Claudia am 01. Mai 2022 —

Krieg und lauter Getriebene

Mit einem Aggressor, den Großmachtfantasien treiben, ist offensichtlich nicht zu verhandeln. Das ist das eine – das Andere ist diese Getriebenheit in den Reaktionen darauf. Mir wird dieser Tage klarer denn je, wie irrational so ein Kriegsgeschen ist, nicht nur bei den unmittelbar Beteiligten. Sowohl unsere Regierenden als auch wir Bürger/innen werden vom Geschehen getrieben, sofern wir nicht einfach wegschauen, was allerdings fast unmöglich ist.

  1. Erst heißt es wochenlang, man liefere traditionell keine Waffen in Krisengebiete, also auch jetzt nicht bzw. höchstens ein paar Helme in die Ukraine.
  2. Dann werden es „Verteidingungswaffen“, Panzerfäuste, Stinger-Raketen – aber keine „schweren“ Waffen, bewahre! Es heißt, wir hätten nichts zu vergeben, nur sehr instandsetzungsbedürftige Panzer, die sowieso kein Ukrainer bedienen könnte. Auch würden wir mit der Lieferung schwerer Waffen für Putin zu Kriegsteilnehmern mit der Gefahr, den Krieg zum 3.Weltkreieg zu eskalieren.
  3. Weitere Wochen ziehen ins Land und plötzlich heißt es: Ok, wir liefern, aber im „Ringtausch“ nur an Länder, die ihrerseits ihre Panzer an die Ukraine abgeben.
  4. Und jetzt, nach nochmal einer Woche und vielstimmig formulierter Unzufriedenheit (Presse, CDU, Ukrainer sowieso) also auch direkte Lieferung schwerer Waffen. Die User werden sogar in Deutschland / Rammstein ausgebildet.

Auch mir ging und geht es nicht viel anders. Meine Stimmungen und Meinungen ändern sich, ebenfalls getrieben von den Ereignissen. Noch kürzlich schrieb ich vom plötzlichen „Bellizismus“ etlicher Grüner und Linker, so manche martialische Rede hat mich regelrecht abgestoßen. Andrerseits war mir schon die ganze Zeit über klar, dass die Ukrainer selbstverständlich jedes Recht zur Selbstverteidigung haben – und andere Staaten auch das Recht, sie zu beliefern. Aber müssen wir dabei an vorderster Front stehen? Warum werden WIR so heftig gefordert? Bekommen sie nicht schon massenhaft Kriegsgerät von USA und GB?

Meine eigene Angst ließ mich eher für zurückhaltendes Abwarten stimmen – nicht mutig, nicht standhaft, durchaus kritikwürdig.

Das Lesen des „offenen Briefs“ bekannter Intellektueller hat mir allerdings drastisch vor Augen geführt, wohin diese Denke führt: Ins Abseits! In nicht mehr zu rechtfertigendes Duckmäusertum, verbunden mit kaum bemäntelten Forderungen an die Ukraine, die in der jetzigen Lage geradezu zynisch und unverschämt wirken. Sowas würde ich jetzt auch nicht mehr unterschreiben wollen!

Viele Reaktionen auf diesen Brief erreichten wiederum Tiefpunkte aktueller Debattenkultur, das ist jetzt leider das neue Normal. Aber es gibt auch gute Antworten, besonders heraus ragend der Blogpost von Wolfgang Müller:

Ukraine: Der offene Brief in der “Emma” und warum “Aufrüstung ja oder nein” die falsche Frage ist

Wolfgang schafft es, rationale Argumente und eigene Gefühle so glaubhaft und nachvollziehbar zu verbinden, dass man sich „mitgenommen“ fühlt. Seine Beobachtungen, Argumente und Schlussfolgerungen, versehen mit einer Brise Pathos wirken orientierend, was viele Kommentare bestätigen.

Als Zitat wähle ich ein Stück seiner Analyse unserer bundesdeutschen Befindlichkeit:

„Wir haben uns daran gewöhnt, dass die quälendste Frage lautet, wohin wir wohl dieses Jahr in den Urlaub fliegen und ob wir 2 oder 4 Prozent Wirtschaftswachstum haben. Dass der Tag kommen könnte, an dem man tatsächlich etwas für seine Ideale opfern müsste, für Freiheit, für Selbstbestimmung, kommt uns völlig fremd vor. Fast schon peinlich möchtegern-heroisch. Wir sind den Umgang mit Fanatikern nicht mehr gewohnt, und das macht die Situation so gefährlich. Viele denken, mit einem guten Gespräch und einem dicken Scheckbuch lässt sich eigentlich jedes Problem lösen, mit ausreichend gutem Willen, und können sich nicht mehr vorstellen, dass es Menschen gibt, die tatsächlich weder an Schecks noch an Gesprächen interessiert sind, sondern ausschliesslich an Ideologie, Dominanz und Gewalt. Die keinen Ausgleich wollen, sondern einen totalen Sieg. Mit jemandem, dessen erklärtes Ziel die Vernichtung der Gegenseite ist, lässt sich schwerlich verhandeln. Und der kann auch nicht mit Zurückhaltung besänftigt werden.“

Ihr solltet aber unbedingt den ganzen Text lesen!

Uns allen wünsche ich, dass uns der Himmel nicht auf den Kopf fällt – und einen guten 1.Mai!

Diskussion

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20 Kommentare zu „Krieg und lauter Getriebene“.

  1. Das hier aus dem Beitrag trifft es auch sehr gut: „Was mit der Ukraine passiert, ist das staatliche Äquivalent zu einer Vergewaltigung durch den Ex-Mann, mit angedrohter Vernichtung bei Gegenwehr.“

    Und es werden hierzulande doch tatsächlich noch Diskussionen darüber geführt, ob die Frau nicht ihren Ex-Mann irgendwie verärgert hat. Von Feministinnen! Das nenne ich Mal eine Zeitenwende.

  2. Ich bin nicht so ganz einverstanden mit dem Gedankengang.
    Ich finde, man sollte unterscheiden zwischen Ukraine und Ukrainern. Denn dem Staat Ukraine, denke ich, ist die Weltgemeinschaft nicht verpflichtet. Hier kann geholfen werden, muß aber nicht. Den Menschen in der Ukraine dagegen muß man helfen.
    Das macht militärische Hilfe nicht zu dem Zwang, den die Ukraine (und unsere Politiker und weite Teile der Presse) uns einreden wollen.
    Das nächste ist: Wobei helfen wir der Ukraine? Selbstverteidigung – klar! Dürfen sie und als Staat muß man das wahrscheinlich sogar. Doch wenn Selbstverteidigung gleichzeitig Selbstmord bedeutet – ist das wirklich noch Hilfe?
    Wenn unsere Hilfe dann letztlich dazu dient einen korrupten Oligarchenstaat zu stützen und die Fortdauer des Krieges Hungersnöte (in anderen Weltgegenden) wahrscheinlich macht – ich finde, man darf zweifeln, ob Waffenlieferungen und eine neue Drehung der Eskalationsspirale wirklich hilft.
    Die atomare Option sollte man auch nicht außer Acht lassen

  3. @Thomas: danke, das ist die andere Position, die der aktuell durchgesetzten entgegen steht. (Wobei „Selbstmord“ nicht wirklich passt, sie kämpfen ja). Und genau zwischen diesen beiden schwanke ich – andere sagen: „2 Seelen in meiner Brust“.
    Das mit dem korrupten Oligarchenstaat ist momentan wohl zu Recht nicht relevant. Den müssen sie ändern, sofern sie irgendwann in die EU wollen – ein Thema der Zukunft.

  4. @Thomas Du schreibst, als Staat müsse man sich sogar wahrscheinlich selbst verteidigen. Im Satz darauf setzt Du diese Selbstverteidigung mit Selbstmord gleich. In dem ganz konkreten Fall würde der Verzicht auf Selbstverteidigung den staatlichen Selbstmord der Ukraine bedeuten.

    Die Ukraine wäre dann allenfalls ein Anhängsel Russlands, eines Staates der übrigens laut TI noch korrupter ist. Putin ist ja der Meinung, einen Staat Ukraine gäbe es gar nicht. Mit etwas Glück bekommen die Menschen in der Ukraine ein Staatswesen wie in Weißrussland zugewiesen. Sollten sie das irgendwann nicht mehr wollen, haben sie halt Pech gehabt?

    In Weißrussland wird neuerdings übrigens schon die Planung eines terroristischen Anschlags (die Definition ist hierfür sehr weit gefasst) mit der Todesstrafe geahndet, was heißt: Genickschuss an einem geheimen Ort und anschließend irgendwo verbuddeln, ohne die Angehörigen zu informieren wo.

    Der Staat in der Ukraine und der weitaus überwiegende Teil der Ukrainer haben offensichtlich andere Vorstellungen von der Zukunft. Beide wollen um ihr Überleben und ein selbstbestimmtes Dasein kämpfen. Keine Waffen zu liefern, würde dann, bleiben wir Mal bei dem von Dir gewählten Wording, Beihilfe zum Mord bedeuten.

    Kann man natürlich machen. Aber dann bitte ohne auch nur den Hauch von Moral für sich in Anspruch zu nehmen.

    Von den machtpolitischen Folgen, würde Putin einfach schalten und walten können, wie er will, Mal ganz zu schweigen.

  5. Ich muss zugeben, @Claudia, dass ich mich komplett geirrt habe, was den Einmarsch in die Ukraine betrifft. Das hatte ich nicht für möglich gehalten. Allerdings, das lag auch daran, dass ich die Vorgeschichte, mit dem bereits jahrelang herrschendem Krieg im Donbass.. und den extrem angespannten Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland, nahezu überhaupt nicht kannte. Bei einem solideren Grundwissen wäre ich wahrscheinlich nicht, wenn überhaupt, so überrascht gewesen.

    Anbetracht der derzeit handelnden Parteien würde ich schon sagen, dass wir bereits in einem 3. Weltkrieg angekommen sind. Die Waffen haben sich geändert. Ein Welt-Wirtschaftskrieg, wie er jetzt geführt wird, ist aber gleichfalls in der Lage, ebenso viel Leid und Tote hervorzubringen, wie ein mit konventionellen Waffen geführten Krieg. Atomwaffen halte ich persönlich für eine antiquierte Waffe eines vergangen Jahrhunderts, die aber zum drohen immer noch gut geeignet ist. Angst ist nach einer Einschätzung kein guter Berater.
    Allerdings den Einsatz einer taktischen Atomwaffe in der Ukraine traue ich Putin durchaus zu, halte ihn sogar für wahrscheinlich. Allerdings derart, dass das NATO-Gebiet in keinster Weise tangiert wird.

    Das ist meine Meinung. Alice Schwarzer und deren Briefunterzeichner sind anderer Meinung. Dies gilt es für mich zu respektieren und zu akzeptieren. Demokratie ist ein schwieriges Geschäft. Das habe ich in den letzten 2 Jahren verstanden. Mehrheiten müssen mit den Minderheiten im konstruktiven Gespräch bleiben und alle müssen bereit sein, ihre Positionen zu revidieren. Alles rund um NordStream2 ist dafür das beste Beispiel.

  6. Ich möchte auf ein Interview mit Victor Jerefejew hinweisen, in dem er hauptsächlich die russische Sicht verdeutlicht, die es Volkes, das nie eine Demokratie kennengelernt hat. https://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2022/04/30/ende_der_illusionen_warum_der_westen_russland_nie_verstanden_drk_20220430_2317_1f5c73a1.mp3

  7. Ein hörenswerter Beitrag, @Markus, der in den 11 Minuten nochmals die zivile und kulturelle Unvereinbarkeit zwischen Europa und Russland aufzeigt, der ja auch immer wieder mal in den Medien thematisiert wird.

    Ein echtes Dilemma.

  8. @Markus Vielen Dank für das sehr interessante Interview!

    Ob ein russischer intellektueller Emigrant in Paris die Stimmung des „einfachen Russen auf dem Land“ adäquat wieder geben kann, sei Mal dahin gestellt. Jedem Kulturessentialismus stehe ich dann doch eher skeptisch gegenüber und ob jetzt das Schweigen vieler Russen und die hohen Zustimmungsraten, die Putin genießt, einer russisch-asiatischen Kultur inhärent oder nicht doch eher einer effektiven Mischung aus massenmedialer Gehirnwäsche und repressiven Sicherheitsorganen geschuldet sind, halte ich für zumindest diskussionswürdig.

    Der Hauptpunkt in dem Gespräch ist jedoch, dass er feststellt, dass jegliches Appeasement Putin gegenüber sich als sinnlos erwiesen hat, dass Putin sich von Worten und Verhandlungsbereitschaft nicht beeindrucken lässt, sondern nur von der Anzahl toter russischer Soldaten. Das ist traurig und sehr grausam. Aber sollte das Grund genug sein, ihn machen zu lassen? Zumal er es nicht bei der Ukraine belassen wird.

  9. Einen guten Kommentar zum Offenen Brief gab es bei Küppersbusch, bei dem ich nur Beifall klatschen kann, speziell zum Teil um das Verhalten Scholz´ und auch zur Argumentationslinie gegenüber den Unterzeichnenden dieses Briefes.

    Man mag von Scholz halten, was man will, aber nach wie vor rechne ich ihm hoch an, dass er sich nicht treiben lässt, sondern eben abwägt.

    Und auch da gebe ich den advocatus diaboli gerne zurück, denn so sehr die Sicht z.B. von Behan richtig sein mag, dass Putin und die russische Linie zur Zeit nur die harte Sprache zu verstehen scheint, darf sich anderen diplomatischen Wegen nie verschlossen werden.

    Dabei halte ich die Selbst-schuld-These und den Vergewaltigungsvergleich als Argument zumindest für fragwürdig. Das triggert über das damit vermittelte Narrativ auf emotionaler und moralischer Ebene und das soll ja auch so sein, um etwas zu bewegen im Sinne derer, die ihn ansetzen.

    Mit einem im Stich lassen oder einem Zuweisen von „Schuld“ hat das meines Erachtens nichts zu tun genausowenig wie der reine Blick auf Waffenlieferungen dem suggerierten Bild unterlassener Hilfeleistung entspricht. Wenn wir schon in dieser Kategorie sind, hat auch ein Vergewaltiger Anspruch auf ein rechtsstaatliches Verfahren statt des Lynchmobs oder privater Rache und vorher soll ein Schutz Betroffener durch Dritte nicht über das Maß an Notwehr hinausgehen und nicht mit dem Mord am Täter enden.

    Schon aus dieser Warte sind solche metaphernden Vergleich meist etwas schief. Ob ein Nichtliefern von Waffen beim Gewähren jeder anderen Hilfe über Geld, Lebensmitteln, Flüchtlingshilfe, Medizin etcpp. diesem Bild wirklich entspricht auch gegenüber davon betroffenen Frauen, maße ich mir nicht an zu werten.

    Bisher habe ich jedenfalls den Eindruck, dass die ukrainischen Streitkräfte das auch ohne den Militärschrott made in Germany ganz gut im Griff haben. Zu welcher Seite der Krieg am Ende ausschlägt, ist jetzt ohnehin noch nicht zu sagen. Das Leid der Menschen ist in jedem unschuldig überfallenen und mit Krieg überzogenem Land gleich.

    Die Frage nach dem Liefern von Waffen und allem möglichen Gerät, um den Krieg schnell zu beenden, ist ohnehin ein zweischneidiges Schwert. Es ist klar, dass die russische Aggression schnellstmöglich beendet werden muss. Aktuell können dabei die Unterstützer der Ukraine tun, was sie wollen, es kann von russischer Seite stets so verdreht werden, dass es als „Kriegseintritt“ Dritter zählt. Von daher ist es dann im Grunde auch Rille, ob nun auch D Waffen liefert oder nicht. Deswegen kann man trotzdem so agieren, dass man bei einer momentan eher unwahrscheinlichen Verhandlungsbereitschaft der russischen Seite jederzeit wieder aus der Nummer heraus kommt. Dabei neben der in erster Linie vordergründig in den Medien und von einigen Politikern präsent diskutierten Frage nach Waffen die anderen Kanäle auszuschalten und das Prinzip TINA zu fahren, wäre jedoch politische Dummheit, so sehr sich Putin und die russische Strategie derzeit in einer Sackgasse zu befinden scheinen.

    Weiter gilt es zu bedenken, dass ein „Sieg“ der Ukraine nicht das Ende der russischen Weltmachtpläne sind und trotz aller Beteuerungen eben neben der Hilfe für die Ukraine auch die USA und die EU ihre eigenen Ziele haben in diesem Konflikt. Es ist dabei sehr unwahrscheinlich, dass Russland in so einem Fall dauerhaft Ruhe geben wird und ob bei einem Regierungswechsel die Nachfolger Putins so anders ticken oder gar demokratischere Ansätze Einzug halten würden wie vor dem Krieg in der überfallenen Ukraine, wage ich ebenfalls zu bezweifeln. Es wäre immerhin Zeit gewonnen.

    Ein weiteres Problem dabei ist, dass nicht nur ein autoritäres und profaschistisches Russland eine ständige Gefahr für den Frieden ist. Wie jüngst in Frankreich und anderen EU-Staaten zu sehen war, sind die Rechten auch dort im Aufstreben oder haben in Ländern wie Polen oder Ungarn schon Machtanteile. Soziale und gesellschaftliche Probleme sind dabei immer Treiber auf deren Weg zur Macht und auch ein Frankreich hätte Atomwaffen und damit das Potential, einen Krieg zu entfesseln, so unwahrscheinlich das aktuell erscheinen mag. Von Ländern wie China will ich gar nicht reden, dass ebenfalls autokratisch regiert wird und wirtschaftlich eine ganz andere Kategorie darstellt, was Abhängigkeiten Dritter betrifft.

    Auf jeden Fall ist die zivilisatorische Decke auch außerhalb Russlands sehr dünn und es ist jederzeit möglich, dass sich bei ändernden gesellschaftlichen Umständen ein latenter Nationalismus festigt und so endet wie im Putinschen Russland.

    So als Fazit: Es ist eben nicht sicher, dass der alleinige Fokus auf das Militärische die ultimative Lösung für ein schnelles Ende des Krieges ist, so sehr das momentan so zu sein scheint.

  10. Alle Metaphern leiden darunter, dass sie etwas schief sind. Lassen wir Mal den moralischen Aspekt außer Acht, bleibt noch die machtpolitische Perspektive und da kann noch nur eine unglaubliche Naivität bezüglich Putins Zielen und Methoden diese zu erreichen konstatiert werden. Zu seinen Zielen habe ich hier schon geschrieben und natürlich sind diese bekannt und er und seine Getreuen haben diese selbst oft genug geäußert.

    Es geht ihm mitnichten nur um die Ukraine. Und es geht auch nicht um ein „schnelles Ende des Krieges“. Wenn das das eigentliche Ziel wäre, müssten wir nicht Russland, sondern die Ukraine sanktionieren, am besten noch selbst vom Westen her einmarschieren und das besetzte Land anschließend an Putin übergeben. Dann wäre der Krieg ganz schnell vorbei (und wir hätten wieder viel billiges Gas!).

    Es geht also nicht um ein schnelles Ende des Krieges, sondern darum, dass Putin begreift, dass er scheitern wird. Sobald er das tut, kann man in Verhandlungen treten. Aber vorher reden, im Sinne von darüber reden, den Krieg zu beenden (und eben nicht nur den Krieg in der Ukraine), tut er aktuell nicht, sondern erst bei massiver Gegenwehr, die ihn militärisch ausbremst. Nicht der Westen ist nicht dialogbereit, Putin ist es nicht!

    In der Zeit gibt es ein interessantes Interview mit einem russischen Soziologieprofessor aus Moskau (ich habe mich gefragt beim Lesen, wie lange er noch Professor sein wird). Sein Schlusswort ist eine eindeutige Warnung an alle die meinen, man könne mit Putin reden und ihn zum Einlenken bewegen, solange er noch irgendwie die Möglichkeit sieht, militärisch Erfolg zu haben. Leider liegt der Artikel hinter einer pay Wall.

    „Wir müssen die Lektion des Münchner Abkommens von 1938 lernen: Es gibt keinen Weg, das Biest durch Entgegenkommen zu befrieden und keinen Weg, mit ihm zu leben. Es wird nicht aufhören, uns zu vernichten, wenn es nicht gestoppt wird. Europa muss aufhören, Putin zu finanzieren und sein System im großen Geld baden zu lassen. Die ukrainischen Kinder sterben unterdessen. Es hilft nichts: Das Biest muss besiegt werden.“

    Im Übrigen äußert er sich auch zum Schweigen der Russen, was er eher dem faschistoiden System Putin zuschreibt als einer irgendwie asiatisch-russischen Kultur, die einfach in den Menschen drin sei.

  11. @Claudia Hab Dank dafür. Das ist in der Tat sehr interessant. Insbesondere die wertenden Einordnungen der Reaktionen durch Alice Schwarzer. Was an der Erklärung Julie Zehs im Zeitinterview „bravourös“ sein soll erschließt sich mir jedoch nicht.

    Folgender Artikel fehlt in der Aufstellung (wenn ich ihn nicht übersehen habe). Von Yevgenia Belorusets aus Kiew, also nicht aus dem noch warmen, sicheren Deutschland, im Spiegel vom 30.4.
    https://www.spiegel.de/ausland/ukraine-antwort-auf-offenen-brief-in-emma-diese-leute-verurteilen-uns-zum-verschwinden-a-c4f3dd12-c3b9-4ed9-8a00-7c056cfdf494

    Daraus nur zwei Zitate:

    Dieser Krieg wird nicht von selbst aufhören. (…) Russland kann nur deswegen weitere Gebiete der Ukraine erobern, weil es der ukrainischen Armee an schweren Waffen mangelt. Waffen setzen den Krieg nicht fort, sondern beenden ihn, indem sie seine Bewegung stoppen. Das zwingt den Aggressor zum Aufhören. Genau in solchen Momenten beginnen die Verhandlungen, wo man über die Rettung der Menschen und einen zukünftigen Frieden sprechen kann.

    Die Doppelfunktion von Waffen, dass sie töten aber eben auch Leben retten können, scheint viele unserer Intellektuellen kognitiv zu überfordern.

    Und:

    Über Jahre haben andere Länder über die Verbrechen Putins hinweggeschaut, um ihn nicht zu provozieren. Aber man hat keine Mittel erfunden, keine Argumentation, um Putin von diesem Krieg zurückzuhalten
    Was wird kommen, wenn man Putin sein Handeln weiter erlaubt, verzeiht, zulässt?
    Sind die großartigen Autoren und Autorinnen, Künstlerinnen und alle, die ihre Meinung in diesem offenen Brief teilen, bereit für die drohenden Konsequenzen?

    Darauf habe ich bislang noch keine Antwort gehört, von niemandem.

    Die Ausführungen im offenen Brief und seiner Fürsprecher, dass Putin ein ganz Böser und ein Kriegsverbrecher sei und selbstverständlich dafür bestraft gehöre, sind wohlfeil, solange der Schluss aus dieser Erkenntnis lediglich ist, ihn in der Ukraine einfach machen zu lassen, weil er ja die Atombombe habe. Aus dieser Position heraus können wir ihm gleich die Schirmherrschaft für ganz Europa anvertrauen.

  12. @behan: hab das nur überflogen und gesehen, dass auch die negativen Reaktionen enthalten sind – deshalb fand ich es verlinkbar.
    Dass die russische Armee mit schweren Waffen gestoppt werden kann, ist m.E. einfach eine optimistische Erwartung. Auch dir Russen haben ja Unmengen schwerer Waffen – ich fürchte, das wird alles so weiter gehen bis die Ukraine in Schutt und Asche liegt. Aktuell wurden ja Bahnlinien beschossen, vermutlich um die Lieferung westlicher Waffen zu unterbinden – aber das ist alles nur, was ich lese.

  13. @Claudia Sorry, natürlich ist das verlinkbar. Ich fand nur die wertenden Aussagen sehr interessant. Aber es ist ja auch Alice Schwarzers Publikation. Da sollte das nicht wundern.

    Es gibt übrigens einen neuen offenen Brief, der genau das Gegenteil fordert.

  14. @Claudia

    Dass die russische Armee mit schweren Waffen gestoppt werden kann, ist m.E. einfach eine optimistische Erwartung.

    Dass Putin seine schweren Waffen vor Kiew abziehen musste, haben die Ukrainer weder mit Verhandlungen noch mit Schreckschusspistolen erreicht.

    Man müsste sich umgekehrt fragen: womit, außer mit weiteren und schweren Waffen, ließe sich Putin denn in seinem Vernichtungsfeldzug stoppen? Gute Worte? Höhere Gaspreise? Eine Ode verfasst von Zeh und Kluge und veröffentlicht in der Emma?

    Oder steckt nicht doch hinter dem Aufruf keine (schweren) Waffen zu liefern vielfach der Wunsch, sich selbst keinen Ärger einzuhandeln, ohne Einschränkungen weiter zu machen wie bisher und in der schönen Illusion zu leben, alle Konflikte ließen sich mit schönen Worten lösen.

  15. @behan: soviel darüber zu lesen war, hatte Putin anfänglich die Vorstellung, die Ukraine schnell zu überrennen, Kiew einzunehmen und eine Regierung nach eigenem Gusto zu installieren. Der Widerstand der Ukrainer war jedoch unerwartet heftig, weshalb dieser Plan zunächst nicht aufging. Deshalb der Rückzug zum Zweck der Neu-Aufstellung und nun der umfangreiche Vorstoße im Südosten mit dem Ziel, möglist viel Land zu gewinnen – bei fortdauernder Bombardierung aller erdenklichen Ziele, um die Ukrainer zu demotivieren.
    Dass die Ukrainer anfänglich unterschätzt wurden, heißt nun aber nicht, dass die russische Armee grundsätzlich den Krieg verlieren würde – bei all den Ressourcen, die ihr zur Verfügung stehen! Man hat sich lediglich auf einen längeren Krieg eingerichtet. Es ist doch auch zu fürchten, dass noch ganz andere Waffenkaliber zum Einsatz kommen, wenn Putin zur Meinung kommt, ansonsten den Krieg zu verlieren.

    Was die Unterzeichner/innen jeweils bewegte, kann ich nicht wissen. Persönlich hab ich wie gesagt umgedacht und den Brief NICHT mitgezeichnet (den anderen aber auch nicht). Sollen sie die schweren Waffen ruhig haben, wenn ich auch nicht glaube, dass die Ukraine damit wirklich siegen kann.

    Soweit das Sachliche. Höchst persönlich will ich mal hinzufügen, dass mich der ganze Krieg und natürlich auch unser Hinein-gezogen-Werden ziemlich ankotzt! Ja, ich will am liebsten keinen Ärger und so weiter machen wie bisher – und der Konflikt Ukraine/Russland ist gefühlt einfach nicht MEIN / UNSER Konflikt. Mit beiden Ländern verbindet mich wenig bis nichts, die Ukraine war mir sogar lange komplett unbekannt, bzw. halt eine ehemalige Sowjet-Republik in anhaltenden Trennungs-Kämpfen.

    Dass wir jetzt mit jeder Menge Millionen, mit leichten und schweren Waffen die Ukrainer unterstützen, obwohl das Land nicht mal zur Nato gehört, sowie Sanktionen verhängen, die uns selber schaden – undTROTZDEM dieser Botschafter fortwährend unsere Repräsentanten beleidigt – hey, ich schreibe lieber nicht weiter, wie ich das finde!

    Völlig einverstanden, auch emotional, bin ich mit der Hilfe für die Flüchtenden, zuvorderst für die gebeutelten Ukrainer, aber auch für die Russen, die aus Putins Reich abhauen.

  16. Ab „Soweit das Sachliche… “ würde ich bei Dir unterschreiben.

    Unabhängig davon, wie man zu dem (ersten) offenen Brief steht, wäre die Aufregung nur halb so groß und laut, wenn nicht Alice Schwarzer mit unterschrieben hätte. Die Frau muß ja nur laut atmen, dann hat sie für manche schon wieder zuviel getan… Aber das ist ein anderes Thema und gehört nicht hierher.

  17. Zu glauben, der Krieg (nicht Konflikt!) sei nicht unserer: das ist meinem Dafürhalten nach der Denkfehler. Putins Denken kreist nicht nur darum, dass die Ukraine doch eigentlich zu Russland gehört. Seine Intentionen sind weitaus umfassender und zielen direkt auf die Zerstörung der EU. Alle orthodoxen Staaten gehören in seinen Einflussbereich und am liebsten hätte er eine Eurasische Wirtschaftsunion von Lissabon bis Wladiwostok unter seiner Führung natürlich. Die baltischen Staaten und viele andere osteuropäische auch (Orbans Ungarn natürlich nicht) warnen schon seit Jahren. Ob wir es wollen oder nicht, ob wir einen Bezug zur Ukraine haben oder nicht (sollten wir aber, die Ukraine nicht Russland war das Schlachtfeld des 20. Jahrhunderts): es ist unser Krieg.

  18. Sahra Wagenknecht mit guten Argumenten (völlig unabhängig von einer politischen Partei):
    Waffen liefern, bis die ganze Welt brennt? Was für ein Wahnsinn!
    https://www.youtube.com/watch?v=58qxTjXnPPE

  19. Die hannoversche Regionalbischöfin erhält regelmäßig Briefe, der mittlerweile ältesten Generation. In einem davon heißt:

    „Ich weiß nicht, wie das gehen soll. Diktatoren verhandeln nicht. Sie nehmen sich jedes Leben, das der Feinde und das der eigenen Leute, die oft ja auch noch Kinder sind, als wäre es ihr Besitz. Das ist das Böse.“

    Artikel hier: https://www.zeit.de/2022/19/krieg-traumata-ukraine-seelsorgerin-gefluechtete

    Wie geht man mit solchen Diktatoren um? Reden, Rücksichtnahme, Diplomatie und Kompromisssuche? Hat, wie die letzten 20 Jahre gezeigt haben, nicht funktioniert. Stattdessen haben wir jetzt Krieg.