Thema: Zeitgeist

Claudia am 03. Dezember 2000 — Kommentare deaktiviert für Sex als Dienstleistung

Sex als Dienstleistung

Endlich rückt das Aufstehen in die Frühe vor: Heute immerhin schon um sieben vor dem PC angekommen! Meine Idee, die einem echten Bedürfnis entspringt, nämlich die Zeit der Helligkeit mehr in Richtung Mitte der wachen Zeit zu legen, verwirklicht sich langsam. Ich hoffe, im Lauf dieses Winters nochmal auf sechs, wenn nicht fünf Uhr Aufstehzeit zu kommen!
Sowas hätte ich vor 20 Jahren für vollkommen irre gehalten. Wie die meisten Jungen war ich Langschläferin und NACHTMENSCH, wie man von sich gerne sagt. Freiheit bedeutete zu allererst, ausschlafen zu können, solange ich mochte. Komischerweise reflektierte ich nicht, wie frei oder unfrei ich eigentlich davon war, täglich bis vier Uhr morgens in die Kneipen zu rennen. Na, so ändern sich die Zeiten. Heute finde ich es geradezu abenteuerlich, einfach in mich hineinlauschen zu können und von daher meine Schlafens- und Wachzeien zu wählen. Im Prinzip…. :-) Faktisch nimmt man ja doch Teil am kollektiv Gewohnten, und sei es nur durch die abendliche Tagesschau, die ich noch immer nicht durch Radio oder Internet-Schlagzeilen ersetzen mag.

…und jetzt das mit dem Sex.. :-)

Apropos Schlagzeilen: Wichtige Veränderungen kommen manchmal auf leisen Sohlen daher. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin in Sachen Cafe „Pssst“, dass Prostitution heute nicht mehr in jedem Fall als sittenwidrig angesehen werden kann, ist so ein Fall. Endlich der erste kippende Domino-Stein, der vermutlich all die in Gesetze und „ständige Rechtsprechung“ gegossenen Diskriminierungen und Ausgrenzungen, Lügen und Heucheleien rund um den käuflichen Sex zu Fall bringen wird.

Im Einzelfall, der zu entscheiden war, ging es mal wieder um die Frage, ob die Betreiberin einer Bar an selbständige Huren stundenweise Zimmer vermieten darf, ohne sich der „Förderung der Prostitution“ schuldig zu machen. Bisher ging das nicht, die Zimmervermietung mußte über einen Strohmann laufen, um nicht zum Verlust der Konzession zu führen. Auch durfte das Ambiente keinen „gehobenen Eindruck“ machen, alles, was die Arbeitsbedingungen der Huren normalisiert und angenehmer macht, war (und ist in vielen Punkten immer noch) verboten.

Ein Ende dieses verrückten Zustands ist jetzt in Sicht. Rot-Grün plant ein Anti-Diskriminierungsgesetz, das es Huren ermöglichen wird, voll versichert und rechtlich rundum anerkannt zu arbeiten. Ihre Dienste werden als ganz normale Dienstleistungen bewertet, ähnlich wie Massage und Krankengymnastik. Richtig so!

Warum ich mich darüber freue? Schließlich könnte man auch darüber trauern, dass offenbar der real existierende Porno-Markt und die gesamte verlogene Übersexualisierung in den Medien nun dazu führt, dass sogar der offizielle „Maßstab der Sitten“ sich ändert. Ich ziehe es vor, das anders zu sehen: Die Entkriminalisierung und Enttabuisierung der bezahlten sexuellen Dienstleistungen hat vielleicht eine befreiende Wirkung. Wenn deren Nähe zum Schmuddligen, Verbotenen, jedenfalls politisch Unkorrekten tendenziell abnimmt, dann können sich vielleicht in Sachen Sex entspanntere Verhältnisse entwickeln – NICHT NUR im Bereich der Käuflichkeit!

Die Energie, die immer da ist

Um über Sex zu reden, muß man seine Grundeinstellung dazu mitteilen. Was ich „damals ’68“ als 14-Jährige einem oberflächlichen Underground-Mainstream ahnungslos nachplapperte, ist mir im Lauf eines erfahrungsreichen Lebens – dem gesellschaftlichen Rollback entgegen – zu tiefster Gewissheit geworden: Sex ist zuvorderst kein Zeichen der Liebe oder gar Unterpfand für Bindung und Geborgenheit, sondern ein Grundbedürfnis wie Essen & Trinken, eine Energie, die IMMER da ist, mal weniger, mal mehr spürbar, mal angenehm, mal eher unangenehm. Das Wegdrücken der Sexualität in nur ganz schmale erlaubte Bereiche, das die Gesellschaften immer schon pflegten, hat viele Gründe, für die es im Einzelnen Pro und Contra geben kann, doch mit Wahrheit hat das alles nichts zu tun. Zudem sind diese Unterdrückungs- und Kanalisierungsmechanismen allermeist unbewusst, es gab und gibt da kein Kollektiv wacher und bewußter Menschen, die sagen: Wir wollen das so!

Weite Bereiche der Sexualität werden so in eine Schmuddelprostitution gedrängt, von der kein Mann (und erst recht keine Frau) behaupten kann, er oder sie pflege hier den aufrechten Gang. Oder ist es etwa möglich, während einer Party mit Arbeitskolleginnen (!) und Kollegen zu sagen:

„Hey, ich war da gestern abend bei Mona in der Bleibtreustraße. WOW, die konnte mich für eine Eeeeewigkeit knapp vor dem Point of No-Return halten! Ich konnte alles vergessen, sogar mich selbst, es war großartig…
Sie nimmt übrigens keine Kreditkarten, sie meint, es sei ihr zu teuer und zu umständlich, bis das Geld wirklich da ist.“

Ganz ähnlich also, wie man zum Beispiel einen guten Koch oder ein neues Restaurant rühmt und dann zu anderen Themen übergeht.

Warum nicht?

Fakt ist, dass das ganz normale Geschlechterverhältnis entlang der sexuellen Ebene noch immer belastet ist wie eh und je. Auch der angeblich „kostenlose“ Sex liebevoll verbundener Paare ist gewöhnlich alles andere als easy; zuvorderst deshalb nicht, weil er (wie die Beziehung selbst) als regelmäßig und dauerhaft, als friedlich-verläßlicher „Normalzustand“ erwartet und gewünscht wird. Was normal ist, wird dabei auch noch an der Zeit der heftigsten Verliebtheit gemessen, wo man nicht viel anderes im Sinn hat, als möglichst viel Zeit miteinander im Bett zu verbringen. Aber kaum ist das abgeflaut und mensch beginnt, die Welt wieder wahr- und das eigene Leben wieder aufzunehmen, wirkt das auf den Partner als Entzug, gar als ungewollte Verstoßung, jedenfalls als eine Art BEWERTUNG. Schau an, es gibt wieder andere Prioritäten!

Selbst dann, wenn er oder sie selber schon heftig nach Luft schnappt und wieder mehr Raum und Energie für die Eigenbewegung braucht, geschehen diese negativen Bewertungen, es geht jetzt um Bedeutung und nicht mehr ums Erleben. Der Sündenfall ist da, das Kind im Brunnen. Es herrscht jetzt der Psycho, nicht mehr Eros oder Pan.

Das Erlebnis, größer werdende Teile der Aufmerksamkeit des endlich gefundenen und geliebten Partners auch wieder zu verlieren, macht junge Menschen verständlicherweise agressiv, traurig, ängstlich oder verbittert. Schließlich hofft man da noch, beim Anderen alles Heil zu finden, das man in diesem seltsamen Leben auf einer unerklärlichen Welt nötig haben könnte. Und wenn schon das nicht, so ist er (oder sie) doch wenigstens ein verläßlicher Verbündeter im Unbekannten – oder etwa doch nicht?

Hier geht es nicht mehr um Sex. Ich denke, das ist leicht erkennbar. Es geht um ganz andere Aspekte des In-der-Welt-Seins, der Sex wird mit ihnen nur unzulässig befrachtet. Leider geht das immer so weiter, springt von einem Thema zum nächsten, wird zur Methode der nichtmentalen Kommunikation. Das Bewerten des sexuellen Aufeinander Zugehens oder Fernbleibens im Hinblick auf Bedeutung für Anderes tötet das ursprüngliche und Unverfügbare der Erfahrung, macht einen Teil davon (den jeweils postiv bewerteten) zur möglichen Währung, den anderen Teil zum möglichen Sanktionsmittel. Und wer sich ganz unerwartet mit solchen Machtmitteln ausgerüstet sieht, müßte schon ein Heiliger oder eine Heilige sein, um sie niemals zu benutzen, meint ihr nicht auch? (Und was war mit der Hure? fragt der innere Assoziationsblaster…)

Nähe – sexuell ein Flop?

Wie immer: die sexuelle Dimension vieler Paare ist auch deshalb belastet, weil sie früher oder später erleben, dass die im besten Fall zunehmende geistig-psychische Nähe, aus der echte Verantwortung und dauerhafte Bindung entsteht, auf sexuellem Gebiet eher kontraproduktiv ist. Man fühlt sich verbunden, will aber immer weniger voneinander. Spirituell ist das ein Gewinn, sexuell eher ein Verlust, denn das Wesen des Sexuellen enthält auch etwas Forderndes, ja, agressives. Eben das, was verschwindet, wenn man sich wirklich nahe kommt. (Das Leiden am sog. „Kuschelsex“ hat hier seinen Ursprung.)

Wenn man sich erinnert, dass Sexualität ja doch ursprünglich im Zusammenhang mit Fortpflanzung entwickelt wurde, ist der agressive Aspekt nicht weiter verwunderlich. Schließlich mussten sich die Zweigeschlechtlichen Wesen bis ins 20ste Jahrhundert physisch recht nahe kommen, um sich fortzupflanzen zu können (einzig der Mensch macht da neuerdings einen „FORT-Schritt“). Und das als verteidigungsfähige erwachsene Einzelwesen, aus der Grabbelgruppe lange ‚raus! Unter den Spinnen überleben das manche Männliche nicht. Sex war nie NORMAL.

Es ist unsere Schuld, wenn wir Sexualität technisch von der Fortpflanzung lösen (uns davon „befreiend“), dann aber nicht neu interpretieren und nur armselig oder überhaupt nicht kultivieren. Unser Fehler, wenn wir immer noch das Märchen von der lebenslangen Liebe mit der regelmäßigen und erfüllten Sexualität (hier und nirgends sonst!!!) glauben oder im Zuge des neuen Konservatismus wenigstens wieder herunterbeten – damit die Welt im globalisierten Sodom und Gomorra nicht ganz vor die Hunde gehe.

Meiner Generation (den Post-68ern) hat AIDS die Sprache verschlagen. Wir sind zugunsten des Überlebens von der richtigen Einsicht abgewichen, die wir im realen Leben sowieso nicht „durch Verordnung“ verwirklichen konnten. Das ist keine Schande, aber in den Zeiten von BSE muss man wieder Worte finden.

Die genannten und weitere eigentlich unerotische (Paar-)Verstrickungen zeigen jedenfalls eines: Kostenlos ist das alles nicht. Man kann gut verstehen, dass viele gerne Geld zahlen, um frei von all diesem Ballast Sexualität zu erleben. Um dafür auch die allen wohlgefälligen „guten Sitten“ entwickeln zu können, darf Sex als Dienstleistung jedenfalls nicht mehr als „sittenwidrig“ gelten. Gelobt sei das Verwaltungsgericht Berlin! Der ‚heiligen Hure‘ Felicitas, die es mit vollem persönlichen Einsatz durchgeboxt hat, gebührt dagegen ewige Dankbarkeit.

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Claudia am 01. Dezember 2000 — Kommentare deaktiviert für Film: Warum immer nur das eine?

Film: Warum immer nur das eine?

Im Kino gewesen: THE CELL angesehen und gestaunt! Den Kritiken kann ich voll zustimmen: Story recht dünn, doch spektakuläre Bilderwelten und Effekte beeindrucken so sehr, dass der Besuch lohnt. Die Rahmenhandlung braucht nur wenig Worte: hübsche Psychologin wird über Hirn/Computer/Hirn-Interface mit häßlichem Serienmörder verschaltet, reist in dessen Bewußtsein, um ihm den Aufenthaltsort seines letzten, noch lebenden Opfers zu entlocken: Der begehbare Frauenmörder als virtueller Freizeitpark für alle. Weiter → (Film: Warum immer nur das eine?)

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Claudia am 17. November 2000 — Kommentare deaktiviert für Politik zum Weghören

Politik zum Weghören

Derzeit kann ich es kaum mehr ertragen, das Radio anzuschalten. Erst wochenlang „Leitkultur“, eine lächerlich aufgeregte Debatte um ein Wort und seinen möglichen oder vielleicht doch nicht möglichen, seinen so oder vielleicht doch anders gemeinten Inhalt. Grauslig! Weiter → (Politik zum Weghören)

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Claudia am 31. Oktober 2000 — Kommentare deaktiviert für Kapitulation

Kapitulation

Wenn ich in die Suchmaschine google.com meinen Namen eingebe, findet sie 1000 bis 1500 Fundsachen, alle Aktivitäten seit 1996, Artikel, Interviews, Ausschnitte aus Webseiten – zum Gruseln oder zur eitlen „Werkschau“ gleichermaßen geeignet, ein Netzleben eben, in ganzer Breite, Horror-Picture-Show des Digitals, das nichts vergisst.

Gerade höre ich die Uralt-CD „Hair“ – und bin ein bisschen betrunken, was mich zum Rundblick der dritten Art verführt, was soll’s! Die ganzen Fundsachen in google.com zeigen mich in verhaltener Art, eine Form von Claudia, die über den Dingen zu stehen scheint, immer arbeitsfähig und mittelprächtig klar – ach, das ist auch nur ein Teil und der Rest ist gewöhnliches Chaos.

My dear, diese ungeheure Power und Freude, die von diesen Uralt-Songs ausgeht! Es zu hören und gleichzeitig zu wissen, dass dieses Gefühl dieser Gesellschaft so ferne ist wie das Grab des Tut Ench Amun! Und doch bin ich drin, bin da….

…….. Ich höre Nina gerne zu, wenn sie so ungewohnt ernste Worte singt wie:

Harmonie und Recht und Klarheit,
Symphathie und Recht und Wahrheit.
Niemand wird die Freiheit knebeln,
niemand mehr den Geist umnebeln,
Mystik wird uns Einsicht schenken,
und der Mensch lernt dabei denken…

Es ist November und mensch fühlt sich nach Winterschlaf. Nach Wegträumen, nach Abdriften ins Innere, was immer das sein mag, Neid an die Bären! Habt Ihr nicht auch das Gefühl, dass dieser ganze Umtrieb, dieses ganze auf-der-Matte-stehen-für-Erfolg einen Dreck wert ist? Ganz besonders im November?

„Wir sehen einander hungring in die Augen,
in Wintermäntermäntel eingehüllt,
in Düfte aus Retorten redend von einer Feriheit,
die nur auf dem Papier besteht,
während mit Musik das Boot,
in dem alle sitzen schon untergeht.

(Das war vor 30 Jahren!) Noch ist genug auf meinem Konto, um ein paar Monate ‚ohne Sinn‘ zu überstehen. Doch möchte ich gern weiter gehen – ja wohin denn nur?

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Claudia am 27. Oktober 2000 — Kommentare deaktiviert für Kampf, Gewalt, Moral

Kampf, Gewalt, Moral

Ein eloquenter Gast im Forum, der es vorzieht, ein anonymes Schatten-Dasein zu führen (shadow_being), sagt von sich:

Ich bin einer derjenigen, die Spaß am Kampf haben. Zwar nur auf verbaler oder intellektueller Ebene (zugegeben ein schrecklicher Ausdruck) aber dort doch mit großer Ausdauer und Kompromißlosigkeit. Doch selbst auf dieser nicht-physischen Ebene begegne ich ständig den moralischen Instanzen, die für jede Form des Kampfes in dieser Gesellschaft gilt: Widerstände wie Erziehung, Anstand, gutes Benehmen und dergleichen untersagen in vielen Umständen eine Diskussion oder ein Streitgespräch, sprich den Kampf. Man verzichtet darauf, wider besseren Wissens oder wider eigener Neigung. Eigentlich schade, denn wenn hat man schon die Möglichkeit, seine verbalen und geistigen „Marktwert“ zu testen, wenn nicht in einer Auseinandersetzung? Ich mag es, mich in Diskussionen über diese Widerstänmde hinwegzusetzen, zu Mitteln zu greifen, die zwar verpönt aber probate Mittel des Kampfes sind. Ich denke nicht, daß dieses Verhalten einfach in die „Platzhirsch-oder Ego-Schublade“ eingeordnet werden sollte, auch wenn zweifellos ein Machtanspruch und die Pflege des Selbstbewußtseins mitentscheidend für solche Auseinandersetzungen sind. Tatsächlich fühle ich in diesen Situationen auch den Jagdinstinkt, man schätzt den Gegner ab, sieht seine Schwächen, sieht ihn unterlegen und schlägt zu. Ich halte mich für ein gut domestiziertes Raubtier aber das hindert mich nicht unbedingt daran, meine Restinstinkte dann und wann auszuleben und ein Opfer zu „schlagen“ – vor allem, wenn dies völlig unblutig und ohne physische Gewalt von statten geht.

Warum sollte es moralisch einen Unterschied machen, ob da nun physische Gewalt im Spiel ist oder nicht? Körperliche Gewalt ist oft ein Ausdruck mangelnder Verbalisierungsfähigkeit, in sozial schwachen Milieus also häufiger anzutreffen als in besser verdienenden/gebildeteren Kreisen. Sich MORALISCH KORREKTER zu fühlen, bloss weil man in der Lage ist, den anderen mit Worten statt mit Fäusten zu zerlegen, halte ich nicht für legitim.

Ich kenne den Spaß am Kampf gut und hab‘ ihn in Zusammenhängen erlernt und genossen, die erstmal keine großen Moralfragen aufwarfen. Die Hausbesetzungsbewegung Anfang der 80er in Berlin bot ein wunderbares Spielfeld, um sich auszuprobieren. Es ging um „die gute Sache“, die auch vielen nicht-aktiven Berlinern wichtig war, es gab immer ein WIR, auf das ich mich bezog, das mich stützte und vor der Erkenntnis schützte, dass es mir sehr wohl auch um mich, meinen „Marktwert“ und dergleichen sachfremde Benefits ging.

Wie auch immer: Von keinem Zweifel angekränkelt kämpften „wir“ mit fantasievollen Mitteln, die beim Publikum oft aufgrund ihrer Humorigkeit gut ankamen. Doch konnte ich nicht lange darüber hinwegehen, dass der große Erfolg der „Bewegung“ (!) nicht zustande gekommen wäre, wenn da nicht eine Anzahl Leute ordentlich „Randale“ gemacht hätten, Leute, die die gute Gelegenheit nutzten, auf den Putz zu hauen, weil ihnen das Spass machte und ein intensives Kampfgefühl vermittelte. Die „Kunst“ bestand schon bald darin, sich von dieser gewaltbereiten Sub-Szene soweit zu distanzieren, dass man für die Gegenseite Verhandlungspartner sein konnte, sie andrerseits aber subtil zu beeinflussen, so dass sie an den richtigen Stellen, zum richtigen Zeitpunkt und im richtigen Maß zuschlug (weil man ja sonst als Verhandler allen Drohpotentials verlustig ging). Leider gelang das nicht immer so punktgenau, schließlich gab es keine etablierten Machtpositionen, alles wurde in Versammlungen offen ausgetragen.

Das INTENSIVE KAMPFGEFÜHL, das die einen beim Aufheben des Pflastersteins, die anderen beim Einnehmen der Stühle und ins Auge fassen des Gegners erleben, ist offensichtlich ein Wert, auf den mensch nicht so leicht verzichten mag. So schreibt shadow_being auch weiter:

Zu einem gewissen Grad bewundere ich die Leute, die sich über alle Normen hinwegsetzen und ihre Emotionen hemmungslos ausleben. Denn wenn ich mich umsehe, dann sehe ich lauter sedierte Emotionen: verhaltene Freude, gebändigte Wut, gezügelte Lust. Dabei sind es meiner Meinung nach gerade die Emotionen, die unser Dasein als „Krone der Schöpfung“ wirklich intensiv machen können.

Ein uraltes und hochaktuelles Thema, sicher ein Grund, warum Nietzsche derzeit so „in“ ist. Mit 15 las ich Freuds „Unbehagen in der Kultur“ und hatte schon gleich keine Lust mehr, erwachsen zu werden. Wofür, wenn es doch nur bedeutete, alles Intensive zugunsten des Gemäßigten aufzugeben, die „wahren“ Emotionen unter lauter Höflichkeiten zu verbergen?

Mal beiseite gelassen, dass ich mir keine Welt wünsche, in der jeder seinen aktuellen Emotionen nachgeht, ist mir deren „Wahrheit“ doch recht zweifelhaft geworden. Sicher, sie sind da, sie sind das Tierhafte, das Automatenhafte am Menschen. Ihre Zwangsläufigkeit und Bedingtheit mit kühlem Mind zu erkennen und sich nicht von ihnen „übermannen“ zu lassen, scheint mir typisch menschlich. Doch eben nur typisch menschlich im Sinne einer mentalen Einseitigkeit: gerade mal die Großhirnrinde entwickelt und schon wird alles nur noch vom Denken aus beurteilt, der Rest ist Archaik.

Bevor mensch sich „Krone der Schöpfung“ nennen darf, sollte das Problem eine andere, eine bessere, eine innovativere Lösung gefunden haben: Weder neurotisch vermodern in Zahlen & Zeichen, aber auch nicht so tun, als könnten wir ungebrochen fröhliches Raubtier sein. (Wenn ich ‚was finde, werde ich es zweifellos hier aufschreiben… :-)

Siehe dazu auch:
<a href=“https://www.claudia-klinger.de/digidiary/diary00_05_08.htm“>05.08.2000 Vom Kämpfen</a>
<a href=“https://www.claudia-klinger.de/digidiary/diary00_28_06.htm“>28:06:00 Mensch: ein Raubtier?</a>

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Claudia am 17. Oktober 2000 — Kommentare deaktiviert für Der Mainstream deprimiert

Der Mainstream deprimiert

Wie oft habe ich doch schon daran gedacht, mit diesem Diary aufzuhören! Zum Beispiel gestern wollte mir erst gar nichts einfallen, doch als ich dann anfing, über dieses seltsame Gefühl zu schreiben, entwickelte sich ein Text, der mir selber geholfen hat, wieder klarer zu sehen. Dazu muß es mir aber völlig egal sein, ob noch jemand mitliest. Denn gerade bei autobiographischen Themen denke ich, das ödet den Leser gewaltig an. Wenn Boris Becker von seiner Oma erzählt, mag das interessieren, aber die Vergangenheit von XYZ ist doch nun wirklich eine Zumutung.

Bevor ich aber aufhöre, schreibe ich dann doch lieber, was kommt. Und erstaunlicherweise erhalte ich gerade auf solche Artikel interessante Privatmails – das beruhigt mich dann wieder und motiviert dazu, weiter zu machen. Mittlerweile schreibe ich auch schon so lange, daß ich das Digital Diary schwer vermissen würde. Es ist ein stabilisierender Faktor in einer immer chaotischer werdenden Welt.

Gestern Nachmittag hatte ich das erste Mal seit langem wieder Lust, zu arbeiten. Natürlich arbeite ich ständig irgend was, aber seit Wochen mit einem gelangweilt-genervten Grundgefühl, was dazu führt, gerade mal das Nötigste zu tun und auch das noch bis an die Schmerzgrenze vor mir herzuschieben. Ich vermute, das kommt einerseits vom Wechsel der Jahreszeit: Das Absterben der Natur vermittelt so ungefähr das Gegenteil von dynamischem Aufbruch in neue Projekte. Andrerseits liegt es aber auch an der Entwicklung des Webs: Inhalt und Sinn der ganzen Umtriebe sind irgendwie verloren gegangen, abgesoffen in einer immer komlizierter und aufwendiger gewordenen Technik, die im Dienst des E-Commerce alle anderen Intentionen verdrängt. Es REIZT mich nicht, da mitzumachen!

Die durchschnittliche Website ist dreispaltig und ohne Frames, hat aber trotzdem eine lange Ladezeit, weil sie ihre „Contents“ erst aus 17 verschiedenen Datenbanken zusammenstellt. Man landet dort, weil man etwas Bestimmtes sucht, findet aber unter all den blinkenden Bannern und Sonderangeboten, dem ganzen mittlerweile üblichen Verhau aus News, Freemail, Wetterbericht, Auktionen und Börsenkursen kaum noch das, was man eigentlich wollte. Der geballte Angriff zur Zerstreuung meiner Aufmerksamkeit macht einfach nur müde und vernichtet die Motivation, solche „State-of-the-Art-Seiten“ überhaupt noch aufzusuchen. Und ganz sicher will ich sowas nicht produzieren, denn das ist ungefähr so spannend, wie ein buchhalterischer Excel-Job aus vorvernetzten Zeiten.

Es wäre ein gewisser Trost, wenigstens zu hören, daß diese Sites erfolgreich sind und jede Menge Geld scheffeln. Dem ist aber nicht so, die Akteure stehen ratlos vor der Tatsache, daß „inhaltsorientierte“ Sites zwar viele Surfer anziehen, diese dort aber kaum etwas kaufen. Ist ja auch klar: Wenn ich was über die Ebola-Epidemie lesen will, lasse ich mich nicht ablenken und kaufe statt dessen eben mal im E-Shop eine CD. Eine Suchmaschine besuche ich, weil ich bestimmte Webseiten finden will, nicht weil ich eine neue Mailbox brauche oder die Aktienkurse wissen will. (Für die geh ich nämlich gleich zu Consors oder Neuermarkt.de). Kurzum: Der ganze Web-Mainstream geht für mein Empfinden in die Irre und das schon seit einiger Zeit. Dass sich jetzt die Pleiten häufen und Projekte gecancelt werden, bestätigt mich, tröstet aber nicht über die geistige Ödnis hinweg, die sich durch die Ausbreitung der Gemischtwarenläden ergeben hat. Haben sie doch die meisten Leute weggekauft, die früher noch sehr kreativ gearbeitet haben. Selbst der „Nachwuchs“, die Szene der Homepager, ist schwer ausgedünnt, weil sich heute die Leute eher für ein Almosen als Guide bei meome.de oder clickfish.com verdingen und dort versuchen, ein PORTAL zu gestalten, anstatt ihre Power dafür einzusetzen, ihr Interesse im EIGENEN NAMEN zu publizieren. Dabei würden sie mehr lernen und als Person bekannt werden, ohne dass sie die Pleite ihrer Plattform fürchten müßten.

Letztendlich wird sich zeigen, was eigentlich schon immer klar war: Webseiten sind normalerweise KEINE Massenmedien, sondern bedienen ganz spezielle Interessen, das aber perfekter, als alle anderen Medien zusammen. Man kann Unsummen an Werbegeldern ausgeben und allerlei Krempel kostenlos verteilen, um MASSEN anzuziehen – aber letztlich rechnet sich das nicht. Nicht für Unternehmen, die auf Renditen aus sind, wie sie am Aktienmarkt erwartet werden. Ein Netz ist nun mal kein Amphitheater, es eignet sich wunderbar für viele kleine Anbieter, Individuen, die mit viel Engagement „ihr Ding“ machen und dadurch im Lauf der Zeit eine echte Community bilden. Ohne Surfer-Tracking und täglichen Blick auf die Clickraten einzelner Seiten und Banner finden sie ihr Auskommen – WENN sie den Dreh finden, ihre eigenen Interessen so aufzubereiten, dass andere etwas davon haben!

Zum Beispiel die Tinto-Community um Eva Schuhmann. Sie hat angefangen, indem sie ihr Buch Schlank werden – so klappt es! kostenlos ins Netz stellte. Bald fanden sich viele Leser auf einem Webboard ein, Eva bot ihnen das Buch in einer erweiterten Version als Arbeitsmappe (zum kaufen!) an und sorgte durch die Einrichtung thematisch untergliederter Diskussionsboards dafür, dass die wachsenden Bedürfnisse der Community befriedigt wurden. Bald gab es Platz für Selbstdarstellungen, Partnerbörsen für das gegenseitige Coaching und vieles mehr. Und sie begann, Bücher zum Thema zu rezensieren, die man gleich kaufen kann. Dass Eva nicht ihr Leben lang beim Thema „Schlank werden“ stehen bleibt, wundert nicht. Sie hat auch Interesse an Aktien (man kann ihr kommentiertes Depot betrachten), an Gartenarbeit und sie zeigt ihre Lieblingsurlaubsorte.

Nach und nach wirkt die Leitseite rein von der Vielfalt der Themen und Angebote her fast wie einer der üblichen Gemischtwarenläden. Aber nur FAST! Denn man erkennt schnell, dass die „Ordnung“ bzw. Auswahl der Themen nicht abstrakt, nach den Bedürfnissen eines vermuteten Marktes zustande kommt, sondern sich als Web-Geschichte entlang der Intressen eines konkreten Menschen entwickelt hat. Das Ganze lebt von ihrer Person, von ihrem steten Engagement, ihren guten Ideen und ihrer dauernden Kommunikation mit den Usern. Als Meome-Guide hätte sie nie im Leben eine solche Wirkung entfalten können, und ich bin mir sicher, sie nimmt ein Vielfaches von dem ein, was so ein StartUp-Hiwi im besten Fall erreichen kann. Ihre Site muss nicht glatt und durchrationalisiert aussehen und nicht erst 17 Datenbanken abfragen – sie braucht eben auch keine MASSEN, um ihr Auskommen zu haben und mit ihrer Site erfolgreich zu sein. „Erfolgreich“ heisst vielleicht nicht einmal, dass sie wirklich GANZ vom Commerce-Anteil ihrer Site leben kann – doch die Aktivität, die erworbenen Kenntnisses, die entstandenen Kontakte und ihr Ruf haben sicher dazu beigetragen, dass sie finanziell auf anderen Ebenen einen besseren Schnitt macht.

Nun hab ich mich durchs Schreiben wieder selber motiviert, wie schön! Wenn man nur auf den Mainstream blickt, weil der sich in den News und Fachzeitschriften derart breit gemacht hat, als gäbe es nichts mehr anderes, ist es ja kein Wunder, wenn einem die Laune vergeht. 1000 neue Features und Techniken lernen, nur um langweilige Möchte-gern-Massen-Sites mit zu produzieren, war nie mein Ding und wird es auch nicht werden. Das Netz ist groß genug für echte Menschen und ihre Projekte. Dass ihnen der Einstieg heute nicht mehr so leicht fällt wie mir 1996 ist eine Tatsache, die mir allerlei Nischen eröffnet. Kein Grund also Trübsahl zu blasen, nicht wegen dem Web und schon gar nicht wegen dem Herbst. (Gerade scheint wunderschön die Sonne!).

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Claudia am 12. Oktober 2000 — Kommentare deaktiviert für Vom Terror des Kostenlosen

Vom Terror des Kostenlosen

Und wieder ein Tag, an dem mir alles geboten wird, was ein Netzmensch so zum Leben braucht, natürlich völlig KOSTENLOS: Webspace bis zum Abwinken, Foren, Gästebücher und Chats sowieso, Umfragetools, Mailinglisten und Reports über mein Ranking bei den Suchmaschinen, Datenbanken, in denen ich meine Leistungen anbieten kann und Mail-Adressen für die nächsten 1000 Jahre. Die Banken wollen mir immer neue Brokerage-Konten eröffnen, kostenlos, wenn ich mich nur rechtzeitig entscheide. Andere Anbieter machen sich daran, meinen PC auszuweiden: Weg mit den Daten von der eigenen Festplatte, ‚rein ins Netz und auf den kostenlosen Backup-Server. Will ich mit einem Team arbeiten, kann ich dafür schöne Arbeitsumgebungen im Web nutzen, kostenlos, versteht sich. Und bald schon soll ich keine Programme mehr installieren, sondern sie im Web „aufsuchen“ – vermutlich erstmal kostenlos, was denn sonst? Weiter → (Vom Terror des Kostenlosen)

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Claudia am 07. Oktober 2000 — Kommentare deaktiviert für Alt werden II

Alt werden II

Wie sehr mich doch so eine kurze Tour wie der 3-tägige Berlin-Trip aus der Spur bringen kann! Ich brauche immer einen vollen Tag, um anzukommen, erst der darauffolgende Tag ist wieder halbwegs normal. Früher war das anders: mit zwanzig, dreissig hatte ich noch gar nichts „Eigenes“, lebte auch zuhause, als wäre ich auf einer Reise, immer unterwegs, immer unter Leuten, ununterbrochen redend, denkend, wünschend und planend. Alle Energie drückte nach außen, ließ mich in die Welt wachsen. Umgekehrt spürte ich nur wenig, fast nichts. Da mußte schon ein richtiges Drama kommen, oder ein Unfall, eine Krankheit, bevor ich mich mal mir selber zuwendete. Oder ich probierte es mit Drogen, die verläßlich das Bewußtsein veränderten, möglichst spektakulär, möglichst heftig, alleine vermochte ich nichts anzufangen mit den langweilig scheinenden Eindrücken des Real Life. Weiter → (Alt werden II)

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