Claudia am 23. April 2020 —

Die Frage nach dem Sinn

Wie schon im Artikel über das Bogenschießen angemerkt, freut es mich, zu den Wurzeln meines persönlichen Bloggens zurück zu kehren, das Mitte der 90ger mit „Was ist der Sinn des Lebens?“ seinen Anfang nahm und auch noch im Diary-Untertitel „Vom Sinn des Lebens zum Buchstabenglück“ an dieses große Thema erinnert.

Im philosophischen Blog von Bengt V. Fürchtenicht fand ich heute einen großartigen Artikel Corona zwischen Technokratie und Nihilismus, der diese Frage vor dem Hintergrund der Corona- und Klima-Krise umkreist. Ich zitiere einen für mich zentralen Absatz:

„…Es ist ja ein klassiches Luxusproblem, wenn ich jetzt nicht das Konzert meiner Lieblingsband besuchen kann oder wenn meine Lieblingssorte Klopapier ausverkauft ist. Es ist aber in einem ganz anderen Sinne ein Luxusproblem, wenn ich mich an meinen Luxus klammern muss, weil ich mich sonst innerlich leer fühle, wenn ich keinen echten Sinn im Leben sehe und es mir daher an innerer Kraft fehlt, den Verheißungen der Supermarktregale zu widerstehen.

Eine Krise, die den Luxus zum Problem macht, kann nur gelöst werden, wenn im Zuge dessen auch die Leere, die wir sonst mit Luxus füllen, auf andere Weise gefüllt wird – zum Beispiel mit echtem Lebenssinn, der über den Gehalt von Kalender- und Werbesprüchen, über postmoderne Hypermoral und auch über die reine „Anti“-Haltung revolutionären Aufbegehrens hinausreicht.

Die Sinnkrise des Abendlandes ist ein Problem der sogenannten „ersten Welt“ und insofern ein first world problem. Trotzdem ist sie ein ernstes Problem. Die Klimakrise kann nicht gelöst werden, ohne auch die Sinnkrise zu lösen.“

Gestern im RBB gesehen: nach Öffnung der Geschäfte steht eine lange Schlange vor dem ZALANDO-Outlet. Befragt von der Reporterin zum Grund ihres Hierseins sagt eine junge Frau:

„Eigentlich brauche ich nichts Bestimmtes. Morgens ist halt Uni, nachmittags geh ich shoppen.“

Das illustriert doch punktgenau das Sinndefizit, das Bengt anspricht. Was sind wir abseits unseres Konsums? Utopien gibt es nicht mehr. Menschen hierzulande wünschen sich für die Zukunft vor allem den Erhalt des Status Quo, wohl wissend, dass das inmitten der Klimakrise und sich verschärfender Verteilungskämpfe eine eher unwahrscheinliche Zukunftsvision ist – und somit wahrhaft „utopisch“.

Während des „Lockdown“ haben einige zu glauben begonnen, die Auszeit werde ein Umdenken bzw. Umfühlen mit sich bringen: Wer mangels Alternative gelernt hat, sich anderweitig zu beschäftigen, wird vielleicht auch in Zukunft mehr darüber nachdenken, was „wirklich gebraucht“ wird.

Wie es aussieht, kann man sich solche Ideen abschminken. Nicht nur laufen die Geschäftsstraßen gleich wieder voll, Corona hin, Corona her. Wir bekommen auch drastisch wie nie vor Augen geführt, was passiert, wenn kaum mehr konsumiert wird. Das Rad muss sich drehen, the Show must go on, wir MÜSSEN (über-)konsumieren, sonst fällt uns tatsächlich der Himmel auf den Kopf!

Was also tun? Ich weiß es nicht und auch Bengt V. Fürchtenicht bleibt etwas wolkig mit seinem Programm zum Umgang mit der Sinnkrise. Ich habe das dort auch kommentiert, doch freue ich mich überhaupt nicht darüber, dass mir zur Sinnfindung des Abendlands absolut nichts einfällt. Bzw. nur, dass man sich vielleicht darauf verständigen könnte, als „Sinn und Ziel“ zumindest alle Menschen aus krasser Armut zu befreien. Aber selbst dieses „Minimum“ führt in Bevormundungen, totalitäres Denken, neuen Kolonialismus.

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Diskussion

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15 Kommentare zu „Die Frage nach dem Sinn“.

  1. Seit Olga Grjasnowas literarischen Essay „Leben in Watte gepackt“ schminke ich mir eine Änderung ebenfalls ab. Und heute habe ich nach einem 10-tägigem Urlaub arbeitsbedingt wieder quer durch Leipzig gemußt und erlebte eine rammelvolle Straßenbahn, bei der man nicht wußte, wohin sich wenden, damit man einigermaßen schützt und geschützt bleibt. Deutschland ist wieder unterwegs, und wer will es ihm bei diesem Wetter verdenken…

  2. Eine verfahrene Situation! Für mich hat die hier aufgeworfenen Fragen bisher niemand besser behandelt als der „Nicht-nur-Philosoph“ Charles Eisenstein, sowohl vor dem Hintergrund von Corona als auch vor dem der Klimakrise.

  3. @Markus: habe mir den Essay angehört, obwohl ich selten Audio-Werke höre. Sehr gut, unbedingt empfehlenswert! So viele Facetten der Krise aus Sicht von Menschen mit ganz unterschiedlichen Erfahrungshintergründen kommen zur Sprache. Die viel beschworene Solidarität wird als schöne Illusion entlarvt, aber dennoch bleibt der Essay nicht ganz ohne Lichtblicke.
    In der Straßenbahn: habt Ihr keine Maskenpflicht? Die ist ja gedacht für Orte, wo der Abstand nicht eingehalten werden kann.

    @Bengt: was für ein grandioser Text – der von Eisenstein, den anderen hab ich grade noch nicht geschafft und muss ihn vertagen. Er ist mit Abstand das Beste, was ich bisher zur Corona-Krise und all den Dimensionen, in die ihre Wirkung hinein ragt, gelesen habe! Unglaublich inspirierend und erhellend. Dabei setzt er sich auch mit den aktuell gängigen Verschwörungstherorien auseinander, aber auf recht unerwartete Art – spitze!
    Eisenstein öffnet eine Sicht auf unsere modernen Gesellschaften mit all ihrem Wahnsinn, ihrem Trend zu Kontrolle und Sicherheit, der letztlich den Tod bekämpfen soll, ein unmögliches Ziel.
    Ganz pessimistisch ist der Artikel aber nicht, sondern zeigt auch Möglichkeiten der Veränderung auf. Ich bin beeindruckt!

  4. In dem Moment, wo wir auf die Welt kommen, lernen wir die grundlegenden Fähigkeiten, um uns in der Welt so gut es geht zurecht zu finden und zu überleben. Zuerst von den Eltern, später auch von Lehrern in der Schule bis zur jeweiligen Berufsausbildung, wo wir uns das (Fach-)Wissen aneignen, das wir (in der Regel) ein Leben lang anwenden. Manche erlernen auch mehrere Berufe.

    Im Erwachsenenalter kommen dann je nach Interesse noch spezielle Fähigkeiten dazu, wie z.B. irgendein Hobby (Sprachen lernen, Stricken, ein Musikinstrument spielen, Kochen, Joga, Malen, Fotografieren, Schreiben oder was auch immer) und ab einem gewissen Zeitpunkt hat jeder seine ganz eigene Lebensphilosophie und versucht, sich einen „Reim“ vom „Ganzen“ zu machen. Manche können sich auch zeitweise ins „Nichts“ meditieren.

    Die meisten Menschen (mich eingeschlossen!) machen dann in ihrem Leben das, was ihnen neben ihrem Beruf in der Freizeit so in den Sinn kommt (Gespräche mit PartnerInnen, Kindern und Freunden – also Menschen, die einem wichtig sind), was ihnen Spaß macht (Sport, Shoppen, Essen gehen, Kinofilm anschauen, Musik hören, Konzertbesuche, Ausstellungen, Sex usw.) bzw. wo sie sich wohl fühlen (Spazierengehen im Wald, Sitzen im Garten oder am Balkon, die Sonne genießen, „die Seele baumeln lassen“ usw.).

    Das alles geht in einer freien Gesellschaft fast „perfekt“.
    Ein paar „Schönheitsfehler“ bleiben aber noch: Leerlaufzeiten (z.B. Warten auf den Bus oder beim Arzt), Langeweile, eine innere Unruhe oder Leere und das Gefühl von Sinnlosigkeit tauchen zwischendurch auf und das halten die meisten nicht aus.

    Dann stellen viele plötzlich die (vielleicht nur scheinbar!?) wesentlichen Fragen:
    Was soll das ganze?
    Was ist der Sinn dieses bzw. meines Lebens?
    Da muss doch noch etwas kommen, oder nicht?
    War das wirklich schon alles? Echt? Sch****. :)

    Viele Menschen (mich eingeschlossen!) sind in ihren jungen Jahren Suchende, Idealisten und/oder Träumer. Sie hoffen auf eine (meist einfache und klare) Beantwortung auf ihre (philosophischen) Fragen, an eine positive Zukunft (mit Familie, Erfolg im Beruf, Haus im Grünen usw. – das sogenannte „kleine Glück“), den Weltfrieden oder an eine gerechtere Welt, in der alle Menschen glücklich sind. Kurz gesagt: an ein Paradies auf Erden diesseits des Todes, der für einen jungen Menschen noch sehr weit entfernt ist. An ein Jenseits glauben wahrscheinlich nicht mehr wirklich viele.

    Die meisten Menschen finden sich dann mit der Realität, in der sie leben (müssen), ab – was bleibt ihnen schon anderes übrig? Suchende geben (zwischenzeitlich) auf, weil es keine einfachen oder gar keine Letztantworten auf philosophische Fragen gibt, Idealisten sind irgendwann tief enttäuscht und frustriert, weil sie draufkommen, dass sich politisch sehr wenig verändern lässt, außer man wird selbst Politiker und das wollen dann doch die meisten nicht. Und Träumer werden meist sehr unsanft von der Wirklichkeit aufgeweckt. Dann geht auch für sie der (scheinbar?) mühsame Alltagstrott los.
    Ein paar wenige Glückliche sind Wissenschaftler geworden und bringen die Menschheit meist in Detailfragen vielleicht weiter. Noch Glücklichere sind (weltweit) anerkannte Künstler geworden (Musiker, Sänger, Schauspieler, Schriftsteller, Maler, Filmemacher), haben ihr dankbares Publikum und können von ihrer Kunst meist gut leben.

    Was bleibt dann unterm Strich am Ende des Lebens übrig?
    Was lernen wir daraus?
    Was ist der Clou (Glanzpunkt, Kernpunkt) vom Ganzen?

    Ich weiß es nicht.
    Meine persönliche Einschätzung, die ich schon lange habe und immer besser verstehe, ist:
    Der Clou ist, es gibt keinen Clou :)

    Die Realität in ihrer unfassbaren Komplexität ist schon alles, was wir haben. Mehr geht nicht. Die gute Nachricht ist aber: Mehr benötigen wir gar nicht. Diese Komplexität reicht voll und ganz aus. Wer nämlich diese komplexe Realität für sich so wahrnehmen kann, dass es „stimmt“ und daraus „klug“ geworden ist, der stellt sich solche Fragen wie oben formuliert, gar nicht mehr. Die Antworten ergeben sich dann in jedem Moment wie durch ein Wunder ganz von alleine – und diese Antworten sind für jeden anders.

  5. @Günter: ganz toll beschrieben! Ja, so verlaufen viele Leben, du hast es auf den Punkt gebracht! Auch das Fazit am Ende gefällt mir, dem kann ich mich durchaus anschließen.

    Ob das jeweils „reicht“, um ein mittelzufriedenes Leben zu führen, hängt wohl sehr davon ab, wie Einzelne „vom Leben gebeutelt“ werden oder eben nicht. Beginnend mit den Einflüssen in der Kindheit und auch abhängig von Schule, Lehrjahren oder Studium kristallisiert sich heraus, wie man die Herausforderungen des Alltags besteht und bewertet. Deshalb ist und bleibt soziale Gerechtigkeit ein stets weiter zu verfolgendes wichtiges Ziel, denn es haben einfach nicht alle die gleichen Chancen.

    Angesichts der vielen grassierenden Unzufriedenheiten (obwohl DE in vieler Hinsicht vergleichsweise gut da steht) und all der Arten, wie Menschen scheitern, verängstigt, verbittert und wütend werden – und auch wegen der grassierenden Einsamkeit – denke ich manchmal: jeder bräuchte einen persönlichen Coach, eine „Patin für Erwachsene“, die sich ein bisschen kümmern. Das heißt nicht, dass der Kampf um Verbesserungen jeglicher Art auf gesellschaftlicher Ebene überflüssig sei (ganz im Gegenteil! Sowas würde ich nie behaupten!), sondern bezieht sich auf den nicht zu leugnenden Fakt, dass viel Ärger und Elend eben auch durch eigenes Verhalten entsteht.

    Man kann in diesem Land ganz gut leben, manche schaffen das sogar als Hartz4-Bezieher ohne das Amt auszutricksen (setzt voraus, nicht auf dem Konsumtrip zu sein und nicht viel teure „Teilhabe“ zu benötigen). Dennoch wird ohne Ende geklagt und alles in Grund und Boden kritisiert – manchmal bin ich recht fassungslos, was für Anspruchshaltungen z.B. gegenüber Staat und Politik bestehen – und was für Vorstellungen von „Wirtschaft“ Leute haben.

    Na, ein weites Feld! Ich wünsche einen schönen Sonntag!

  6. @Claudia:
    Im Grunde kommen wir beide „am Ende“ unseres Nachdenkens zu einem ähnlichen Ergebnis, glaube ich. Dein „Zwiebelmodell“ finde ich auch sehr passend – ich habe es selbst vor sehr langer Zeit bei einem befreundeten Physiker kennengelernt, der versucht hat, das „Standardmodell“ der Physik philosophisch weiterzudenken, indem er die Teilchenstruktur und die Suche nach einem materiellen „Kern“ auch so beschrieb. Physiker finden (Sub-)Teilchen um (Sub-)Teilchen – und am Ende (das sie natürlich nie erreichen können, behaupte ich einmal so) findet sich „nichts“.

    Andererseits finde ich auch die Sichtweise von, ich glaube @Susanne hat das beschrieben in einem deiner wesentlichen verlinkten Beiträge, sehr einleuchtend und hilfreich. Sie beschrieb, soweit ich mich erinnern kann, den Denkraum als Raum mit vielen Türen, die man mit einem passenden „Schlüssel“ öffnen kann und so von Raum zu Raum weitergehen kann – wahrscheinlich auch ohne Ende.

    Auch die Sichtweise von @Gerhard hat etwas „Richtiges“ an sich, denke ich. Er meint ja, dass es so etwas wie einen „Kern“ geben muss, sonst könnte man gar nicht leben im Alltag. Ich glaube, er meint so etwas wie eine gesunde psychische Stabilität im weitesten Sinne, die natürlich im Alltag unabdingbar ist und auf die niemand verzichten kann. Mit „Nichts“ („Festem“) im Kopf ist es etwas schwer zu leben :)
    Mit dem richtigen „Schlüssel“ lässt sich schon mehr anfangen, glaube ich. Der öffnet vielleicht immer neue Türen und der Weg zur (Selbst-)Erkenntnis kann ein Leben lang sinnvoll und konstruktiv beschritten werden.

    Ob das jeweils „reicht“, um ein mittelzufriedenes Leben zu führen, hängt wohl sehr davon ab, wie Einzelne „vom Leben gebeutelt“ werden oder eben nicht.

    Ja, das sehe ich auch so. Aber positiv gesehen finden sich fast immer Wege, um zur Einsicht einer relativen Zufriedenheit in seinem „gebeutelten Leben“ zu kommen. Der Glaube, dass es anderen ja so viel besser geht, ist ja meistens ein großer Irrtum.

    Ein tibetischer Mönch in einem Kloster mag auf seine Weise innere Ruhe, Frieden und „Erleuchtung“ erlangen – aber das soll er einmal beim Überleben in einer Großstadt wie New York probieren! Ich bin mir ziemlich sicher, dass er daran scheitern wird :)

    Selbsterkenntnis ist inmitten einer „hochkochenden“ und vielfältig vernetzten Zivilisationen wie unserer um mehrere Größenordnungen und Dimensionen schwieriger als in einem einsamen Kloster in Tibet, denke ich.

    Beginnend mit den Einflüssen in der Kindheit und auch abhängig von Schule, Lehrjahren oder Studium kristallisiert sich heraus, wie man die Herausforderungen des Alltags besteht und bewertet.

    Ja, du hast völlig recht. Die entscheidende Frage lautet: Wie bestehe ich die Herausforderungen im meinem Alltag? Die jeweilige konkrete Antwort auf diese Frage lässt sich aber nun mal nicht verallgemeinern. Die schaut bei jedem anders aus.

    Deshalb ist und bleibt soziale Gerechtigkeit ein stets weiter zu verfolgendes wichtiges Ziel, denn es haben einfach nicht alle die gleichen Chancen.

    Jetzt wollte ich in Wikipedia kurz über „Soziale Gerechtigkeit“ nachlesen, um mich inspirieren zu lassen – na bumm! – das ist anscheinend eine große und wichtige Frage mit langer Geschichte, wo schon sehr viele Menschen sehr viel nachgedacht und geschrieben haben.

    Das Nachdenken und Schreiben ist das eine – wie immer geht es aber um das konkrete Tun bzw. Umsetzen. Und da sind wir wieder bei der Erkenntnis, dass das nur in der jeweiligen gesellschaftlichen bzw. politischen Position geht.
    Der einzelne Bürger kann nur eine entsprechende Partei wählen, die in ihrem Programm u.a. „Soziale Gerechtigkeit“ anführt, oder man geht auf die Straße demonstrieren, wenn Wählen nicht (mehr) reicht. Siehst du noch andere Möglichkeiten?

    …persönlichen Coach, eine „Patin für Erwachsene“, die sich ein bisschen kümmern.

    Ja, ein persönlicher Coach als externer Lebensbegleiter für jeden wäre eine positive Utopie – für schwierige Fälle gleich ein Psychotherapeut dazu :)
    Nach wochenlangem Abtauchen in die Tiefen der Online-Kommentare zur „Corona-Krise“ komme ich auch zu dieser (bitteren) Erkenntnis. Da wimmelt es nur so von bedürftigen „Klienten“ und „Patienten“… – eigentlich unglaublich.

    Na, ein weites Feld!

    Ja, ohne Zweifel ein Feld, das noch sehr lange beackert gehört…

  7. „Der einzelne Bürger kann nur eine entsprechende Partei wählen, die in ihrem Programm u.a. „Soziale Gerechtigkeit“ anführt, oder man geht auf die Straße demonstrieren, wenn Wählen nicht (mehr) reicht. Siehst du noch andere Möglichkeiten?“

    In dieser Allgemeinheit stimmt das, aber im Konkreten lässt sich sehr viel mehr machen! Man beginnt einfach, mit anderen Aktiven am konkreten Missstand zu arbeiten, – z.B. sind unzählige Flüchtlingshilfsorganisationen so entstanden. Umwelt-NGOs, Obdachlosenhilfe, Frauenhäuser, viele Selbsthilfegruppen – erst ist es eine kleine Gruppe von Aktiven, man betreibt neben der Arbeit Kommunikation über das eigene Anliegen, die Kritik am Bestehenden, stellt Forderungen, sucht Bündnispartner, sammelt Spenden – und wendet sich auch an in Frage kommende Parteien, sowie die jeweils lokal Regierenden.
    Je nachdem, wieviel Zustimmung und Erfolg die Gruppe hat, kommen evtl. größere Spenden, irgendwann aber auch „Staatsknete“ als Projektfinanzierung (Gemeinde, Land, EU) – und im Einzelfall sogar Dauerförderung. Dann hat man es geschafft! Und wenn das in der einen Gemeinde / Land klappt, machen es andere nach, nun mit vie besseren Voraussetzungen zur Verwirklichung.

  8. @Claudia:

    In dieser Allgemeinheit stimmt das, aber im Konkreten lässt sich sehr viel mehr machen! Man beginnt einfach, mit anderen Aktiven am konkreten Missstand zu arbeiten,

    Ja sicher, wer das echte Bedürfnis bzw. die Motivation dafür hat und (neben anderen Dingen) das als (s)eine Lebensaufgabe sieht, einen Missstand zu verbessern, dann ist das ein möglicher dritter praktischer Weg neben „nur“ Wählen-gehen und Demonstrieren.

    Ich war bzw. bin auch ein Bewunderer der sog. „Open-Source“-Bewegung, die (meist unentgeltlich) schon sehr viel auf die Beine gestellt haben (z.B. Linux und viele andere SW-Produkte). Oder Wikipedia – auch mit ehrenamtlicher Mitarbeit entstanden und eine wirkliche Verbesserung und Bereicherung im Vergleich zu früheren Lexika, die man kaufen musste und schnell veraltet waren.
    Das sind zwar keine direkten Sozialprojekte, die du genannt hast, aber sie ermöglichen die faire Teilhabe und Benutzung von Software/Content – auch das ist gerechter als der Zwang, marktwirtschaftliche Produkte zu kaufen.

    Auch das sog. „Cluetrain-Manifest“, das zuerst 1999 entstanden ist und später dann 2015 erweitert wurde, hat mein Denken sehr geprägt und verändert:

    „Wir sind keine Zuschauer oder Empfänger oder Endverbraucher oder Konsumenten. Wir sind Menschen – und unser Einfluß entzieht sich eurem Zugriff.
    Kommt damit klar.“

    Das Manifest skizziert das Ende der einseitigen Kommunikation. Die Märkte der Zukunft basieren auf den Beziehungen der Menschen untereinander und auf den Beziehungen der Unternehmen zu den Menschen bzw. den Märkten.“

    Das zeigt m.E. den möglichen (unkonventionellen) Aktivismus, den du beschrieben hast, auch sehr gut. Es passiert halt zuerst „etwas“ in den Köpfen der Menschen und erst in der Folge davon werden einige Menschen aktiv und engagieren sich neben festgefahrenen (staatlichen, wirtschaftliochen oder gesellschaftlichen) Strukturen.
    Das gibt mir Hoffnung für eine positive Zukunft…

  9. Das Cluetrain-.Manifest war in den 90gern eine meiner ersten „Bibeln des Internets“ – ein toller Text! Es hat die Marketing-Kommunikation durchaus beeinflusst und kann vermutlich auch als eine gedankliche Wurzel der „StartUp-Bewegung“ mit ihrer anderen Unternehmenskultur gesehen werden (die allerdings nur oberflächlich „anders“ bleibt, wenn das Unternehmen Erfolg hat und wächst).
    In Sachen Open Source WordPress nicht vergessen, auf dem mittlerweile über ein Drittel aller Webseiten laufen. Der kommerzielle Output ist hier riesig, was man den Gegnern von Open Source immer gut vorhalten kann.

    Alle Aktivitäten, die auf persönlichem Interesse, Betroffenheit oder einer Vision beruhen, geben jedenfalls sehr viel Sinnempfinden – verglichen mit dem einfachen Mitmachen in üblichen Jobs, das so viele in die innere Kündigung treibt. Es braucht aber gewisse Voraussetzungen, sich das zu trauen und auf einen Standardberufsweg zu pfeiffen – Ressourcen geistiger und materieller Art, über die nicht alle gleichermaßen verfügen. Bildung, genügend Zeit zum Reflektieren anstatt „Kohle ranschaffen“ zu müssen gehören zuvorderst dazu.

    Das ist mir erst im Lauf der Zeit klar geworden und meine jugendliche Arroganz („dann mach doch einfach was Anderes anstatt nur rumzujammern und auf die Verhältnisse, den Staat, die Anderen zu schimpfen“) ist mir zum Glück weitgehend vergangen.

  10. @Claudia:

    In Sachen Open Source WordPress nicht vergessen, auf dem mittlerweile über ein Drittel aller Webseiten laufen.

    Ja richtig, und auch nicht zu vergessen: der „Apache HTTP Server“, einer der meistbenutzten Webserver im Internet.
    Detail am Rande, das aber m.E. sehr viel über die Haltung und Einstellung von „Open Source“-Entwicklern aussagt und mir seit jeher sympathisch ist:

    „Das Logo der Apache Software Foundation ist die bunte Feder, welche auch die meisten Apache-Projekte schmückt. Der Name wurde aus Respekt vor dem nordamerikanischen Indianerstamm der Apachen gewählt.“

    Quelle

    Auch m.E. interessant ist die innovative Organisationsstruktur dahinter: es handelt sich nämlich um eine verteilte Gemeinschaft bzw. einer „Online-Community“ (…aber wem sage ich das :) – aber es lesen ja auch andere mit, denen das nicht so bewusst ist…)

    „Die meisten Online-Communitys sind dem Grunde nach basis-demokratisch organisiert. Online-Communitys müssen aufgebaut, gepflegt und betreut werden, womit auch Mitglieder betraut werden (siehe Community Management). Je nach Zielgruppe werden die Funktionen abgestimmt und auf die Interessen der Benutzer zugeschnitten. Hierbei sind Rückmeldungen, Anfragen und Ideen von Nutzern erwünscht, da sie zur Steigerung der Attraktivität und Akzeptanz beitragen. Online-Communitys entwickeln sich vor allem dann erfolgreich, wenn ihre treibende Kraft nicht die Marketingidee eines Unternehmens ist, sondern sie aus sich selbst, aus den Wünschen der Gemeinschaft wachsen.“

    Ich bin schon lange tief davon überzeugt, dass die wirklich wichtigen und innovativen Ideen heutzutage alle aus den vielen Gesprächen im virtuellen Raum des Internets entspringen und dort auch weiterentwickelt werden.
    Bitcoin“ ist z.B. auch so eine geniale Idee, die ganz unscheinbar 2007 erfunden wurde – aber das führt jetzt zu weit…

    Alle Aktivitäten, die auf persönlichem Interesse, Betroffenheit oder einer Vision beruhen, geben jedenfalls sehr viel Sinnempfinden –

    Ja, genau so ist es. Und auf dieser „Welle“ kann man sich sehr weit (im besten Fall ein Leben lang) tragen lassen.

    Es braucht aber gewisse Voraussetzungen, sich das zu trauen und auf einen Standardberufsweg zu pfeifen – Ressourcen geistiger und materieller Art, über die nicht alle gleichermaßen verfügen. Bildung, genügend Zeit zum Reflektieren anstatt „Kohle ranschaffen“ zu müssen gehören zuvorderst dazu.

    Ja schon, aber es geht offensichtlich irgendwie, wie die vielfältigen (online- und offline-)Projekte weltweit zeigen. Dass das nicht alle können und auch wollen, ist klar. Diese vielen „Anderen“, scheinbar blind, desinteressiert, oft frustriert und verzweifelt, sind deswegen aber nicht weniger wert – das darf man m.E. nie vergessen.

    Das ist mir erst im Lauf der Zeit klar geworden und meine jugendliche Arroganz („dann mach doch einfach was Anderes anstatt nur rumzujammern und auf die Verhältnisse, den Staat, die Anderen zu schimpfen“) ist mir zum Glück weitgehend vergangen.

    Mir ist auch in letzter Zeit klarer geworden, dass die „Ellipse“ (mit zwei Brennpunkten) in vielen Fällen „perfekter“ ist als ein „Kreis“ (mit nur einem Mittelpunkt). Das soll ungefähr andeuten, dass mir persönlich Gespräche (dazu gehören ja mindestens zwei) einfach sehr wichtig sind – zu Hause, hier oder anderswo. Jedes (gute) Gespräch verhindert bzw. vermindert m.E. (im besten Fall) jede Art von Arroganz und Egozentrik.

  11. falls es jemand interessiert, im Tübinger Timmserver läuft momentan eine Vorlesung: ‚Zwiegespräche: Hölderlin und Heidegger‘

    Ich bin ganz begeistert dabei. Aber zuerst muss ich eure Texte lesen.
    Ottmar

  12. Danke für diesen Text, Claudia. Und auch für die anregenden Links. Auch ich sehe Chancen und verspielte Chancen. Kann mir jemand sagen, was so gut an dem Eisenstein Text sein soll? Habe ihn gelesen und sehe dahinter einen klugen, vor allem aber kreativen Geist, der sich allerlei zusammenraunt. Solche Menschen sind gefährlich, denn sie wissen, dass sie unredlich argumentieren. Seine Pointe ist, dass Corona von Krone kommt und dass das ein Zeichen sein könnte: ‚Eine Corona ist eine Krone. „Was ist die genaue Natur und der Zweck dieser Initiation? Der Name des Virus gibt einen Hinweis: Coronavirus. Neue Coronavirus Pandemie“ bedeutet: „eine neue Krönung für alle“.‘ Frappierend. Dass das Virus so heißt, liegt an den Wissenschaftlern, die fanden, dass seine äußere Hülle wie die Korona einer Sonne aussieht. Das Virus wurde doch nicht von einer außerirdischen Macht geschickt, die sich sagte: „Wir nennen es Corona, damit die Menschen verstehen, was wir ihnen da zuteil werden lassen.“ Ich habe Bedenken, dass solche Texte gerade dem Vorschub leisten, an dem wir im Moment leiden: Krude Phantasmen und Erzählungen, gestrickt aus Halbwahrheiten und Spekulationen. Interessant ist er aber doch und gefährlich gespickt mit recherchierten Faktenhäppchen.

  13. @Gilbert: klug, kreativ – ja, das war es wohl, was mich an dem Text so angesprochen hat. Wo er konkret „unredlich“ argumentiert, ist mir nicht aufgefallen. Er hat halt Meinung – und assoziiert, was du „zusammen reimen“ nennst. Das mit der „Krönung“ hab ich nicht verstanden, ignoriert – aber jetzt, wo du es so hervor hebst, kann ich glatt weiter spinnen: vielleicht ist es eine „Dornenkrone“? Das passt doch dann wieder…
    Nach wie vor sagt er doch auch viel Sinnvolles, was zu der Zeit nicht überall zu lesen war, z.B.

    „COVID-19 ist wie der Aufenthalt in einer Entzugsklinik, durch den ein suchtkranker Mensch aus seiner Alltagsnormalität gerissen wird. Indem eine Gewohnheit unterbrochen wird, wird sie sichtbar gemacht. Damit wird sie von einem Zwang zu einer Entscheidung. Wenn die Krise abflaut, haben wir vielleicht die Gelegenheit uns zu fragen, ob wir in die alte Normalität zurück wollen, oder ob wir während dieser Unterbrechung unserer Routinen Dinge erlebt haben, die wir in die Zukunft mitnehmen wollen. „

    …und manches mehr,

    Aber es stimmt wohl: ich begeistere mich für geistreiche Texte, weil ich so selten welche finde. Liegt wohl an meiner Buch-Abstinenz und daran, dass ich mich zu einem Abo nicht durchringen kann…
    Ganz allgemein fühle ich mich denkerisch unterfordert – vermutlich eine Alterserscheinung, weil man dann selten auf neuartige Gedanke stößt. Da freut es dann schon sehr, wenn ein längerer Text nirgends zu langweilen beginnt und jemand sich traut, viele gesellschaftliche Dimensionen in den Text zu spinnen. Ein Text, der nach „selber gedacht“ aussieht, nicht nach Zusammensschreiben von Selbstverständlichkeiten.

    Einst war Sloterdijk der „Vorzeigephilosoph“, dann wurde es Precht. Nicht dass ich Precht schlecht fände oder Sloterdijk immer toll und richtig, keineswegs. Aber den Abstieg in Sachen „geistreich“ spüre ich – und vermisse etwas. Vielleicht ja nur die schöne Illusionen des Schäume-Schlagens mittels Sprache…

  14. Da kann ich gut mit dir mitfühlen, ich bin sehr offen, was geistreiche Texte angeht und eher unkritisch, weil ich immer denke, dass so etwas nur bereichern kann und assoziatives Denken und Schreiben sich eben von Systematik entfernt und man das in Kauf nehmen muss, wenn man kreativ sein will. Ich bin nur im Moment etwas übersensibel, wenn ich mir überlege, was Menschen aus solchen Texten mitnehmen, die ohnehin eher esoterisch denken oder immen nach dem „Fehler“ bei den „Mächtigen“ suchen. Wir sehen ja solche Menschen jeden Tag in den Nachrichten, die 1 und 1 nicht zusammenzählen können und sagen, die ganze Vorsicht war Blödsinn, denn wo sind denn die ganzen Kranken und Toten? Ich habe Bedenken, dass solche überassoziativen und freien Texte zu anschlussfähig sind für „was auch immer“. Die Stärke der Philosophie ist eben, bei großer Offenheit gerade keine Beliebigkeit aufkommen zu lassen (da ist z.B. Sloterdijk ein Meister). Überall, wo die Offenheit in Beliebigkeit (oder Schaumschlagen) umschlägt, wird es gefährlich, wird die Tür zur Ideologie geöffnet.

    Viele der Dinge, die Eisenstein anspricht (besonders das „Getrenntsein“ – siehe Bruno Latour), sind wichtig und müssen noch viel populärer werden. Auch finde ich es ganz wichtig, dass Denker sich da einschalten, wo wir uns zu schnell unterwerfen und damit die Demokratie angreifbar machen. Aber dort ist dann eben Augenmaß gefordert, damit geistige Autoritäten nicht zu Anstiftern eines Mobs werden (siehe zuletzt Giorgio Agamben).

    Unredlich finde ich bei Eisenstein, dass er zu viel andeutet und spekuliert und sich versucht dagegen abzusichern, indem er sagt, dass er nicht denen oder jenen das Wort reden will, aber… oder indem er sagt, ich spekuliere jetzt mal. Das ist so ein bisschen wie „Man wird doch noch mal fragen dürfen.“ Naja, eben nicht – man muss schon kluge Fragen stellen oder wissen, wann Spekulation gefährlich oder dumm wird. Und dumm wird seine Spekulation mit der Krone: Man kann aus dem Namen eines Virus nicht viel ableiten, aber man kann Menschen, die ohnehin für magische Erzählungen anfällig sind, sehr leicht suggerieren, das Virus sei hier aus einem bestimmten Grund. Ziele, Zwecke u.d.G. lassen sich nicht einfach aus Phänomenen und schon gar nicht aus Namen ableiten, aber Menschen neigen dazu. Diese Neigung zu bedienen ist gefährlich.

  15. @Gilbert: danke für diese großartig klare Differenzierung! Was die „Anschlussfähigkeit“ an Schmaldenker angeht, bin ich allerdings nicht so besorgt, die lesen so einen langen Text doch meist nicht mal zu Ende! Deinen Hinweisen (Latour, Agamben) werde ich mal nachgehen / nachlesen.