraum, der sich da auf einmal auftut – und in dem dann doch nichts Bemerkenswertes passiert. Same procedure as every year.

Da mein gestriger Artikel zur Einsamkeit an Weihnachten ein wenig missgelaunt und selbstgerecht daher kam, poste ich heute den besten Beitrag zum Thema Weihnachten, den meine Sichtung der Vergangenheit finden konnte, nochmal in prägnanter Kurzfassung zum Vergleich – und auch zur Mahnung an mich selbst, dem „Weihnachts-Irresein“ nicht widerstandslos zu verfallen!

Vom Weihnachts-Irresein

„All‘ überall auf den Seelenspitzen sehe ich blinkende Bomben sitzen, und innen, aus dem Herzenstor, schaut‘ mit großen Augen die Neurose hervor…“

Diesen „Weihnachtsreim“ schrieb mir ein Freund, der als Arzt mit vielen Menschen regelmäßig in Kontakt kommt. In diesen allzu heiligen Tagen spitzen sich offenbar die Dinge zu: was lang ertragen wurde, wird jetzt unaushaltbar; das bisher locker Weggesteckte tötet den letzten Nerv. Der kleine Ärger wächst sich zum Großkonflikt aus, die Beziehung kriselt, der Lehrer entläßt entnervt die unbelehrbaren Schüler – der Mitmensch ist alles in allem eine richtige Katastrophe. Zwar sind viele damit beschäftigt, Geschenke einzukaufen, doch die Gedanken an „die Anderen“ werden nicht freundlicher, im Gegenteil. Und die Festtage selbst – so erzählen zumindest immer wieder die Polizeiberichte – beinhalten Dramen und ausagierte Feindseligkeiten, die den Rest des Jahres an Häufigkeit und Intensität deutlich übertreffen.

Was ist nur los an Weihnachten, dem „Fest der Liebe“? Vielleicht – ich spekuliere mal wild drauf los – ist es der Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit, der in diesen Tagen nicht mehr tolerierbare Ausmaße annimmt. Einerseits Friede, Freude, Lebkuchenduft und Lichterglanz, das Beschwören einer Harmonie, die auch mitten im vervielfältigten Konsumgeschehen Ziel bewußter oder unbewußter Wünsche ist; andrerseits der Blick auf die Realität, die in diesem Vergleich weit dunkler wirkt als üblicherweise: Niemand liebt. NIEMAND!

Was wir üblicherweise Liebe nennen ist ein ausgesprochen bedingtes und daher flüchtiges Erleben: Solange du meine Erwartungen zu einem gewissen Prozentsatz (der nach eigener Tagesform schwanken kann) bedienst, liebe ich dich – sobald das aufhört, erkenne ich Dich als Fremden: Himmel, was habe ich eigentlich mit dir zu tun? Und je nachdem, wie abrupt sich solche Bewußtwerdungen ereignen, umso unbehauster und verweifelter, einsamer und verlassener mag man sich dabei fühlen: ent-täuscht! Und dann?

Werden die persönlichen Welten aus Selbstbetrug und krampfhaft aufrecht erhaltenen Illusionen in Frage gestellt, reagieren viele äußerst feindselig, Wut, Ärger und Agressionen aller Art suchen ein Ventil – und in der Weihnachtszeit explodiert so mancher ganz unvermittelt, von dem man derartiges gar nicht erwartet hätte – nicht jetzt, nicht so!

Nun, das ist das „Weihnachtsirresein“ – und keiner ist davor sicher. Es ist kein wirkliches „Irre sein“ im Sinne von „ver-rückt“- im Gegenteil, es entsteht duch das Hereinbrechen des Lichts, in diesem Fall des Lichts der Erkenntnis über das, was ist. Wir sehen: aha, ich liebe nicht! Aha, auch der Andere liebt mich nicht, er schätzt es nur, wenn ich dies oder jenes ´rüber reiche: Streicheleinheiten, Vergnügen, Schutz, Anerkennung, Ermunterung, Dankbarkeit und so manches, das er sich offensichtlich alleine nicht verschaffen kann.

Geschäftsbeziehungen sind von allen Beziehungen die ehrlichsten, denn sie formulieren üblicherweise einen Vertrag über Geben und Nehmen, über die Bedingungen des Miteinander, die sonst so gern verborgen bleiben. Je unausgesprochener und unbewusster diese „Bedingungen“, desto größer das Konfliktpotenzial, wenn das Licht darauf fällt, wenn sichtbar wird, dass sie nicht bzw. nur unbefriedigend erfüllt werden: zwischen Lebenspartnern, unter Freunden, in Familien, bei Kollegen, im Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler und selbst zwischen Autor und Publikum – wer schreibt schon gern für die Schublade?

Im christlichen Kontext des Weihnachtsfestes steht der kommende (lat: „ad-venit“) Jesus Christus für das In-die-Welt-Kommen einer bedingunglosen Liebe, einer Liebe, die nicht tauscht und berechnet: genau der Liebe eben, zu der wir nicht fähig und gewöhnlich auch nicht willens sind.

Diese große Erzählung ist von wunderbarer Symbolkraft! Jeder kann sich davon ergreifen lassen, zumindest in diesem potenziell Gemeinschaft-stiftenden Moment der Sehnsucht: Wir erkennen einander als Unzufriedene, als Sehnende nach einer Liebe, die außerhalb unseres allzu menschlichen Vermögens liegt.

Dazu muss ich nicht mal Christ sein. Religionen sind ja ganz allgemein Tröstungssysteme, Therapeutika gegen die Unbehaustheit des Menschen in einem unfassbaren Universum. Wer es schafft, die eine oder andere religiöse Tröstung zu verinnerlichen, ist im Grunde zu beneiden – wir anderen dürfen hoffen, dass der Preis nicht zu hoch ist, dass nicht gleich das Fanatische die Oberhand gewinnt, um die gewonnenen Gewißheiten gegen „Ungläubige“ durchzusetzen. „Innere Sicherheit“ der einen kann Krieg gegen die Anderen bedeuten, wie wir wissen.

Was ist aber jenseits religiöser Geisteswelten, die ja nicht mehr für alle begehbar sind, zu alledem zu sagen? Gibt es auch ohne Jesus Christus, ohne Buddha, Dharma und Sangha einen aufrechten Gang? Ein Dasein, das nicht auf Illusionen baut, aber doch auch den Bezug zu jener unbedingten Liebe – und sei sie noch so unnerreichbar – nicht einfach negiert?

Tja, jetzt steht sie da, diese Frage! Ich kann bis zu ihr vordringen, sie aber nicht beantworten. Sowieso bestünde eine Antwort nicht aus Worten, sondern das je eigene Leben von Augenblick zu Augenblick ist die Antwort – oder ein Versagen.

– – –

(erstveröffentlicht am 18.12.2002)

Diesem Blog per E-Mail folgen…