Claudia am 06. Februar 2007 —

Die Wahrheit vom gefühlten ICH

Nach acht Jahren Schreiben im Digital Diary zum ersten mal ein „Gesamtinhaltsverzeichnis“ vor Augen zu haben, mutet mich nun doch seltsam an. Ohne Aufwand kann ich mal eben nachsehen, was im Februar 2005 oder 1999 mein Thema war. Es ist, als schaute ich in eine neue Art Spiegel und fragte mich: bin ich das? Hat sich was verändert?? Und dann staune ich, dass sich so wenig verändert hat. Es wirkt, als wäre ich mit dieser Art zu schreiben geboren, ich sehe keine großen Unterschiede und finde das ein wenig erschreckend! Der Mensch muss sich doch verändern, entwickeln, wachsen – hab‘ ich da ein Defizit??

Eine blöde Frage, ich weiß! Dieses Diary war nie als Entwicklungsbericht gemeint, obwohl sporadische Versuche der Selbstverbesserung durchaus vorkommen. Ich wollte immer nur schreiben, was sich schreiben will: ohne Oberthema, ohne Absicht, ohne Ziel. Nun merke ich, wie viel unbewusste Formung und Absicht in diesem Schreiben doch enthalten ist und kann darüber nachsinnen, was das bedeutet.

Jahrelang haben mich Lothar Reschkes Logbuch-Einträge beeinflusst, deren Verschwinden aus dem Web nicht nur ich bedauere. Es war ein Einfluss, an dem entlang ich einerseits meinen Stil verbessern, andrerseits das Eigene finden konnte. Und ich hab‘ einiges gelernt über das Wesen des Literarischen, das umso herzergreifender wirkt, je mehr Leiden dem Autor als Ressource zur Verfügung steht. Womit ich auch gleich den größten Unterschied zwischen seinem und meinem Schreiben benannt habe: ich leide nicht so sehr – und wenn doch mal, dann bekenne ich mich klar dazu, dieses Leiden „nichten“ zu wollen: Erkennen ist gut, ändern ist besser!

Die eigene WAHRHEIT – und wie sie zustande kommt

Diese Grundeinstellung ergibt ein anderes Verhältnis zur „Wahrheit“, die für GLR den obersten Wert darstellt. Auch mir war immer wichtig, hier nie was vom Pferd zu erzählen, mich zu beweihräuchern, nur die guten Seiten darzustellen und das Versagen (z.B. die Unfähigkeit, nachhaltig mit dem Rauchen aufzuhören) zu unterschlagen. Doch habe ich bei der Selbstbeobachtung festgestellt, dass es eine feste Wahrheit über mich selbst gar nicht gibt. Wie ich die Dinge sehe, wie ich auf die eigenen Freuden und Leiden und „die Welt da draußen“ schaue, ist selbst ein Faktor, der Realität erschafft. Auch Denken ist ein Handeln, und so ist jede Beschreibung bereits von mir „gemacht“, auch wenn ich mich noch so sehr anstrenge, „ehrlich zu sein“.

Die Stabilisierung dieser Erkenntnis verdanke ich einem anderen großen Einfluss, den ich von Seiten eines Freundes erfuhr, der mir einige Jahre „Geliebter in der Ferne“ war: Erschaffe deine Welt bewusst, unbewusst tust du es sowieso – Tag für Tag, Augenblick um Augenblick!

Damit ist nicht gemeint, sich um „positives Denken“ zu bemühen, das auf ein bloßes Verdrängen des Leidens hinaus läuft. Es geht darum, sich darüber klar zu werden, wie die je eigene Realität eigentlich zustande kommt und daraus Konsequenzen zu ziehen. Zum Beispiel ist es ja so leicht, im Leiden zu kreisen, wenn ich einfach den Gedanken folge, die auftreten, wenn ich irgend einen Misstand (sei es im persönlichen Leben oder in der Gesellschaft) ins Auge fasse. Nie bleibt das beim bloßen Erkennen stehen, sondern ein Gedanke zieht den nächsten nach sich und locker kann man sich in üble Gefühle (Machtlosigkeit, Wut, Trauer) hinein steigern, die durch die Gedanken ausgelöst werden. Das Befinden verschlechtert sich, man bekommt ein „Opfer-Bewusstsein“ und idealisiert sich selbst zur Ausnahme, die selbstverständlich mit dem inkriminierten „Bösen“ nichts zu tun hat. Dem „Guten“ hat man allerdings durch diese innere Disziplinlosigkeit noch keinesfalls gedient! Im Gegenteil, man tauscht sich womöglich mit Anderen aus, suhlt sich in kommunikativ vermittelten Erregungszuständen, und trägt so dazu bei, dass die üblen Gefühle sich verbreiten und vermehren – ohne dass sich in der Sache irgend etwas ändert!

Die Zwiebel des Ich schälen

Meiner langjährigen Yoga-Praxis verdanke ich die Einsicht, wie automatenhaft und programmiert dieses Erleben von Wirklichkeit üblicherweise abläuft, das gleichzeitig ein „Erschaffen“ ist. Unserer Schau sind unter normalen Bedingungen drei Dimensionen des Erlebens zugänglich: Gefühle, Gedanken und sinnliche Empfindungen. Mit allen sind wir zunächst einigermaßen identifiziert, beziehen aus ihnen unser „Ich-Gefühl“: meine Gedanken, mein Körper, meine Gefühle – alles zusammen ergibt „meine Wahrheit“. (Mein Yoga-Lehrer sprach in diesem Zusammenhang immer von der „Zwiebel des Ich“, die wir schälen, ohne je einen „Kern“ aufzufinden – jegliche neue Selbsterkenntnis ist nur eine weitere Schale, die in einem nächsten Schritt auch wieder wegfällt.)

Diese „eigene Wahrheit“ vom gefühlten Ich erfährt nun im Lauf des Lebens einige Irritationen, die wir ernst nehmen oder auch ignorieren können. Die Identifikation mit dem Körper wird fraglich, wenn dieser auf einmal nicht mehr gehorcht, nicht mehr wie selbstverständlich unserem Willen zur Macht dient: Alter, Krankheit, Schwäche – bin das denn „ich“? Oder stößt mir das nur zu?

Etwas schwieriger ist es, die Identifikation mit dem Denken loszulassen – und doch: wer kann auf Dauer über die eigene Manipulierbarkeit hinweg sehen? Über Selbsttäuschungen im Dienste irgend einer aktuellen Gier, Abneigung oder Angst? Über nachträgliche Rationalisierungen und Rechtfertigungen irrationaler oder destruktiver Verhaltensweisen?? Über Denk-Gewohnheiten und Vorurteile, die aus der medialen Sphäre unhinterfragt übernommen wurden? Deprimierende Einsichten, die jedoch auch ermächtigen, das Denken als ein Phänomen zu begreifen, dessen Gestalt wir mitbestimmen können. Etwa, indem ich mir eine Sache von anderen Standpunkten aus betrachte und meine „ich-zentrierte“ Schau links liegen lasse. Wie ergeht es mir dann? Wie fühlt sich die Realität dann an? Was wird aus meiner Bewertung und wie verändern sich die Gefühle durch diese „andere Sicht“?

So bin ich halt?

Gefühle und sogar Emotionen sind für viele Menschen die letzte Bastion der Wahrheit: was ich fühle, ist authentisch, ist die Wahrheit! Zum Beispiel wird persönliche Liebe als nicht weiter hinterfragbarer Gefühlszustand betrachtet, der eben da ist oder nicht – 10.000 kitschige Schlagertexte besingen diese „Wahrheit“ und die Welt glaubt daran.

Auf den ersten Blick scheint diese Überbewertung der Gefühle nachvollziehbar, denn sie sind unserem DIREKTEN Zugriff entzogen. Ich kann nicht willentlich hassen oder lieben, Wut oder Behagen fühlen, wie ich etwa einen bestimmten Gedanken denken oder meinen Körper bewegen kann. Und doch – das zeigt die Lebenserfahrung und in verdichteter Form die Yoga-Praxis – sind Gefühle „machbar“: Ich kann sie durch meine Gedanken auslösen und verstärken und durch andere Gedanken wieder schwächen und vertreiben. Ebenso ist es möglich, sie über den Körper zu beeinflussen, denn jedes Gefühl ist irgendwo im Körper „verortet“ und hat eine materielle Entsprechung aus Körperspannung und Körperchemie. Wer bewusste Entspannung lernt, erlebt sehr bald, dass zum Beispiel Wut (und Ehrgeiz, Hass, Ärger..) eine Verspannung im Bauch und Solarplexus ist, die mittels Atmen und Entspannen sehr einfach losgelassen werden kann. Man muss es nur wollen – und wer einen entspannten Bauch als NORMALZUSTAND erfährt, wird das auch wollen, denn Wut, Hass und Ärger erscheinen dann als leidvolle Anstrengungen, die man schleunigst wieder neutralisiert.

Auch die Gefühlswelt entpuppt sich also als „bedingt“, massiv beeinflussbar durch Denken und Sinnlichkeit, durch äußere Reize und eigenes Wollen. Nichts „Originales“, gar Substanzielles, zu dem man mit Fug und Recht ICH sagen könnte – wir sehen nur Prozesse, in deren Verästelungen das Ich-Empfinden ein Stück weit hinein reicht und dann immer mehr verblasst, je weiter die Ursache-Wirkungskette von „uns“ weg führt.

Wille zur Macht?

Nach dieser Betrachtung drängt sich die Frage auf: Was bedeutet eigentlich „Identifikation“? Unter welchen Umständen empfinde ich das Ich-Gefühl und was führt dazu, dass ich es in Frage stelle??

Hier zeigt sich mir eine Janusköpfigkeit des Ich-Gefühls, die ich bisher nicht klären konnte. Einerseits erscheint nämlich all das als besonders durchdrungen vom Ich-Gefühl, wo ich persönliche Macht verspüre, etwas zu tun oder zu lassen, es so oder so zu gestalten. Ich kann jetzt vom Stuhl aufstehen und einen Spaziergang machen, das ist die banale Basis der Ich-Identifikation mit dem Körper. Das Ich wäre also „Wille zur Macht“ und wo ich keine Macht verspüre, empfinde ich das entsprechende Phänomen nicht mehr als Teil des Ich (verunfallte Menschen sagen ja: mein Körper gehorcht mir nicht mehr). Auch leblose Gegenstände können als Machtinstrument zum Ich-Bestandteil werden – wenn etwa der Autofahrer auf dem Weg zum Parkplatz sagt: „Ich steh‘ da gleich um die Ecke!“.

Entgegen dieser These weißt jedoch die beschriebene hohe Identifikation mit der Gefühlswelt darauf hin, dass gerade das (zunächst) nicht Machbare als das eigentlich „substanzielle Ich“ erfahren wird: Ich fühle so und kann nicht anders, so bin ich halt!

Wie seltsam! Wie widersprüchlich! Mein Verstand alleine scheint wenig ergiebig, wenn ich mit seiner Hilfe daran gehe, die Zwiebel zu schälen. Verlasse ich jedoch die reine Verstandesebene, kann ich höchstens noch erzählen, nicht aber begründen, definieren, analysieren. Kann berichten, dass ich seit gut 15 Jahren nicht mehr allein das als „ich selbst“ ansehe, was ich genau beschreiben und darstellen kann. Mein mehr oder weniger bewusstes Alltags-Ich mit seinen drei Erlebensdimensionen ist nur die (sprichwörtliche) Spitze eines Eisbergs, der sich komplett der rationalen Erkenntnis entzieht. Bezüglich dieses Eisbergs von „Macht“ zu sprechen wäre so, als wolle der Schwanz mit dem Hund wedeln.

Aber worüber man nicht sprechen kann, darüber soll man schweigen – und also belasse ich es für heute dabei!

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Diskussion

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12 Kommentare zu „Die Wahrheit vom gefühlten ICH“.

  1. Zunächst einmal: meine HP ist eine Dauerbaustelle. Sie wandelt sich immer mal wieder.
    Zum “Wer bin ich?” Soweit es sich mir offenbart hat, sollte man sich fragen:
    a)Will ich es wissen?
    b) Oder will ich es realisieren?
    Denn es gibt da einen gravierenden Unterschied: Das Wissen darüber ist vergänglich und wertlos im Endeffekt. Denn die Erkenntnis des “Wer bin ich?” als “Nicht-Ich”, das hilft nur um vom Ego, den sinnlischen (sinnlosen)Begierden Abstand nehmen zu können. Denn unser Denken funktioniert im Gewinn-Verlust-Modus. Aber die Realisierung findet ganz anders statt: Ohne denken. Ich habe schon oft gelesen und es selbst erlebt: Durch dieselbe Tür, durch die ich eintrat, trat ich auch wieder heraus. Oder: Ich muß schon wieder von vorn anfangen. Denn ich bin an einem Punkt angekommen, wo es nicht weitergeht. Und genau das ist der Punkt. Man hört nicht auf damit: zu denken, zu forschen im Ich-Illusions-Modus. Also bleibt nur eins, wenn man diesen Punkt erreicht, aufhören. Bis das funktioniert, dürfen wir weiter kreisen, denktechnisch gesehen.
    Das ist mein Eindruck im Moment dazu.

  2. @Manuela,

    danke für deinen Eindruck! Ich hab deinen Kommentar umgesetzt, denn er stand offensichtlich unter einem falschen Artikel, der mit dem Thema „Wer bin ich?“ gar nichts zu tun hatte!

    Nun zur Sache:

    Forschendes Denken findet nach meiner Erfahrung nicht grundsätzlich im Gewinn/Verlust-Modus statt. Was bedeutet es, wenn ich „ich“ sage? Woher kommt das Universum? Was ist Zeit? Das alles sind Fragen, die ein Interesse am Dasein ausdrücken, das von Zwecken frei ist – man will es einfach wissen, weil es noch nicht gewusst wird. Manche interessieren solche Fragen, andere nicht.

    Weiter schreibst du:

    „Zum “Wer bin ich?” Soweit es sich mir offenbart hat, sollte man sich fragen:
    a) Will ich es wissen?
    b) Oder will ich es realisieren?“

    Warum SOLLTE man? Und WER sollte? Meinst du MICH und willst mir einen anderen Umgang mit der Frage nahe legen?? Deine HP hab‘ ich kurz besucht, um einen Eindruck zu bekommen. Sie handelt leider nicht von DIR. Die zitierten Lehren hab‘ ich alle einst in Büchern gelesen, mir hat das FÜRS LEBEN nie viel gebracht. Deshalb beschränke ich mich beim Schreiben immer schon auf die eigene (und konkrete!) Sicht der Dinge. Mag diese auch total beschränkt sein, so wird doch klar, wo ICH stehe. Erleuchtete Weisheiten zu zitieren, würde mich von der eigenen Wahrheit nur ablenken und Illusionen nähren.

    Ich erwähne das nicht etwa, um DIR nahe zu legen, anderes zu schreiben, sondern erläutere nur, wo/warum ich da anecke! Deine Statements klingen wie zigtausendmal irgendwo gelesene Weisheiten, doch solange mir da kein konkreter Mensch seine persönliche Erfahrung mitteilt (wie ich es im Artikel tue), bleibt all das für mich HOHL. Auch Hoffnung und Erbauung kann HOHL sein!

    Zurück zu deiner Frage: Niemals im Leben hab ich mich gefragt, ob ich das Ich/Ich selbst „realisieren will“. Das ist schon eine derart von Bücherwissen abgeleitete Frage, dass ich mit ihr nichts anfangen kann. Mein Anschauungsmateriel bin „ich selbst“ in der täglichen/alltäglichen Realisierung – ja was denn sonst? Ich denke nicht in Kategorien wie „wenn ich GUTES tue, realisiere ich mein ‚höheres Selbst‘ und wenn nicht, verfalle ich „sinnlich(sinnlosen) Begierden“.

    Das alles ist für mich angelesene Schizophrenie, die vom Blick auf das, was der Fall ist, ablenkt. Die „Ich-Identifikation“, von der ich im Artikel spreche, ist etwas völlig anderes als dein „Ego“, das du scheinbar mit diesen sinnlich-sinnlosen Begierden in eins setzt. Ich spreche vom natürlichen Ich-Gefühl, über dessen Vorhandensein oder Nichtvorhandensein man mit jedem Penner ins Gespräch kommen könnte, vorausgesetzt, man erwischt eine nüchterne Stunde! Denn dafür muss man keine spirituellen oder psychologischen Gedankengebäude studiert haben, von denen dein Statement nur so strotzt. Wie kommst du denn ganz persönlich dazu, sinnliche Begierden als „sinnlos“ zu bezeichnen und davon loskommen zu wollen? Sexualität zum Beispiel ist wahrlich nicht SINNLOS, sondern dient dem Schöpfungsgeschäft in diesem Leben. Und in einer Kultur, die mehr kennt als Fortpflanzung, ist es die Aufgabe eines jeden Individuums, den Freuden der Sexualität einen anderen/eigenen SINN zu geben: z.B. das Leben feiern, Kommunikation mit dem Geliebten, zweckfreies Spielen und manches mehr.
    Das „Ego“, das du meinst, kommt erst dann ins Spiel, wenn ich mich einmische und Sex auf bestimmte Art HABEN will – und nicht einfach geschehen lassen kann. „Ich-Identifikation“ in meinem Sinn erkennt den Trieb bei genauem Hinsehen als „nicht Ich“, denn ich MACHE das Verlangen ja nicht, das mich gelegentlich ergreift.

    Der WERT solchen Erkennens und weiterer Schlussfolgerungen liegt IN DIESEM LEBEN und es ist recht unwichtig, dass es zusammen mit mir vergeht!

    Danke, dass du mich so wunderbar inspiriert hast! :-))

    Lieben Gruß

    Claudia

  3. Schall und Rauch ist es also, dieses verabsolutierte, isolierte, substanzialisierte Ich, Pudels ähm Zwiebels Kern. Wer hätt’s gedacht. Vielleicht hätte man ja einfach mal früher nachfragen können wie jenes „Erkenne dich selbst!“, das da über dem Eingang zum Apollon-Tempel in Delphi geschrieben stand, gemeint war und das so viele schlechte Philologen irregeführt hat. Aber sei’s drum. Und was folgt nun daraus? Nix? Schweigen? D.h. weiter wie gehabt, nur halt ohne Textbegleitung? Da bist Du immer noch über die Schale derselben Zwiebel immer noch nicht hinausgekommen, aber wie immer sehr zeitgemäß….

  4. Wenn du glaubst, die großen Fragen der Menschen (woher? wohin? wozu? Wer bin ich?) dienten irgendwelchen Zwecken, bist du selbst so weit entfernt von solchen Fragen, dass es keinen Sinn hat, wenn ich dir dazu mehr sage. Es handelt sich auch nicht um ein Verstandeswissen, das man nur irgendwo nachlesen und begreifen muss, um dann womöglich „etwas damit anzufangen“ oder etwas daraus zu folgern. „Wer bin ich?“ entzieht sich jeglicher Vernutzung, doch verändert es diejenige, die von der Frage ergriffen wird. Die Antwort ist jeweils das Leben selbst – und das ist bekanntlich in den Sand geschrieben, also auch nichts Festes.

  5. Nu mal sachte, wer hat denn was von Zweck gesagt? Von Nutzen? Wenn es dieses Ich, der Zwiebel Kern nicht gibt, dann hat auch die Frage danach keinen Sinn und wird auch niemand verändern. Und nur nach dieser Veränderung, von der du selbst sprichst, habe ich gefragt, die ja vielleicht aus der Einsicht erfolgen könnte, das in der Zwiebel nix drin ist. War ja nur gefragt.

    Aber wenn natürlich alles fließt und man erst dieses Dogma gefressen haben muss, um im Tempel der Weisheit vorgelassen zu werden, dann hat natürlich auch diese Frage keinen Sinn, dann leben wir halt, Tusch und Blasmusik!

  6. Die Frage danach hat erst dann Sinn, wenn sie sich persönlich stellt. Wenn man selbst auf einmal wirklich daran interessiert ist, was diese Ich-Identifikation eigentlich ausmacht – und dann alles, was so „ich-verdächtig“ ist, mal genauer untersucht.. siehe Artikel. Wie man dabei ins Schwimmen kommt, wie auf einmal klar wird, dass der Intellekt bei weitem nicht „alles“ (=????) umfasst… denn ich kann mir das ja alles klar machen, wache aber doch wieder mit dem „Ich-Gefühl“ auf, bzw. klebe weiter am Überleben, meide Leiden, suche Freude… – doch halt, nicht mehr ganz so verbissen! Je öfter mich die Frage berührt, umso mehr ich mich auf sie einlasse, desto gelassener werde ich, desto mehr erkenne ich, dass alles-was-ist nur ein vielfältig vernetzter, sich nach allen Richtungen ausdehnender Ursache-Wirkungszusammenhang ist, in den „mein“ Gewahrsein ein Stück weit hinein reicht, soweit Sinne und Gedächtnis halt gerade reichen.
    „Dogmas“ haben auf diesem Gebiet echt gar nichts verloren! Suchendes/fragendes/forschendes Betrachten ist nicht möglich, wenn man bereits zu wissen glaubt oder gar „was beweisen“ will.

  7. Wie soll man die Frage persönlich stellen, wenn das Persönliche im allgemeinen Fluss verschwimmt? Wo kein Ich, da auch keine persönlichen Fragen, bestenfalls als momentanes Aufblitzen und Wieder-Versinken. Der Ursache-Wirkungs-Zusammenhang ist noch viel zu viel Ordnung, das ist ja eine eindeutige Folge, erst A, dann B, auch der muss noch im Fluss der Relativitäten, in allseitiger Wechselwirkung, wo alles gleichermaßen Ursache wie Wirkung Anfang wie Ende, ist, untergehen. Und „mein Gewahrsein“ muss du auflösen in das Gewahrsein jetzt, dann das nächste, diese Empfindung und jenes Gefühl, ohne alle Substanz, die das trägt, bzw. lauter momentane Punkte für sich; so wie die Einheit des Blogs sich auflöst in eine bunte Zettelwirtschaft mit momentanen Stimmungsbildern, aber ohne jede Bedeutung über den Augenblick hinaus, zufällig wie ein Wellenschlag im ewigen Fluss der Zeit.

    Trotz alledem willst du immer noch krampfhaft an deiner Identität festhalten, an „deiner“ Freude, „deinem“ Gedächtnis, „deiner“ Freiheit, und wenn schon nicht als denkendes Ich, so doch wenigstens als Lebendiges? Du könntest aber natürlich auch ernst machen mit der Versenkung in der Weisheit der Inder, nach der alles Maya ist, die Welt, das Bewusstsein, der Verstand, Atman, das Ich, und auch und vor allem – das Leben (der Vitalismus ist eine Spätform der Aufklärung, 19./20. Jhdt, nicht ihr Gegenteil, am Ende noch nur etwas unappetitlicher). Aber eben diese Versenkung ist letztlich nichts anderes als die Versenkung in der Substanz, im All-Einen, und wenn das Ich auch keinen positiven Inhalt mehr hat, so doch noch den negativen, nicht wahr, – nämlich aufzustampfen und genau diese Ergebung (=“Islam“) nicht zu wollen. Und so gehen denn die beiden Motive bunt durcheinander, mal das eine, mal das andere angezogen, je nach momentaner Brauchbarkeit, aber ohne Einheit, ohne Zusammenhang, nur äußerlich zusammengestellt, und im tiefsten Grunde spinnefeind gegeneinander (was in den fernöstlichen Varianten verdeckt ist, weshalb sich Yoga auch so einer Popularität bei im Grunde durchaus westlich orientierten Zeitgenossen erfreut) – womit auch Gelassenheit letzlich keine adäquate Antwort ist.

    Und eben dies ist der geistige Grundzustand der heutigen Welt, in nuce, wie ich ihn sehe, der Dualismus, der der Untergang des Abendlandes ist, gewesen ist…

  8. „Und so gehen denn die beiden Motive bunt durcheinander, mal das eine, mal das andere angezogen, je nach momentaner Brauchbarkeit, aber ohne Einheit, ohne Zusammenhang, nur äußerlich zusammengestellt, und im tiefsten Grunde spinnefeind gegeneinander“

    Oje – keine Einheit, kein Zusammenhang, aber: im tiefsten Grunde spinnefeind?

    Stolpern wir heute flüssig?

    Dunkel war’s der Mond schien helle
    als ein Wagen blitzeschnelle
    langsam um die Ecke bog
    Drinnen saßen stehend Leute
    schweigend ins Gespräch vertieft
    als ein totgeschossener Hase
    auf der Sandbank Schlittschuh lief.

    Hat mir mein großer Bruder beigebracht, voller Liebe – wie sie nur große Brüder aufbringen können. (kleine Schwestern wissen, was ich meine) Weiß ich also noch heute.

    Was für eine Blase!

  9. SuMuze, ich verstehe ja wirklich nicht, wo du da den Widerspruch sehen willst. Formulierungen kann man natürlich immer verbessern; setz vor den „Zusammenhang“ noch ein „erkennbar“, dann sollte alles klar sein. Z.B. die CDU hat sich immer als Hüterin traditioneller Werte, von Ehe und Familie, und als wirtschaftsliberal gleichzeitig geriert; ein Zusammenhang war da nicht zu erkennen, es war halt äußerlich zusammengestellt, so wie Laptop und Lederhose; was nicht gehindert hat, dass man die Formel tausendmal heruntergebetet hat, ohne sich groß was dabei zu denken. Und heute tritt es an den verschiedensten Stellen zu Tage, dass beides im Grunde spinnefeind gegeneinander ist, das man das eine nur haben kann ohne das andere, außer natürlich dem bloßen Wort nach, in der entsprechenden Umdeutung. – Auch das eben ein Beispiel, wie sie abendländische Einheit von Tradition und Fortschritt, von Familie und bürgerlicher Gesellschaft, die längst nur noch in Worten dasteht, in feindliche Extreme zersetzt, so sehr mittlerweile, dass selbst die Formelkompromisse es nicht mehr verdecken können.

  10. @Kassandra: aber wenn du „erkennbar“ vor Zusammenhang (und dann konsequenterweise ja wohl auch vor die anderen) setzt, hast du eine ganz andere Aussage:
    „Und so gehen denn die beiden Motive bunt durcheinander, mal das eine, mal das andere angezogen, je nach momentaner Brauchbarkeit, aber ohne [erkennbare] Einheit, ohne [erkennbaren] Zusammenhang, nur äußerlich [erkennbar] zusammengestellt, und im tiefsten Grunde spinnefeind gegeneinander“, denn du nimmst doch das, was du damit vor der Hinzufügung behaupten wolltest, wieder zurück.

    Da verstehe ich dich jetzt einfach nicht! (Das kann aber auch gut an mir liegen, denn wie ich oben auf dieses dumme Gedicht gekommen bin, ist mit jetzt auch nicht mehr so ganz geläufig. Aber ich finde es dennoch ganz witzig..)

    Und zwischen traditionellen Werten („Ehe und Familie“) und wirtschaftsliberal sehe ich schon innere Zusammenhänge. Schauen wir mal wie die Pflege alter Menschen in den nächsten Jahren politisch gewollt ist. Es feiert die klassiche Familie vielleicht fröhliche Auferstehung auf der Ruine menschenwürdiger Altenpflege durch anständig bezahlte Fachkräfte.

  11. @Kassandra:

    du fragst „Wie soll man die Frage persönlich stellen, wenn das Persönliche im allgemeinen Fluss verschwimmt? Wo kein Ich, da auch keine persönlichen Fragen, bestenfalls als momentanes Aufblitzen und Wieder-Versinken.“

    Das empfinde ich als „dem Verstand aufsitzen“. Du siehst meine Beschreibung versuchsweise als wahr an (danke für den guten Willen! Mein ich ernst.), und SCHLIESST dann logisch daraus, dass es unter diesen Bedingungen gar keine persönliche Frage nach dem Ich geben kann. Aber genausogut könntest du sagen: Wo kein Ich, da auch kein persönliches Miete-zahlen…. du verstehst, was ich meine???

    Die Frage stellt sich (mir!) persönlich an ganz verschiedenen Stellen, die gewiss bei jedem anders sind. Zum Beispiel auch da, wo ich erkenne, dass es keinen Ausgang aus der Dualität“ gibt, dass es absurd ist, fortwährend nach Freude zu streben und Leiden zu meiden, wenn auf einmal klar ist (auch von Gefühl her), dass es gar nicht möglich ist, Lust und Freude ohne ihr Gegenteil zu erleben? WER bin ich also? Die, die in besagtem Laufrad strampelt oder die, die das erkennt? Was FOLGT aus diesem Erkennen?? Was bleibt übrig, wenn ich meine Motive (egal jetzt welche) komplett durchschaue und sehe, dass da nur ein Programm abläuft, das niemals irgend einen „Erfolg“ haben wird – außer eben dann, wenn allerlei Scheuklappen aufgesetzt werden, damit das kalte Licht des Erkennens nicht jegliche Motivation zerschlägt?

    „Und “mein Gewahrsein” muss du auflösen in das Gewahrsein jetzt, dann das nächste, diese Empfindung und jenes Gefühl, ohne alle Substanz, die das trägt, bzw. lauter momentane Punkte für sich; so wie die Einheit des Blogs sich auflöst in eine bunte Zettelwirtschaft mit momentanen Stimmungsbildern, aber ohne jede Bedeutung über den Augenblick hinaus, zufällig wie ein Wellenschlag im ewigen Fluss der Zeit.“

    Wie du weißt, kann ein Schmetterlingsflügel einen Orkan auslösen (worum es mir aber nicht geht) – und all die Momente des Gewahrseins und alles andere, was geschieht, ist jeweils Ergebnis und Ursache in einem komplexen, nach allen Seiten sich verzweigenden Ursache-Wirkungs-Zusammenhang. In den „ich“ eben nur ein Stück weit hinein sehe und hinein agiere – mehr oder weniger bewusst.
    Dass das Diary hier Bedeutung über den Augenblick hinaus hat, zeigt allein schon unser angenehm entschleunigtes und anspruchsvolles Gespräch – MIR bedeutet das was und ich weiß, dass auch andere genau wegen DIESER Qualität hier vorbei kommen. Ich habe es aber nicht GEMACHT, geplant, gewollt – mir reichen Stimmungsbilder und Zettelkästen durchaus. Nur muss auch was drin stehen, das das Nach-Denken (und auch Nach-Spüren) lohnt! Mich würde z.B. mal DEINE Beschreibung der Ich-Identität interessieren…

    Von „Maya“ gibst übrigens auch moderne Interpretationen – angefangen bei Kant (das Ding an sich ist unerkennbar) hin zu postmaterialistischen Physik, in der sich die Substanz komplett auflöst. Das Welt-abgewandte Sich-versenken war nie mein Fall, auch nicht der meines Yoga-Lehrers, der vom ZEN inspiriert war – aus dieser Sicht quatschen wir hier schon viel zu lange und viel zu theoretisch hochgestochen! :-)

    Was das Aufgehen im All-Einen angeht, halte ich es mit RAM DASS, ein recht bekannter Spiritueller aus den USA, der sagte: „Ich will nicht Zucker SEIN, ich will Zucker ESSEN!“ So ehrlich sollte man bleiben, find ich, solange man noch nicht daran genüge hat, vor einer Wand zu sitzen und zu meditieren. (Und ich kenn niemanden, dem das gereicht hat! Sie stehen alle auf und beginnen, zu lehren…)

    Dass das Abendland untergeht, sehe ich noch nicht. Im Gegenteil, das Europäische „sowohl – als auch“ hat gute Chancen, Vorbild für viele andere Weltgegenden zu werden. Fundamentalismen aller Art sind es doch eher, die den Unfrieden in die Welt bringen.

    Beste Grüße

    Claudia

  12. voll so …