Claudia am 17. Oktober 2000 —

Der Mainstream deprimiert

Wie oft habe ich doch schon daran gedacht, mit diesem Diary aufzuhören! Zum Beispiel gestern wollte mir erst gar nichts einfallen, doch als ich dann anfing, über dieses seltsame Gefühl zu schreiben, entwickelte sich ein Text, der mir selber geholfen hat, wieder klarer zu sehen. Dazu muß es mir aber völlig egal sein, ob noch jemand mitliest. Denn gerade bei autobiographischen Themen denke ich, das ödet den Leser gewaltig an. Wenn Boris Becker von seiner Oma erzählt, mag das interessieren, aber die Vergangenheit von XYZ ist doch nun wirklich eine Zumutung.

Bevor ich aber aufhöre, schreibe ich dann doch lieber, was kommt. Und erstaunlicherweise erhalte ich gerade auf solche Artikel interessante Privatmails – das beruhigt mich dann wieder und motiviert dazu, weiter zu machen. Mittlerweile schreibe ich auch schon so lange, daß ich das Digital Diary schwer vermissen würde. Es ist ein stabilisierender Faktor in einer immer chaotischer werdenden Welt.

Gestern Nachmittag hatte ich das erste Mal seit langem wieder Lust, zu arbeiten. Natürlich arbeite ich ständig irgend was, aber seit Wochen mit einem gelangweilt-genervten Grundgefühl, was dazu führt, gerade mal das Nötigste zu tun und auch das noch bis an die Schmerzgrenze vor mir herzuschieben. Ich vermute, das kommt einerseits vom Wechsel der Jahreszeit: Das Absterben der Natur vermittelt so ungefähr das Gegenteil von dynamischem Aufbruch in neue Projekte. Andrerseits liegt es aber auch an der Entwicklung des Webs: Inhalt und Sinn der ganzen Umtriebe sind irgendwie verloren gegangen, abgesoffen in einer immer komlizierter und aufwendiger gewordenen Technik, die im Dienst des E-Commerce alle anderen Intentionen verdrängt. Es REIZT mich nicht, da mitzumachen!

Die durchschnittliche Website ist dreispaltig und ohne Frames, hat aber trotzdem eine lange Ladezeit, weil sie ihre „Contents“ erst aus 17 verschiedenen Datenbanken zusammenstellt. Man landet dort, weil man etwas Bestimmtes sucht, findet aber unter all den blinkenden Bannern und Sonderangeboten, dem ganzen mittlerweile üblichen Verhau aus News, Freemail, Wetterbericht, Auktionen und Börsenkursen kaum noch das, was man eigentlich wollte. Der geballte Angriff zur Zerstreuung meiner Aufmerksamkeit macht einfach nur müde und vernichtet die Motivation, solche „State-of-the-Art-Seiten“ überhaupt noch aufzusuchen. Und ganz sicher will ich sowas nicht produzieren, denn das ist ungefähr so spannend, wie ein buchhalterischer Excel-Job aus vorvernetzten Zeiten.

Es wäre ein gewisser Trost, wenigstens zu hören, daß diese Sites erfolgreich sind und jede Menge Geld scheffeln. Dem ist aber nicht so, die Akteure stehen ratlos vor der Tatsache, daß „inhaltsorientierte“ Sites zwar viele Surfer anziehen, diese dort aber kaum etwas kaufen. Ist ja auch klar: Wenn ich was über die Ebola-Epidemie lesen will, lasse ich mich nicht ablenken und kaufe statt dessen eben mal im E-Shop eine CD. Eine Suchmaschine besuche ich, weil ich bestimmte Webseiten finden will, nicht weil ich eine neue Mailbox brauche oder die Aktienkurse wissen will. (Für die geh ich nämlich gleich zu Consors oder Neuermarkt.de). Kurzum: Der ganze Web-Mainstream geht für mein Empfinden in die Irre und das schon seit einiger Zeit. Dass sich jetzt die Pleiten häufen und Projekte gecancelt werden, bestätigt mich, tröstet aber nicht über die geistige Ödnis hinweg, die sich durch die Ausbreitung der Gemischtwarenläden ergeben hat. Haben sie doch die meisten Leute weggekauft, die früher noch sehr kreativ gearbeitet haben. Selbst der „Nachwuchs“, die Szene der Homepager, ist schwer ausgedünnt, weil sich heute die Leute eher für ein Almosen als Guide bei meome.de oder clickfish.com verdingen und dort versuchen, ein PORTAL zu gestalten, anstatt ihre Power dafür einzusetzen, ihr Interesse im EIGENEN NAMEN zu publizieren. Dabei würden sie mehr lernen und als Person bekannt werden, ohne dass sie die Pleite ihrer Plattform fürchten müßten.

Letztendlich wird sich zeigen, was eigentlich schon immer klar war: Webseiten sind normalerweise KEINE Massenmedien, sondern bedienen ganz spezielle Interessen, das aber perfekter, als alle anderen Medien zusammen. Man kann Unsummen an Werbegeldern ausgeben und allerlei Krempel kostenlos verteilen, um MASSEN anzuziehen – aber letztlich rechnet sich das nicht. Nicht für Unternehmen, die auf Renditen aus sind, wie sie am Aktienmarkt erwartet werden. Ein Netz ist nun mal kein Amphitheater, es eignet sich wunderbar für viele kleine Anbieter, Individuen, die mit viel Engagement „ihr Ding“ machen und dadurch im Lauf der Zeit eine echte Community bilden. Ohne Surfer-Tracking und täglichen Blick auf die Clickraten einzelner Seiten und Banner finden sie ihr Auskommen – WENN sie den Dreh finden, ihre eigenen Interessen so aufzubereiten, dass andere etwas davon haben!

Zum Beispiel die Tinto-Community um Eva Schuhmann. Sie hat angefangen, indem sie ihr Buch Schlank werden – so klappt es! kostenlos ins Netz stellte. Bald fanden sich viele Leser auf einem Webboard ein, Eva bot ihnen das Buch in einer erweiterten Version als Arbeitsmappe (zum kaufen!) an und sorgte durch die Einrichtung thematisch untergliederter Diskussionsboards dafür, dass die wachsenden Bedürfnisse der Community befriedigt wurden. Bald gab es Platz für Selbstdarstellungen, Partnerbörsen für das gegenseitige Coaching und vieles mehr. Und sie begann, Bücher zum Thema zu rezensieren, die man gleich kaufen kann. Dass Eva nicht ihr Leben lang beim Thema „Schlank werden“ stehen bleibt, wundert nicht. Sie hat auch Interesse an Aktien (man kann ihr kommentiertes Depot betrachten), an Gartenarbeit und sie zeigt ihre Lieblingsurlaubsorte.

Nach und nach wirkt die Leitseite rein von der Vielfalt der Themen und Angebote her fast wie einer der üblichen Gemischtwarenläden. Aber nur FAST! Denn man erkennt schnell, dass die „Ordnung“ bzw. Auswahl der Themen nicht abstrakt, nach den Bedürfnissen eines vermuteten Marktes zustande kommt, sondern sich als Web-Geschichte entlang der Intressen eines konkreten Menschen entwickelt hat. Das Ganze lebt von ihrer Person, von ihrem steten Engagement, ihren guten Ideen und ihrer dauernden Kommunikation mit den Usern. Als Meome-Guide hätte sie nie im Leben eine solche Wirkung entfalten können, und ich bin mir sicher, sie nimmt ein Vielfaches von dem ein, was so ein StartUp-Hiwi im besten Fall erreichen kann. Ihre Site muss nicht glatt und durchrationalisiert aussehen und nicht erst 17 Datenbanken abfragen – sie braucht eben auch keine MASSEN, um ihr Auskommen zu haben und mit ihrer Site erfolgreich zu sein. „Erfolgreich“ heisst vielleicht nicht einmal, dass sie wirklich GANZ vom Commerce-Anteil ihrer Site leben kann – doch die Aktivität, die erworbenen Kenntnisses, die entstandenen Kontakte und ihr Ruf haben sicher dazu beigetragen, dass sie finanziell auf anderen Ebenen einen besseren Schnitt macht.

Nun hab ich mich durchs Schreiben wieder selber motiviert, wie schön! Wenn man nur auf den Mainstream blickt, weil der sich in den News und Fachzeitschriften derart breit gemacht hat, als gäbe es nichts mehr anderes, ist es ja kein Wunder, wenn einem die Laune vergeht. 1000 neue Features und Techniken lernen, nur um langweilige Möchte-gern-Massen-Sites mit zu produzieren, war nie mein Ding und wird es auch nicht werden. Das Netz ist groß genug für echte Menschen und ihre Projekte. Dass ihnen der Einstieg heute nicht mehr so leicht fällt wie mir 1996 ist eine Tatsache, die mir allerlei Nischen eröffnet. Kein Grund also Trübsahl zu blasen, nicht wegen dem Web und schon gar nicht wegen dem Herbst. (Gerade scheint wunderschön die Sonne!).

Diesem Blog per E-Mail folgen…