Claudia am 11. September 2002 — Kommentare deaktiviert für September eleven

September eleven

September eleven

Es ist kurz nach zehn und ich fühl mich so wohlig weh. Traurig, angerührt, erschüttert und voller Sympathie für die Amerikaner. Der Feuerwehrmannfilm zum 11.September, der soeben in 145 Ländern gleichzeitig gezeigt wurde, hat mich gefühlsmäßig voll erwischt. (Ganz so, wie es wohl auch gedacht war). Selbst ein Jahr danach noch sind die einstürzenden Türme des World Trade Center und das, was da angerichtet wurde, weit furchtbarer, katastrophaler, grausiger als alles, was man sonst so mitbekommt: Überschwemmungen, große Flut, Sturmkatastrophen, Kriege hier und dort, das ganze Elend eben. all das berührt mich auch, das eine weniger, das andere mehr – aber über alledem gibt es ein ganz einzigartiges Gefühl des Grauens, ein ganz besonderes WTC-Entsetzen: diese aufschlagenden Körper der Menschen, die gesprungen sind! Die ganze Situation in den oberen Stockwerken, all die letzten Telefongespräche – mein Gott, wie kann man nur „danach“ noch ein Hochhaus bauen, planen, bewohnen oder darin arbeiten???

Es wird nichts mehr so sein, wie zuvor, sagten alle vor einem Jahr. Und es wird doch immer wieder ganz genau so. Nach jeder Katastrophe kehrt die Ignoranz zurück, die Herzen erkalten und jeder kümmert sich wieder nur um sich selbst. Zwischen Stress und Spaß das große Gähnen, sofern nicht die angst die Laune verdirbt: angst um den arbeitsplatz, angst vor armut, Krankheit und alter, angst, nicht mehr stark, gesund und reich genug zu sein, um uns auch weiterhin um uns selber kümmern zu können. Nicht zu vergessen die angst vor dem anderen, der immer erfolgreicher, besser, schneller und auch noch erotischer ist. Zu guter letzt die große angst vor dem Tod, weil wir nichts mehr wünschen, als dass dieses Leben immer so weiter geht. Man gönnt sich ja sonst nichts.

Einzig nach einer Katastrophe erwachen wir für kurze Zeit aus der gewöhnlichen Verblendung und schnuppern einen Hauch Wirklichkeit. Wie Leben sein kann, wenn man die Probleme gemeinsam anpackt, wenn jeder jedem hilft, „ohne Ansehung der Person“ – nur, weil es auch ein Mensch ist. Inmitten großer Gefahr wird auf einmal klar, wie schön das Leben ist, wie gut es ist, zu atmen und in die Sonne zu sehen. Alles, was man da durch Karriere, Erfolg oder Selbstinszenierung noch dazugewinnen und draufpacken kann, ist vergleichsweise Pipifax! also verblassen die kleinen und großen Unterschiede zu Fußnoten einer faszinierenden Geschichte – einer Geschichte, die immer von Helden handelt, obwohl sie „nichts besonderes“ taten – wie eben diese Feuerwehrmänner am 11.September. Nur das, was jeder Mensch in derselben Situation auch getan hätte – ja doch, wir kennen den Spruch!

aber, und das ist das Problem, wann sind wir schon mal Mensch?

Immerhin haben wir jetzt einen neuen Gedenktag: September Eleven, der erste globale Volkstrauertag. Nicht überall in der Welt wird er im gleichen Geiste begangen, aber auch nicht ignoriert. Da es in der Welt vor allem an gemeinsamen Erlebnissen mangelt, die ins Erleben von Gemeinsamkeit und Gemeinschaft umschlagen können, ist der 11.September, wie er heute – und vermutlich auch in Zukunft – rund um den Globus multimedial zelebriert wird, vielleicht ganz gut. Gut zum Herz-Erweichen – und das hätten wir ja wirklich nötig!

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Claudia am 04. September 2002 — Kommentare deaktiviert für Veränderungen tun weh, Veränderungen tun gut!

Veränderungen tun weh, Veränderungen tun gut!

In Berlin ist die Abstimmung über den neuen Bahnhof verlängert worden: „Zentralbahnhof“, „Berlin Mitte“ oder „Lehrter Bahnhof“ stehen zur Wahl. Der alte Bahnhof an gleicher Stelle hieß immer schon Lehrter Bahnhof – und soweit ich das beobachte, meint eine große Mehrzahl der Berliner, das solle auch so bleiben.. Die Lehrter natürlich auch. Das neue, durchaus attraktive Ungetüm aus Stahl und Glas soll allerdings nach dem Willen der Politiker einen „wichtigeren“ Namen bekommen – was ist schon Lehrte? Ein kleiner Ort in der Nähe von Hannover.

Es kann trotzdem gut sein, dass „Lehrter Bahnhof“ die Abstimmung gewinnt. Schließlich ist sie allein deshalb verlängert worden, weil dieser alte Name bisher in Führung liegt, zum Ärger des Stadtentwicklungssenators. Vielleicht mobilisieren jetzt beide Seiten mehr Postkartenschreiber – ich glaube, der „Lehrter“ wird bleiben, zumindest als Name.

Warum sind die Berliner nur so sperrig? Ist es nicht einsehbar, dass für so ein völlig neu in die neue Mitte Berlins gesetzes neues Bahnhofsgebäude auch ein neuer Name her muß? Ich glaube, der Kampf für den „Lehrter Bahnhof“ ist eine Demonstration, Ausdruck einer Verärgerung, die ungefähr sagen will: Könnt Ihr nicht wenigstens diese paar Buchstaben so lassen, wie sie sind? Die ganze Mitte ist neu, in der Luisenstadt findet man sich nicht mehr durch, die jahrzehntelangen Baustellen werden als „Schaustelle“ ins Kulturleben integriert – es ist einfach verdammt anstrengend, wenn man hier wohnt. Warum zusätzlich noch neue Namen lernen?

Neues strengt an, Neues tut weh, aber ohne Veränderungen langweilen wir uns zu Tode. Leben ist alles andere als vernünftig und wenn ich heute eine Rede gegen die Kreativität halte, einen der antriebe für Veränderung, so fühl‘ ich mich wenige Tage später eher zu einem Loblied aufgelegt, ja, denke womöglich: es geht schon verdammt langsam und allzu gemütlich voran in deutschen Landen!

Ersticken wir nicht unter allzu vielen Vorschriften? Hat nicht jede Interessengruppe ihren Way of Life & Making Money abgesichert bis zum geht nicht mehr? Ist nicht die Krise, die die Arbeitslosenzahlen ins Astronomische treibt, in vieler Hinsicht eine Folge von Verweigerungshaltungen? Ich spreche nicht von schlecht oder gar nicht ausgebildeten Arbeitslosen, die man für schlecht bezahlte Jobs künftig ans andere Ende der Republik hetzen will! – sondern von der Unbeweglichkeit derjenigen, denen es eigentlich ganz gut geht. Man denke nur als Beispiel an die Apotheker, wie sie gleich einen Aufstand inszenieren, weil in ihrem Sektor der Versandhandel zugelassen werden soll. Oder an die Tastsache, dass hierzulande einer, der eine Festplatte ersetzt, einen Meisterbrief braucht.

Im wilden F’Hain

Ich mach‘ lieber nicht weiter mit solchen Beispielen, das kann man schließlich alles in den Zeitungen lesen. Nicht dort zu lesen ist, dass die Lebendigkeit des Stadtteils, in dem ich lebe, zum großen Teil davon herrührt, dass sich Menschen kreativ über Vorschriften hinweg setzen – junge zumeist, aber auch ein paar Ältere, die extra „zugewandert“ sind. Neues macht Freude, Neues tut gut! Zwischen den Gründerzeitfassaden von Berlin Friedrichshain gibt es jede Menge Neues: selbst zusammen geschweißte Balkone, die die Welt noch nicht gesehen hat, Läden, die bis ein Uhr Nachts geöffnet haben, denn sie sind ja auch ein „Imbiß“, ein ehemaliges Reichsbahnausbesserungswerk, das jetzt als RAW-Tempel vielen Künstlern und Bastlern riesige Freiräume bietet: viel viel Platz, ungeregelt, ungestaltet, unbeaufsichtigt – und natürlich die Szene-Kiez-übliche Fassadengestaltung, meist recht öde Grafitti, die ich mich nicht scheue, Schmierereien zu nennen, aber auch wundervoll bemalte Fassaden, geheimnisvolle Schablonen-Sprühereien auf den Fußwegen, unglaublich verrückte Läden und auch die Leute selber sehen nicht unbedingt stromlinienförmig aus, manche sind echte Hingucker!

Abends sammeln sich Menschen wie Schwalben auf den Stahlkonstruktionen der noch im Bau befindlichen Modersohnbrücke (verboten!). Von da aus hat man einen weiten Blick über ein schier unendliches Gewirr aus S- und Fernbahn-Geleisen, dahinter die in dramatische Sonnenuntergangsbeleuchtung getauchte Skyline des neuen Berlins, Oberbaumbrücke, Funkturm, Alexander Platz. Wunderschön! Nach zwei Jahren Mecklenburg wäre es für mich schwer gewesen, in einem Häusermeer ohne Ausblick zu leben, immer nur an die Wand gegenüber starrend. Hier werde ich aufs Beste mit „offener Weite“ bedient, aber nicht genug: ein paar Schritte noch und bin ich an der Spree, muss also nicht mal Wasserlandschaften entbehren.

Erstarren ist so leicht

Jetzt bin ich ins Schwärmen gekommen und weg von meinem Thema, den Leiden und Freuden der Veränderung. Nochmal dahin zurück: Seit zwei Wochen mach‘ ich Telefondienst im Verein der Freunde alter Menschen, telefoniere Montags mit Menschen jenseits der Verfassung, in der man sie „rüstige Senioren“ nennt. Mir fällt dabei auf, wie unglaublich lang einige in ihren Wohnungen leben! Eine 75-Jährige erzählt mir, sie lebe in der „elterlichen Wohnung“, eine andere wohnt in einem „Neubau“ von 1961, wo sie zu den ersten Mietern gehörte. Unglaublich, dieses selbstverständliche Beharren auf dem, was man hat, was man kennt, wo man immer schon ist – ein Verhalten, das zur heutigen Zeit nicht mehr paßt und das auch vielen alten zum Verhängnis wird: sie leiden unendlich, wenn sie – warum auch immer – aus ihren gewohnten Umgebungen gerissen werden.

Viele können irgendwann nicht mehr laufen, für sie wird ihre Wohnung im Berliner Altbau zur Falle, die sie praktisch niemals mehr verlassen. Sie werden dort, solange es geht, gepflegt, und daneben steht jede zweite Erdgeschoßwohnung im selben Stadtteil leer. Würde man als alter Mensch rechtzeitig der Erde näher kommen, dafür auch Umzug und Veränderungen in Kauf nehmen, könnte man sich sehr viel besser die Restbeweglichkeit erhalten, sich länger selber versorgen und sogar noch am öffentlichen Leben teilnehmen. Warum ist das nicht so? Weil die, die HEUTE so alt sind, Veränderungen vermieden haben! Weil sie erstarrt sind, weil sie ganz selbstverständlich ihre Eigenheiten immer eigener haben werden lassen, sich selbst nicht in Frage stellend.

Recht haben – sofern es das überhaupt gibt – wird mit zunehmendem Alter unwichtiger, das ist mein Fazit. Denn auf Recht haben (zum Beispiel mit einer Klage, einer Kritik, einer Polemik etc., aber auch im Sinne „ein Recht haben auf…“) folgt SO-Bleiben, folgt Beharren und Erstarren, folgt der Verlust der Fähigkeit, mit Neuem innerlich zurecht zu kommen – und deshalb sehen viele Alte so verbittert aus. Und das bei einem Rentensystem, das diejenigen, die heute alt sind, doch noch ganz gut bedient!

WIR werden es weniger gut haben! Bleiben wir also biegsam, rasten wir besser nicht ein auf EINE Sicht der Dinge, üben wir Körper und Geist im kreativen Umgang mit Veränderung – wenn nicht’s anderes übrig bleibt, ist es immer besser, man hat Spaß an dem, was ist.

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Claudia am 02. September 2002 — Kommentare deaktiviert für Routine und Gewohnheit – Mangel und Fülle

Routine und Gewohnheit – Mangel und Fülle

„Zwei Wochen weg von allem, das kann ich mir gar nicht mehr vorstellen!“ Ich sage es so dahin, als sie mir von ihrem Urlaub auf Gomera erzählt, höre mich diesen so selbstverständlich klingenden Satz sagen und wundere mich. Was ist dieses „alles“, von dem ich nicht weg will, das mich hält, fasziniert, mir das Gefühl gibt, „am Ball“ zu sein? Zwei ganze Wochen nur Sonne, Meer, Wind, Natur – wär‘ das denn nicht wunderbar? Im Geiste bin ich dort, sehe mich barfuß am Strand, sehe mich über Felsen klettern, den herben Duft südlicher Gewächse atmen, den weiten Blick genießen, der ein Gefühl von Zeitlosigkeit vermittelt: vor einer Million Jahre sah es auch schon nicht anders aus, ewig brechen sich die Wellen, wirbeln Gischt auf, verlaufen und versickern auf dem Sand – was ist Zeit?

„Ich würde in ein Internet-Café gehen“, sag ich zu ihr, bin im Geiste am Ende meiner Wanderung angekommen, hab‘ im Hotel geduscht, das Salz von der Haut gewaschen, mir frische Sachen angezogen und fühle Tatendrang. „Da war ich,“ sagt sie, „zehn Minuten kosten drei Euro. Es ist unglaublich teuer!“.

Der Flug, so hat sie mir erzählt, kostet fast nichts. Ich fliege nicht, also bekomme ich die allgemeine Entwicklung der Flugpreise hin zum Taxi-Tarif nur am Rande mit. Was ich nicht benutze, bedeutet mir nichts, selbst wenn es kostenlos ist. Aber wieder wundere ich mich: Die physische Bewegung durch weite Räume wird immer billiger, und doch zieht es mich überhaupt nicht weg! Das Gefühl, anderswo sein zu wollen, kenne ich kaum noch, erinnere mich nur dunkel, dass es früher immer wieder mal aufkam – doch eigentlich nicht als Verlangen nach Erholung, es war pure Unzufriedenheit mit dem, was gerade ist. Langeweile, Sehnsucht nach Abwechslung, nach neuen, ganz anderen Erfahrungen, nach einem Bruch der Routinen und Gewohnheiten, in denen mein Alltag kreiste.

Lob der Routine

Auch jetzt kenne ich Routinen, doch anders als früher schätze und pflege ich sie. Jeden Sonntag besuche ich M., meinen Ex-Lebensgefährten. Wir gehen spazieren, er kocht, wir essen und plaudern, setzen uns dann vor die Glotze: Lindenstraße, Weltspiegel, Tagesschau, Tatort, Sabine Christiansen – jeden Sonntag dasselbe, ich kann mich richtig aufregen, wenn irgend ein blödes Sportereignis die Gewohnheit durchbricht. Andere Routinen sind nicht so leicht zu haben, ich muss regelrecht um sie kämpfen: zum Beispiel die Mittagspause. Immer noch ist die mal um zwölf, mal erst um zwei. Manchmal koch‘ ich mir was, meistens tun es ein paar Brote, beim Essen lese ich die Tageszeitung, genieße das provinzielle Wir-Gefühl, das aus dem Lokalteil der Berliner Zeitung dräut, genieße auch, dass mir nicht mehr das geringste schlechte Gewissen den Appetit verdirbt, verstoße ich doch regelmäßig gegen das spirituell korrekte „Wenn ich esse, dann esse ich“. Ha! Wenn ich esse, esse ich nicht nur, sondern lese auch Berliner Zeitung! So what?

Routinen und Gewohnheiten lassen sich erst dann in ihrer wohltuenden Wirkung richtig schätzen, wenn es die eigenen sind. Solange ich noch danach strebte, in all meinem Tun und Denken irgendwelchen Idealen nahe zu kommen, höchsten Werten zu genügen, wunderbaren Utopien am eigenen Leib zum Durchbruch zu verhelfen – solange war mir im Grunde alles mühsam, sperrig, widersprüchlich bis hin zum Stress. So entstandene Routinen sind dann nur einzwängende Schubladen, in die man sich selber gesteckt hat, um die Weltrettung oder die ganz persönliche Gesundung voran zu treiben. Alles andere als nachhaltig, immer prekär, immer in Gefahr, plötzlich in irgend einen Exzess zu explodieren, in dem sich das Verdrängte, nicht gelebte zum Ausdruck bringt, dabei alle Gewohnheit und Routine, aber auch Wachheit und Wohlbefinden in den Abgrund reißend.

Vorbei. Keine Lust auf Urlaub, keine Neigung zu Exzessen, keine Sehnsucht nach dem ganz Anderen – was sollte das auch sein? Ich wüsste nicht, von was ich mich noch befreien sollte, und es gibt auch nichts, was ich unbedingt HABEN muss. Manchmal, in psychophysisch bedingt schlechten Momenten, deren Entstehen ich meist sehr gut herleiten kann, ist da ein Erschrecken vor der Leere: Und jetzt? Was soll ich denn nun machen? Wenn mir nichts fehlt, wonach soll ich streben? Wo bitte ist der Kick? In solchen Augenblicken sind Routinen wunderbar, bieten sie doch die Möglichkeit, sich von derart nutzlosen Gedanken einfach abzuwenden. Nicht abzulenken, sondern bewusst abzuwenden. Tomaten klein schneiden, Salz, Pfeffer, Olivenöl, beiläufig die Krümel auf dem Kühlschrank und die Reste der übergelaufenen Milch auf dem Herd wegputzen – locker lässt sich so ein philosophisch daher kommendes, mentales Tief umschiffen, das vielleicht vom zu späten Essen am Vorabend rührt, oder einfach im allgemeinen Beharrungsvermögen der Psyche gründet, die ihrerseits gern alte Gewohnheiten festhält.

Speziell die Gewohnheit, aus einem vermeintlichen Mangel heraus zu denken, zu fühlen und zu handeln, ist nicht ganz einfach abzulegen. Selbst dann nicht, wenn klar ist, dass das „Konzept des Mangels“ ein Konstrukt ist, keine Wirklichkeit. Die spezifische Verengung des Bewusstseins, die auftritt, wenn etwas Erwartetes nicht „wie erwartet“ geschieht, lässt regelmäßig vergessen, dass erst die Erwartung das Mangelgefühl erzeugt, an dem dann gelitten wird. Wünsche, die einfach „ein-fallen“, sind so ungesund wie leerer Zucker und Weißmehl, denn sie vernebeln den Geist, der nicht mehr wirklich hinsieht, was geschieht. Ihnen aufzusitzen heißt, nach einer selbst erdachten Konkretisierung zu streben, Scheuklappen aufzusetzen und das ganz Bestimmte zu suchen, das scheinbar einzig und allein jetzt den Mangel zu beheben vermag – eine leidbringende Illusion!

Aber…

Himmel noch mal, wenn ich mich jetzt so lese, fällt mir auf, dass ich ungefähr dieselben Gedanken schon vor zwanzig, dreißig Jahren in allerlei erbaulichen Büchern fand. Sie stapelten sich bei mir, ich las immer gleich mehrere auf einmal, schwankend zwischen einem heftigen, aber nicht konkretisierbaren Verlangen nach etwas „ganz Anderem“, und dem Trotz und Ärger, den solche Reden in mir hervor riefen. Wollten die mir meine Wünsche ausreden? Meine unzähligen Wünsche nach Nähe und Zärtlichkeit, nach Anerkennung, Bewegungsfreiheit, Resonanz, nach nützlichem Tun, nach Frieden, Freude und Sinn? SO zumindest formuliere ich HEUTE diese Wünsche – damals waren sie sehr viel konkreter: DIESER Mann, und sonst keiner, Urlaub nur dort, wo Pinien stehen, Wohnen in Gemeinschaft, aber nur mit diesem und jener, sinnvolle Arbeit, aber bitte ohne Anstrengung und „Druck-Termin“, Jeans, aber nur von Levis – und Geld, nicht viel, aber so eine Art Grundeinkommen, zu überweisen vom Staat, den ich ansonsten abschaffen wollte.

Es lag nicht in meiner Macht, zu wählen, wie ich auf die Hinweise in den Büchern reagieren wollte. Zeitweise bemühte ich mich allen Ernstes, von eigenen Wünschen Abstand zu nehmen – zum Glück immer nur kurz, denn dies ist ein Irrweg, der nur Zeit verschwendet. In der Regel folgte ich meinem Verlangen und versuchte, all das zu bekommen, worauf es sich gerade richtete. Letztlich ließ ich mir dabei von niemandem reinreden, nicht wirklich, allenfalls formulierte ich die Begründungen für meine Bedürftigkeiten ein bisschen passender, passend zum Gedankengebäude, dem ich gerade huldigte. Kein Buch, keine Autorität und nicht mal ein geliebter Mann konnten mich jemals davon abbringen nach dem zu streben, was mir aktuell als „das Glück“ erschien, gaukelnd am fernen Horizont wie eine verheißungsvolle Fata Morgana.

Und immer wieder hatte ich Erfolg, bekam, was ich mir wünschte, erreichte meine Ziele, verwirklichte meine Vorstellungen von einem „besseren Leben“. Lebte in Gemeinschaft mit Freunden, bekam die Männer, die ich wollte, hatte meine Überweisung vom Staat, arbeitete selbstbestimmt an der Verbesserung der Welt im Kreuzberg der 80ger-Jahre, bekam jede Menge Anerkennung – und es ging immer so weiter, in neuen Varianten, auf anderen Ebenen, immer dieses Streben nach etwas…, ja WAS eigentlich? Jedes Mal, wenn ich ein Ziel erreichte, wenn ein Wunsch sich erfüllte, fühlte ich die Leere. Das, was mich in Bewegung versetzt hatte, dieses innere Brennen, wurde durch den Erfolg, das Erringen, die Ziel-Erreichung in keiner Weise beantwortet. Ja, ich sehnte mich schon gleich zurück nach einem neuen Streben, das sich auch schnell einstellte: der Verstand findet jederzeit unzählige Mängel, die es noch abzustellen gilt.

Aber steter Tropfen höhlt den Stein. Irgendwann begreift auch die hartnäckigste Psyche, dass sie in einem Laufrad strampelt, und immer nur im Kreis. Es kommt nicht wie eine Erkenntnis, als ein „Aha-Erlebnis“, sondern schleicht sich langsam, fast unmerklich ins Leben wie das „Fading Out“ der Farben bunter Kleider, die durch vieles Waschen langsam ausbleichen.

Nun sitz ich auf der Erde neben dem still stehenden Laufrad. Alles ist gut, alles ist da. Ich sehe die Fülle, die mich umgibt und die neuerdings sogar dazu neigt, mich mit allerlei schönen Dingen zu überschütten, für die ich nicht erst strampeln muss. Gewöhnungsbedürftig ist es, zu bemerken, dass auf einmal andere Menschen ihre Sehnsucht nach dem „ganz Anderen“ auf mich richten – aber verdammt noch mal, ich bin es nicht!!!! Bin allenfalls wie ein Kapitel in dem Buch, das nur der versteht, der es eigentlich nicht mehr lesen braucht. Aber ich lass mich nicht zuhause stapeln.
Zeit zum Schreiben

Es ist fast Mittag. Wenn ich einen Diary-Beitrag schreibe, meist ohne vorher zu wissen, über was, lasse ich alles Andere warten, rufe keine Mail ab, hoffe, das Telefon möge nicht läuten und mich aus dem Schreibfluss reißen. Wenn der Fluss an sein Ende kommt, egal ob das Thema „abgehandelt“ ist oder nicht, stelle ich das Geschriebene ins Netz, korrigiere noch mal Fehler, füge Zwischenüberschriften ein und wende mich dann den 10.000 Dingen zu, die auf mich warten. Es ist spannend, E-Mail nicht gleich morgens um acht abzurufen, sondern erst um elf! Da können dann so richtige Hämmer dabei sein, die „immediately Action“ verlangen, womöglich gleich mehrere auf einmal. Die arbeite ich dann in ausgesprochen guter Stimmung ab, fühl mich nicht gehetzt, empfinde weder Stress noch ein schlechtes Gewissen – und letztlich geht alles viel schneller und effektiver ab, als wenn ich schon in der Frühe angefangen hätte. So ist mir das Schreiben fast wie ein Gang ins Fitness-Center, nur auf einer anderen Ebene: Zeit wird nicht verloren, sondern gewonnen. Und noch manches mehr.

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Claudia am 29. August 2002 — Kommentare deaktiviert für Von der Last, kreativ zu sein – eine Umwertung

Von der Last, kreativ zu sein – eine Umwertung

„Was denkt Ihr über Kreativitat?“ Eigentlich eine harmlose Frage, die da über die Mailingliste kommt. Vermutlich werden jetzt gleich ohne weitere Vorwarnung alle von ihren kreativsten Leistungen berichten, vom Brainstorming und von Kreativtechniken, vom anlegen eines Gartens, von hunderfünfzig tollen Webseiten und vom Töpferkurs im letzten Jahr – ohhhhhh, bitte bitte nicht!

Hier hat es 29 Grad, aber das ist nicht neu. Seit Wochen schon bringt mich der Jahrhundertaugust ins Schwitzen, daran kann es nicht liegen, dass mir die Galle hochkommt! Kreativitat? Au, ich bekomme Fluchttendenzen, Beißreflexe, Pickel im Gesicht und die Zehennagel kräuseln sich vor Schreck nach oben.

Für mich ist Kreativitat namlich lange schon und immer mehr eine Last, nicht etwa Lust – und zwar die eigene genauso wie die Kreativitat anderer. Die Wertschatzung dieses Begriffs hat insgesamt den Zenit weit überschritten, oh ja, ich beteilige mich gern daran, den Popanz „Kreativität“ zu entzaubern und auf die hinteren Platze zu verweisen. Aus den augen aus dem Sinn, lasst Buchhalter um mich sein!

In einer lang vergangenen unkreativen Zeit bzw. Gesellschaft, in der es üblich war, von festen Traditionen und Rollen bestimmt zu leben, immer alles „nach Vorschrift“ zu tun und insgesamt
wenig Möglichkeiten zur Wahl und zur Selbstbestimmung zur Verfügung standen, da bekam Kreativitat nach und nach und zu Recht einen geradezu märchenhaften Glanz. Man denke nur an die Wertschätzung des AUTORS, des Schriftstellers, des Künstlers, ganz allgemein des „Genialen“ – aber heute? Ich kenne ja kaum noch jemanden, der noch KEIN Buch geschrieben hat!

In unseren Tagen der extremen Individualisierung, wo alles erlaubt und weitgehend egal ist, wo ein jeder gefordert ist, zu machen, was er will, ist Kreativitat, gelinde gesagt, nichts Besonderes. Mitten im Zwang, sich dauernd neu zu erfinden und in veranderten Bedingungen zu Recht zu finden, womöglich als ICH-AG zu bestehen und stets INNOVATIV und FLEXIBEL zu sein, entsteht die Sehnsucht nach dem, was bleibt, was sich nicht Ändert, nach Dingen, Orten und Strukturen, die nicht von ungebremsten Kreativen seit der letzten Sichtung schon wieder GANZ ANDERS gemacht wurden.

Ich bin kreativ – und das ist nicht gut so!

Wie furchtbar, wenn man die Dinge, wie sie gerade sind, nicht einfach mal so lassen kann! Am besten OHNE inneren oder äußeren Kommentar, ohne irgendwelche Verbesserungsvorschläge oder gar Initiativen!

Statt dessen geht das Andersdenken, Anderswollen, Verbessern los. Sei es die Einrichtung eines fremden Klos oder das Eingabeformular auf einer x-beliebigen Website: immer seh‘ ich Fehler und Unvollkommenheiten, immer gibt’s Potential zu großen Verbesserungen, Verschönerungen und Veränderungen. Jeder Text kann selbstverständlich weit besser formuliert werden, jeder
Vorgang und jede eingeschliffene Verhaltensweise ist kritisierbar – man könnte doch statt dessen…. Man könnte SO VIEL. Will das etwa jemand anpacken? Bitte bitte nicht!

In mir entstehen ständig Geschaftsideen und „mögliche Projekte“ – durchaus gute Sachen, aber weder hab‘ ich immer Lust auf sie, noch ist das alles im Rahmen meiner Möglichkeiten, rein aus Zeitgründen schon nicht. Viele dieser Projektideen sehe ich wenig spater „auf dem Markt“, liege also nicht unbedingt voll daneben. Und jeses Mal schmerzt es, gute Vorhaben NICHT anzugehen, einfach NICHTS zu tun, die vielfaltigen Potentiale, die an jeder Ecke schlummern (lauern, drohen, ihre gierigen Zähne fletschen…), NICHT zu nutzen – die Welt einfach zu LaSSEN, wie sie ist.

Ich war mal mit einem Mann zusammen, dem erging es wie mir. Wir saßen zusammen in der Badewanne und schon beim Anblick eines Nagels in der Wand kam er oder ich mit einer neuen Idee… furchtbar! Nach dem Orgasmus keine romantischen Momente, sondern ein Verbesserungsvorschlag…. nicht mal in Bezug auf den eben erlebten Sex, sondern einfach so, aus dem weiten Feld unserer gemeinsamen Aktivitäten.

Ahhhhh und dann der Kern des Kreativen: das Malen, Bilder machen, Gestalten, die Web-Kunst, Fotoshop-Art und all das!!! Ich habe ja noch das große Glück, dass ich meine Kreativitat am PC ausleben kann (klick und weg ist der Kram!), wogegen Andere wirklich arm dran sind: Müssen namlich die reale Welt mit den unzähligen Ergebnissen ihrer Kreativität belasten. Am Anfang ist das noch unproblematisch, gern zeigt man den Freunden, was man im letzten Volkshochschulkurs Entzückendes produziert hat, hartnackig das innere Auge vor der Erkenntnis verschließend, dass sie das genauso öde finden wie Diashows aus dem Urlaub oder Geschichten vom letzten Arztbesuch.

Doch Achtung! Über die Jahre kann sich einiges anhäufen und eh‘ man sich’s versieht, lebt man in extrem vollgestellten Häusern und Wohnungen: alles wird gesammelt und gestaut, die Fotos von annodunnemal, die selbst gekneteten Tassen aus der Toskana, der dann doch nie getragene Schmuck aus dem Goldschmiedeworkshop, all die vielen Texte, Briefe, Bilder, Malereien, Basteleien, Schnitzereien, Strickwerke und Wandbehange – und alles verstaubt, wird nie wieder angesehen – manch einer findet sich als „Messi“ wieder (= die Krankheit, nichts wegwerfen zu können und zu vermüllen).

DU bist kreativ? Verschone mich!

Mein Advancebankkonto kündige ich in diesen Tagen – zum dritten Mal haben sie schon das Homebanking-Portal geändert. Es umfasst jetzt auch Internet-Brokerage mit all den Infos aus der Aktienwelt und vieles mehr (schauder!). Das brauch‘ ich alles nicht, ich will Überweisung, Kontostand, Dauerauftrag, Ende. Sie sind mir zu kreativ dort, genau wie viele Andere, die ständig an der Welt herumbosseln, Synergien nutzen, Produktlinien einstampfen und neue erzeugen und mich damit zum erneuten Studium irgendwelcher Anleitungen, Handbücher und Hilfedateien zwingen. Seit Jahren weigere ich mich erfolgreich, neue Features und Programme einzusetzen, solange ich nicht genau das brauche, was sie an MEHR zu bieten haben; Und was den PC angeht, lebe ich gut und störungsfrei nach dem berühmten Motto: Never touch a running system!

Nicht, dass all das über die Möglichkeiten meiner kleinen grauen Zellen ginge, keineswegs (hab schließlich auch mal ’ne Weiterbildung zur EDV-Fachkraft hinter mich gebracht). Ich denke nur nicht im Traum daran, Zeit und Energie im Umgang mit Hilfsmitteln und Werkzeugen zu verschwenden, wenn es nicht sein muss. INTELLIGENT ist für mich heute, was Lernen minimiert, Informationen schon gleich im Vorfeld vermeidet und das Gehirn von Texten, Daten und reinen HowTo-Inhalten weitestgehend verschont. Da bleibt nicht viel zu tun für Kreative, sorry!

Und die Gegenstände? Die Welt der 10.000 Dinge? In den Kaufhäusern sieht jedes einzelne Objekt nach einem Designer-Wunderwerk aus – daneben bin ich haßlich! Die Dinge sind es, die glitzernd auf dem Thron sitzen, und wir stehen alle in der Schmuddelecke und genügen nicht. Also versuchen wir, selbst zum Ding zu werden und dieses Ding dann zu verschönern. Deshalb die derzeitige Tatoo- und Piercing-Welle, all das vielfaltige Body-Styling bis hin zu pathologischen Auswüchsen wie das „Ritzen“. Für die unauffälligere Mehrheit gibt’s die Schönheitsoperationen und die Nervengift-Spritzen für ein glattes (weil gelahmtens) Gesicht.

Jaaaaa, wir MACHEN WAS aus uns und wer da nicht kreativ ist, hat schlechte Karten. Jeder will und soll und muss „etwas Besonderes“ sein – wie anstrengend, wie trennend auch. (Mögen wir denn die Leute, die so toll aussehen, wie wir gern sein wollen?) alles soll schöner sein, als es jetzt ist – und immer so weiter! Jeder ist kreativ und tut alles dazu, noch etwas zu finden, wo
der persönliche Verschönerungsdrang gnadenlos ausgelebt werden kann – zu Lasten einer Welt die so müde von alledem ist, deren Müllberge schon so hoch und deren Seelen verwirrt sind von all dem
allzu Vielfaltigen und immer wieder Neuen und anderen.

Ach, wie muss das gemütlich gewesen sein, damals, als sich niemals etwas änderte außer den Jahreszeiten! Als niemand „sich in-formieren“ und nachdenken musste, weil sowieso immer schon klar war, was man jetzt WIE tun musste. Als das Kreative dem GENIE überlassen blieb, einer Art Märchengestalt, die gottlob im richtigen Leben nur sehr, sehr selten vorkam.

Falsch? Ja, ja, ich weiß, es war natürlich auch eine furchtbare Welt, statisch und dogmatisch, voller Unterdrückung und Ungerechtigkeit. Man hatte allen Grund, zu rebellieren, umzugestalten, in die Fremde zu ziehen, Neues anzufangen, die Welt auf den Kopf zu stellen – aber nun steht sie da und rotiert. So etwas wie EIN MITTLERER WEG ist uns offenbar nicht gegeben. Wir oszillieren zwischen den Extremen und gucken zur Entspannung Filme an, in denen alles in die Luft fliegt.

Kreativitat? Nein danke. Nicht im Jahr 2002.

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Claudia am 23. August 2002 — Kommentare deaktiviert für Der philosophische Virus, Weltbilderschütterung, OOBE

Der philosophische Virus, Weltbilderschütterung, OOBE

Ohne große Ankündigung ist hier doch eine art Sommerpause entstanden. Ich komme seltener zum Schreiben, die Tage fließen zahflüssiger und seit dem Ausflug nach Mecklenburg und den Zelt-Übernachtungen beeinträchtigten mich auch noch Schlaffheit und Dauerkopfschmerz. Ich glaube, es ist jetzt soweit, Zelt und Luftmatratze zu entsorgen, alles hat seine Zeit.

Dank ein paar homöopathischer Kügelchen bin ich nun wieder gesundet – oder wär‘ es auch einfach so vorbei gewesen? Das weiß ich nie wirklich und das ärgert mich. Jedes Loch, das sich im Universum auftut, vergrätzt mich, egal, wo es sich auftut. Mit Loch meine ich Unstimmigkeiten, Unvollkommenheiten im Weltbild, mit dem wir täglich leben: plötzlich merkst du, verdammt noch mal, DAS HIER dürfte es doch eingentlich gar nicht geben, wenn „die Wissenschaft“ recht hätte – und dann? Weiter → (Der philosophische Virus, Weltbilderschütterung, OOBE)

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Claudia am 16. August 2002 — Kommentare deaktiviert für Kleine Neigung in Richtung Sterben

Kleine Neigung in Richtung Sterben

Ein Gefühl der Schwäche um den Solar Plexus, so etwa, wie nach drei Wochen Grippe – oder bilde ich es mir nur ein? Es ist mitten in der Nacht, ich bin nochmal aufgewacht und die Realität hat nicht so ganz dieselbe dichte und schwere Qualität wie am Tag. Sie ist weicher, flexibler, mehr von meinen Vorstellungen, Gedanken, Wünschen und Träumen abhängig – muss ich jetzt aufpassen, was ich für Vorstellungen entwickle? Die Imagination des Siechtums ist erstaunlich, hat aber im Moment nichts Erschreckendes. Im Gegenteil. auf einer subtilen Ebene ist es abwechslung, neue Empfindungen wecken den Geist aus dem Schlaf des allzu Bekannten und ich wundere mich, warum rund um Krankheit, Sterben und Tod soviel gejammert wird.
Manche Gedanken sind verboten. Das kommt mir gleich in den Sinn, wenn ich sowas hinschreibe. „Bekomm du erstmal selber deinen Krebs!“, denkt man sich, wenn man sowas liest – jedenfalls würde ich so denken, da bin ich mir sicher.

Noch immer fühl‘ ich mich schwach, fiebrig, ich will einen Kräutertee mit Zitrone und Honig, will ein bißchen bedauert und gepflegt werden, aber weit nach Mitternacht paßt das nicht so recht. Eigentlich paßt es nie, wenn ich ehrlich bin, deshalb will ich ja auch einen Krankenbesuchsverein gründen. Jedes Mitglied hätte das Recht auf einen Krankenbesuch pro Tag und ist im Gegenzug selber bereit, andere zu besuchen. Bei den vielen alleine Lebenden in Berlin, so denk ich mir, wär das gar nicht so falsch. Vor hundert Jahren hat es sowas schonmal gegeben, hab‘ ich mal gehört.

Bis jetzt bin ich zu gesund, um das wirklich anzugehen. Wo es keinen „versteckten Gewinn“ des Krank-Seins gibt, ist das auch kein Wunder. Dass ich mich schwach fühle, ist eine Folge der Zelt-Übernachtungen am letzten Wochenende in Mecklenburg. Es war kalt, es war feucht, ich fror in der ersten Nacht und wie immer hab‘ ich nicht wirklich auf so etwas geachtet. Na, mitten in der Nacht war es auch nicht mehr zu ändern und immer noch besser, als mit anderen im selben Zimmer zu schlafen. Dieses Jugendherbergsgefühl gefällt mir lange schon nicht mehr und das Schnarchen des Mitmenschen raubt mir den letzten Nerv, nein danke!
Jetzt also schon eine Woche „grippaler Infekt“: Schwitzen, Schwachheitsgefühle, Trägheit, gelegentlich Aspirin, mit schlechtem Gewissen, versteht sich. Und Träume von der Hinfälligkeit, wie jetzt.

Makabre Gedanken, Erinnerungen an das Schreibwochenende, wo mir Krankheit und Tod unübersehbar begegneten. Die Schwester einer Teilnehmerin hatte gerade ihre Diagnose bekommen: Lungenkrebs. Mit dem Rauchen hat sie daraufhin aufgehört – während der anstehenden Operation wird erst klar werden, wieviel von der Lunge entfernt werden muß. Zwanzig Prozent, sagen die arzte, könne sie ja locker durch das Nicht-Mehr-Rauchen ausgleichen. (Immerhin, plappert mein altes Raucherinnenbewußtsein, Nichtraucher können das nicht!) Ihre Schwester ist erschüttert, aLLE sind betroffen, man senkt die Stimmen und fühlt sich sehr sensibel. Man hätte gerne Tränen in den augenwinkeln.
Zum Ende fahre ich nicht gleich nach Hause, sondern erst noch mit unserem Gastgeber an die Ostsee, M. besuchen, eine andere Teilnehmerin dieser Jahrzehnte alten Schreibgruppe. auch sie konnte nicht kommen, hatte gerade ihre OP: Eierstockkrebs, in die Bauchhöhle gewachsen, drittes Stadium. Die erste Chemo hat sie hinter sich. Ihr halb fertig ausgebautes Haus in einem kleinen Dorf nahe der Ostsee ist wunderschön – genau die Idylle, von der der Städter träumt. Unverbaubarer ausblick in die offene Weite, Felder, am fernen Horizont der Wald, ein großer Garten, Obstbäume, Wiese – und noch kein richtiger arger mit den Nachbarn.

Das Haus ist die ehemalige Dorfschule. Genug Platz also für M., die sich das Ganze vor zwei Jahren gekauft und seither dran herumgebaut hat. Endlich weg aus Berlin, zum Jahreswechsel dann auch das ersehnte Ende der Berufsarbeit. M. ist 60, schlank, sie begrüßt uns mit einer Bemerkung zu ihren jetzt kurzen Haaren. „Ich dachte, ich treff dich ganz ohne“, sag ich, während ich sie umarme, denn ich will gleich klar stellen, dass wegen mir über die Hauptsache nicht geschwiegen werden muss. Über den Krebs, den Skandal, die angst, das mögliche Ende. M. lacht und sagt, kurze Haarbüschel, die sich in der Wohnung verteilen, seien jedenfalls nicht so nervig wie lange Strähnen.

Wir sitzen im Schatten, trinken Kaffee, M. hat Kuchen aufgetaut, der Kater streicht uns um die Knie. Viele Leute bieten jetzt ihren Besuch an, erzählt M. auch über längere Zeit. aber das wolle sie nicht, sie sei am liebsten alleine in den Tagen rund um die Chemo. Da könne sie ungestört schlaff herumliegen, müsse sich um niemanden kümmern. Oh Gott, denk ich mir, immer diese fraulichen Pflichten, tief eingraviert in unser Bewußtsein. Der aNDERE ist immer wichtiger! Die perfekte Gastgeberin reicht am Rand des eigenen Grabes schmackhafte Häppchen….
Im Dezember war sie noch beim arzt gewesen. Hat sich da schon irgendwie schlecht gefühlt, aber es wurde nichts gefunden. Erst viele Monate, verschiedene arzte und etliche Untersuchungen mit scharfem Gerät später wurde der Krebs entdeckt – im dritten Stadium, kurz vor den Metastasen also. Da war sie schon sehr viel dicker geworden, hatte kiloweise Wasser eingelagert. Schließlich die Operation. „Ich hab nicht gewußt“, sagt M, „dass sie einen heutzutage schon am nächsten Tag unter die Dusche jagen. Wie zäh ein Mensch doch ist!“ Man habe allerlei ausgeräumt, den Eierstock sowieso, dann den Blinddarm, einen Teil des Darmgeflechts – 14 Nahtpunkte lang sei ihre Narbe am Bauch. Naja, genäht werde heut‘ auch nicht mehr, so mit Nadel und Faden, sondern GETACKERT.

„Wir können froh‘ sein, dass sie nicht kleben. Wie bei den Flugzeugen,“ sag ich und grüble über den technischen Fortschritt, so ganz hautnah.
Wie es wohl ist, wenn man vom eigenen Krebs weiß? Ich gehe davon aus, daß ich natürlich in Schrecken erstarre, erstmal. Dass es etwas ganz anderes ist, die definitive Diagnose zu bekommen als nur die Möglichkeit zu überdenken. Sicher, wir sterben alle und wissen nicht wann. aber wir leben so, als sei dem nicht so, oder? Fast täglich denke ich: Was wäre, wenn jetzt bald Schluß wäre? aber ich rechne damit, dass mich das nicht wirklich der Realität näher bringt. Und trotzdem: Mein Vater ist genauso gestorben, wie er gelebt hat – also wird das bei mir auch nicht anders sein.
Im Moment fühl‘ ich mich nicht nach Sterben, nur so angenehm schwach. Ein Geschmack von Hinfälligkeit und Niedergang, vermutlich wird sich das Grobe, die starken Eindrücke, zu immer feineren Wahrnehmungen verwandeln, wenn es mal Ernst wird. Na, vermutlich auch einfach so, man wird ja älter und das gehört zu den damit verbundenen Vorteilen: Wer alles schon kennt, dem bleibt nichts anderes übrig, als dasselbe ganz anders anzusehen.

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Claudia am 14. August 2002 — Kommentare deaktiviert für Das Wasser – ein Feind ?

Das Wasser – ein Feind ?

Es ist etwas anderes, jemandem zuzuhören, der „mitten im Wasser steht“, als nur im Fernsehen mit dem üblichen Katastrophen-Interesse die Sondersendungen anzugucken: Wow, und das bei uns! Nein, das Internet machts möglich, Freunde und Bekannte berichten von den steigenden Fluten, von voll gelaufenen Kellern und von der furchtbar gedrückten Stimmung der letzten Tagen. Gefühle der Ohnmacht, des ausgeliefert-Seins, immer mehr Opferbewußtsein – und dann die oft unausgesprochene, aber dennoch drängende Frage nach dem „Warum?“.

Die „große Bedrückung“ ist etwas, das mich innerlich herausfordert. Komischerweise wüsste ich gerne, wie ich angesichts so einer Sache reagieren würde. Ganz gewiss würde ich nicht „warum?“ fragen, ich wundere mich richtig über diese Frage! Es ist doch klar, warum: Die Klimaforscher haben das lange schon so oder so ähnlich angesagt. auch die mit der Theorie von den „natürlichen Schwankungen“ ändern an den Tatsachen nichts. Und wenn jetzt alle (völlig verständlich!) ihre Ventilatoren und Gebläse anwerfen, um das Feuchte so schnell wie möglich zu trocknen, wird erneut die Folge mit „Mehr von der Ursache“ bekämpft. Dass man nun mal nicht anders handeln kann, gemahnt an das Tragische im Leben, das schon seit den Griechen zu großen Kunstwerken motiviert.
Oder ist es ein anderes „Warum?“ – eine philosophische Sinn-Frage? Dann ist für mich klar, dass ich den Sinn selber geben muß: Das Wasser in seiner GEWALT hat das Potential, mir alles zu nehmen, was ich in meinen Besitz gebracht habe: Gegenstände, Verdienste, Wirkungsmächtigkeiten verschiedenster art. Was bin ich, jenseits von alledem? WER bin ich – zur Not in einer Turnhalle, nur mit dem Besitz, den ich als Klamotte am Leibe trage?

Würde ich über die materiellen Verluste klagen? Angst empfinden, weil ich jetzt meine Auftragstermine nicht einhalten kann, kein Geld mehr habe und nicht weiß, was kommt?
Ich weiß es nicht, habe aber in einer hinteren Ecke des Bewußtseins doch noch ein Selbstbild, dass das von sich nicht glaubt, nicht in der Tiefe! Fast bin ich neidisch auf diejenigen, die Gelegenheit haben, die Wirklichkeit zu erfahren (und dabei sich selbst) – obwohl es vermessen ist, so zu denken. In der Erfahrung sieht alles anders aus, als wenn man im Trockenen sitzt und philosophiert.

Die Freude am Mitmensch

Was aber immer wieder beeindruckend ist und zur Faszination einer Katastrophe gehört: auf einmal nehmen die Menschen einander wieder wahr, rennen nicht mehr völlig dicht eigenen Zielen, Plänen und Pflichten nach, sondern arbeiten zusammen, helfen einander! Die „Welle der Hilfsbereitschaft“ ist für mein Empfinden nicht nur dem augenblick der Katastrophe geschuldet, sondern auch der tiefen Unzufriedenheit mit dem, was unsere „Normalität“ ausmacht. Dieses ignorant-effektive aneinander-vorbei-Funktionieren wie Rädchen in einer großen Maschine – (noch dazu eine, die immer weniger Leute zum Weiterlaufen braucht.)

In den letzten Tagen lange Nachrichten geguckt: all die Berichte über die Zerstörungen, das ungeahnte ausmaß, fast ganz Sachsen ist betroffen, große Teile von Bayern, heut‘ Nacht noch die zweite Flutwelle aus Prag… dann die Spendenkonten, alle 10 Minuten eingeblendet, die ankündigungen der Hilfsmaßnahmen – der Städte, der Länder, des Bundes, ja, Europa wird angezapft!
Und ein komischer Gedanke schleicht sich ein: könnte DaS nicht die Wende sein? Die Rettung aus der Krise? Das Ende der „Kaufzurückhaltung?“ Wird nicht all das, was jetzt kaputt geht oder überschwenmmt wird, so schnell wie möglich geputzt, ausgeräumt, renoviert, repariert, neu gekauft und neu gebaut?

Vom privaten Keller bis zur öffentlichen Infrastruktur ist jede Menge auf breiter Fläche dahin – werden nicht alle, die irgend etwas handwerken und bauen können, die nächste Zeit voll beschäftigt sein? Ja, sogar arbeitslose dazu nehmen, weil so viel zu tun ist? Irgend jemand wird ja bezahlen: Ersparnisse, staatliche Hilfen, neue Verschuldungen, Spendengelder –
aus dem Schlamm und unter den Dreckmassen hervor kommt wie Phönix aus der asche der Kreislauf aus Geld, Waren und Dienstleistungen wieder in Gang???
Könnte es nicht so sein????

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Claudia am 12. August 2002 — Kommentare deaktiviert für Wochenende in Waldeshöh – drei Tage schreiben

Wochenende in Waldeshöh – drei Tage schreiben

Drei Tage schreiben ohne aufzuhören, drei Tage mit dreizehn anderen Schreibenden, drei Männer, neun Frauen, mitten im tiefsten Mecklenburg, dazu Wolken, Sonne, Wind, alte Bekannte, auch ein paar neue Gesichter. Das mußte einfach mal wieder sein!

Mit dieser Gruppe werde ich alt. Es ist der einzige Zusammenhang, den ich schon seit zwanzig Jahren kenne und – in immer neuen Formen – immer wieder aufsuche. Entstanden aus Volkshochschulkursen im Kreativen Schreiben, weiter geführt in privaten, selbst organisierten Schreibtreffen alle paar Monate, auch mal ausgeufert in eine dreijährige Gestalt-Gruppe, vierzehngtägig, weil Rainer, unser aller hoch geschätzter Schreib-Animateur sich zum Gestalttherapeuten weiter bildete. (Warum nicht nehmen, was sich gerade bietet, auch wenn mal nicht geschrieben wird?) autobiographisches Schreiben, Selbsterfahrungs-orientiertes Schreiben, es hat gelegentlich andere Namen, aber die sind nicht so wichtig. Immer ist es schön, manchmal tief, meistens lehrreich – und dann die Wochenenden! Seit etwa fünfzehn Jahren treffen wir uns alle Jahre im Haus eines Mitschreibers, mal in Mecklenburg, mal in der Rhön, ich lasse auch mal ein Jahr oder gleich mehrere aus. Wie wundervoll, dies jetzt alles wieder zu treffen, wieder zu erleben, mitzubekommen, wie wir alle älter werden, wie wir uns verwandeln oder uns gleich bleiben. (Krankheit, Tod und Sterben schlägt jetzt schon im allernächsten Umkreis ein, das ist nicht zu übersehen).

Aber davon ein andermal. Es ist jetzt acht Uhr morgens und als ich vorhin die Mailbox abrief, waren da 770 Mails in meinem Arbeits-Account (für den auch 15 Mailinglisten abonniert sind) und 79 im privaten. Etwa 50 hab ich schon als SPAM gelöscht, die anderen benötigen eine Reaktion. In den zwei Mailinglisten, in denen ich mich gerade am Gespräch beteilige, erfordern zwei ein intensiveres Eingehen. Daneben will ich von mir aus an einige Menschen schreiben, um die Fäden der gemeinsamen Aktivitäten wieder aufzunehmen – und die Arbeit schreit nach mir, vor mir liegen sehr disziplinierte Tage, ich muss jede Menge schaffen!

Anstatt jetzt also länger über einem Diary-Beitrag zu sitzen, setze ich mal nur einen Text von der art ein, wie er für diese Art Schreibgruppen üblich ist. Man schreibt nach der Uhr, einfach das, was in den Sinn kommt, ohne irgend einen Wert auf Form, Stil, Inhalte oder sonst etwas zu legen. Je mehr Erfahrung man darin hat, desto besser läuft es, desto weniger ist man vom eigenen Schreiber-Ego blockiert. Der „Anspruch“ ist nicht derselbe, wie in den meisten Veröffentlichungen: dass man anstrebt, etwas für andere Interessantes, Unterhaltsames oder Hilfreiches zu verfassen. Es sind Lockerungsübungen und es macht einfach Spaß. Mehr ist dazu eigentlich nicht zu sagen.

10 Minuten ohne vorgegebenes Thema

Zehn Minuten ohne vorgegebenes Thema, einfach drauf los schreiben, weiter schreiben, im Fluss bleiben. Eigentlich ist es wie sonst auch, wie jeden Tag, wie immer, von der Wiege bis zur Bahre: einfach drauf los leben und dann sehen, was kommt. Man sieht es ja früh genug, man erblickt es, wenn es sich zeigt, und oft will man sich nicht anfreunden. Nicht mit dem, was kommt und erst recht nicht mit dem, was sein Kommen ankündigt, beziehungsweise androht. Immer scheint es das Unerwünschte zu sein, selten das Wunderbare, das Paradies. Das 13. Monatsgehalt des Lebens erwarten wir eher nicht. Die Kündigung dagegen, die Abmahnung, das niedergelegte Schriftstück, kommende Krisen und abstürze, alle Formen von Gemeinheiten – all das sind wir gewohnt und nehmen es ohne Murren in Kauf, sobald wir die 40 überschritten haben. auch Leben muss man üben, locker lassen sich Jahrzehnte verschwenden, bevor man endlich begreift, dass kein Thema vorgegeben ist. alle tun nur so, bzw. die, die vor uns gelebt haben, versuchen, uns ihre Themen aufzudrücken. Gut, wem selber nichts einfällt, der hat vermutlich kein Problem damit, bedenkenlos fremde Filme abzuspulen, doch in den Zeiten der Ich-AG ist man schon gefordert, den eigenen Businessplan zu erstellen. Und – anders als im Geschäftsleben – bekommen wir vom Universum allen Kredit, wir müssen ihn bloß abfordern.

Draußen zwitschert ein Vogel, ein recht junger Vogel. Ob der wohl erschüttert ist, wenn es demnächst Winter wird? Oder ob er das ganz locker wegsteckt, einfach so von augenblick zu Augenblick? Es ist ja doch immer nur Leben, ohne besondere Vorgaben. Wer will mir also vorschreiben, wann ich entsetzt zu sein habe? Bloß, weil irgend ein Tag mein letzter sein wird?

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