Claudia am 27. Oktober 2000 —

Kampf, Gewalt, Moral

Ein eloquenter Gast im Forum, der es vorzieht, ein anonymes Schatten-Dasein zu führen (shadow_being), sagt von sich:

Ich bin einer derjenigen, die Spaß am Kampf haben. Zwar nur auf verbaler oder intellektueller Ebene (zugegeben ein schrecklicher Ausdruck) aber dort doch mit großer Ausdauer und Kompromißlosigkeit. Doch selbst auf dieser nicht-physischen Ebene begegne ich ständig den moralischen Instanzen, die für jede Form des Kampfes in dieser Gesellschaft gilt: Widerstände wie Erziehung, Anstand, gutes Benehmen und dergleichen untersagen in vielen Umständen eine Diskussion oder ein Streitgespräch, sprich den Kampf. Man verzichtet darauf, wider besseren Wissens oder wider eigener Neigung. Eigentlich schade, denn wenn hat man schon die Möglichkeit, seine verbalen und geistigen „Marktwert“ zu testen, wenn nicht in einer Auseinandersetzung? Ich mag es, mich in Diskussionen über diese Widerstänmde hinwegzusetzen, zu Mitteln zu greifen, die zwar verpönt aber probate Mittel des Kampfes sind. Ich denke nicht, daß dieses Verhalten einfach in die „Platzhirsch-oder Ego-Schublade“ eingeordnet werden sollte, auch wenn zweifellos ein Machtanspruch und die Pflege des Selbstbewußtseins mitentscheidend für solche Auseinandersetzungen sind. Tatsächlich fühle ich in diesen Situationen auch den Jagdinstinkt, man schätzt den Gegner ab, sieht seine Schwächen, sieht ihn unterlegen und schlägt zu. Ich halte mich für ein gut domestiziertes Raubtier aber das hindert mich nicht unbedingt daran, meine Restinstinkte dann und wann auszuleben und ein Opfer zu „schlagen“ – vor allem, wenn dies völlig unblutig und ohne physische Gewalt von statten geht.

Warum sollte es moralisch einen Unterschied machen, ob da nun physische Gewalt im Spiel ist oder nicht? Körperliche Gewalt ist oft ein Ausdruck mangelnder Verbalisierungsfähigkeit, in sozial schwachen Milieus also häufiger anzutreffen als in besser verdienenden/gebildeteren Kreisen. Sich MORALISCH KORREKTER zu fühlen, bloss weil man in der Lage ist, den anderen mit Worten statt mit Fäusten zu zerlegen, halte ich nicht für legitim.

Ich kenne den Spaß am Kampf gut und hab‘ ihn in Zusammenhängen erlernt und genossen, die erstmal keine großen Moralfragen aufwarfen. Die Hausbesetzungsbewegung Anfang der 80er in Berlin bot ein wunderbares Spielfeld, um sich auszuprobieren. Es ging um „die gute Sache“, die auch vielen nicht-aktiven Berlinern wichtig war, es gab immer ein WIR, auf das ich mich bezog, das mich stützte und vor der Erkenntnis schützte, dass es mir sehr wohl auch um mich, meinen „Marktwert“ und dergleichen sachfremde Benefits ging.

Wie auch immer: Von keinem Zweifel angekränkelt kämpften „wir“ mit fantasievollen Mitteln, die beim Publikum oft aufgrund ihrer Humorigkeit gut ankamen. Doch konnte ich nicht lange darüber hinwegehen, dass der große Erfolg der „Bewegung“ (!) nicht zustande gekommen wäre, wenn da nicht eine Anzahl Leute ordentlich „Randale“ gemacht hätten, Leute, die die gute Gelegenheit nutzten, auf den Putz zu hauen, weil ihnen das Spass machte und ein intensives Kampfgefühl vermittelte. Die „Kunst“ bestand schon bald darin, sich von dieser gewaltbereiten Sub-Szene soweit zu distanzieren, dass man für die Gegenseite Verhandlungspartner sein konnte, sie andrerseits aber subtil zu beeinflussen, so dass sie an den richtigen Stellen, zum richtigen Zeitpunkt und im richtigen Maß zuschlug (weil man ja sonst als Verhandler allen Drohpotentials verlustig ging). Leider gelang das nicht immer so punktgenau, schließlich gab es keine etablierten Machtpositionen, alles wurde in Versammlungen offen ausgetragen.

Das INTENSIVE KAMPFGEFÜHL, das die einen beim Aufheben des Pflastersteins, die anderen beim Einnehmen der Stühle und ins Auge fassen des Gegners erleben, ist offensichtlich ein Wert, auf den mensch nicht so leicht verzichten mag. So schreibt shadow_being auch weiter:

Zu einem gewissen Grad bewundere ich die Leute, die sich über alle Normen hinwegsetzen und ihre Emotionen hemmungslos ausleben. Denn wenn ich mich umsehe, dann sehe ich lauter sedierte Emotionen: verhaltene Freude, gebändigte Wut, gezügelte Lust. Dabei sind es meiner Meinung nach gerade die Emotionen, die unser Dasein als „Krone der Schöpfung“ wirklich intensiv machen können.

Ein uraltes und hochaktuelles Thema, sicher ein Grund, warum Nietzsche derzeit so „in“ ist. Mit 15 las ich Freuds „Unbehagen in der Kultur“ und hatte schon gleich keine Lust mehr, erwachsen zu werden. Wofür, wenn es doch nur bedeutete, alles Intensive zugunsten des Gemäßigten aufzugeben, die „wahren“ Emotionen unter lauter Höflichkeiten zu verbergen?

Mal beiseite gelassen, dass ich mir keine Welt wünsche, in der jeder seinen aktuellen Emotionen nachgeht, ist mir deren „Wahrheit“ doch recht zweifelhaft geworden. Sicher, sie sind da, sie sind das Tierhafte, das Automatenhafte am Menschen. Ihre Zwangsläufigkeit und Bedingtheit mit kühlem Mind zu erkennen und sich nicht von ihnen „übermannen“ zu lassen, scheint mir typisch menschlich. Doch eben nur typisch menschlich im Sinne einer mentalen Einseitigkeit: gerade mal die Großhirnrinde entwickelt und schon wird alles nur noch vom Denken aus beurteilt, der Rest ist Archaik.

Bevor mensch sich „Krone der Schöpfung“ nennen darf, sollte das Problem eine andere, eine bessere, eine innovativere Lösung gefunden haben: Weder neurotisch vermodern in Zahlen & Zeichen, aber auch nicht so tun, als könnten wir ungebrochen fröhliches Raubtier sein. (Wenn ich ‚was finde, werde ich es zweifellos hier aufschreiben… :-)

Siehe dazu auch:
<a href=“https://www.claudia-klinger.de/digidiary/diary00_05_08.htm“>05.08.2000 Vom Kämpfen</a>
<a href=“https://www.claudia-klinger.de/digidiary/diary00_28_06.htm“>28:06:00 Mensch: ein Raubtier?</a>

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