Letzte Woche hat sich die Befreiung von Ausschwitz zum 75. mal gejährt. Einer von vielen Zeitpunkten für das Gedenken an die dunkelste Vergangenheit. Ein Anlass, um auf Veranstaltungen und in vielen Medien auf die Verbrechen der Deutschen in jenen Jahren hinzuweisen, die die Welt ins Unglück stürzten.
Die in noch nie da gewesener großindustrieller Manier in extremster Menschenverachtung geplante und durchgeführte Vernichtung von Millionen Juden aus fast ganz Europa, von Sinthi und Roma, Schwulen, Kommunisten und anderen, die dem Regime als irgendwie widerständlerisch vorkamen, verdient es, wieder und wieder erzählt zu werden. Warum?
Damit es nicht noch einmal geschieht, nicht so und auch nicht in ähnlicher Form. Und aus Entsetzen über das, was da im Detail passiert ist und dem daraus wachsenden Respekt vor den Opfern, deren Leiden nicht vergessen werden sollen. Genauso wenig wie die Schandtaten aller Täter und jener, die Ausschwitz und die gesamte Vernichtungsmaschinerie zugelassen, sich oft sogar noch selbst dabei bereichert haben.
Warum fühlen sich manche vom Gedenken genervt?
Bei der Untersuchung dieser Frage lasse ich mal jene außen vor, die das „tausendjährige Reich“ und all die unsäglichen Verbrechen als „Fliegenschiss“ marginalisieren. Ich will mich in diesem Blogpost nicht mit stramm Rechtsradikalen auseinander setzen, nicht mit Holocaust-Leugnern und Relativierern. Es geht mir vielmehr um das Unbehagen am Gedenken, das von ganz normalen, ansonsten jeglicher Nazi-haften Gesinnung unverdächtigen Menschen gespürt wird.
Am besten fange ich da bei mir selber an, sprich: bei meinem jüngeren Ich.
Als in den 70gern Sozialisierte (Abi 1973) bewegte ich mich in kulturell linken Kreisen, ohne selbst besonders politisch zu sein. Der Zeitgeist war so, jedenfalls bei den Jungen: links im Sinne von „gegen alle Unterdrücker“ und für alle Unterdrückten. Man sammelte in den Kneipen per Spendendose „Waffen für Nicaragua“ und das Palästinensertuch war ein beliebtes modisches Accessoire – auch ich trug es gerne. Zwar hauptsächlich, weil es mir gefallen hat, aber dass es auch „irgendwie“ was mit dem Kampf der Palästinenser gegen das übermächtige Israel zu tun hatte, war mir durchaus recht.
Überhaupt Israel: Ich sah nicht ein, dass man die Politik Israels nicht kritisieren dürfen sollte, bzw. warum die „Solidarität mit dem Kampf des palästinensischen Volkes“ etwas Falsches sein könnte. Die ganz besonders Israel-freundliche Haltung des offiziellen deutschen Staats und somit „der Herrschenden“, der Elterngeneration, der Alten und Gestrigen erschien mir als Heuchelei und so überflüssig wie ein Kropf! Was hatten denn „wir Heutigen“ mit den Schandtaten unserer Vorfahren zu tun? Meine Eltern waren bei Kriegsende 18 und 20 Jahre alt, beide keine Ton-angebenden Nazis – und selbst wenn sie es gewesen wären: Warum sollten die deutschen Untaten der Vergangenheit uns Jungen jetzt vorschreiben, was wir zu denken und wie wir uns zu verhalten hätten?
Das phasenweise mal mehr mal weniger intensive „Gedenken“ erschien mir in gewisser Weise auch als Beleidigung: Glaubten die wirklich VON UNS, wir wären im Stande, auch nur im Ansatz vergleichbare Untaten zu begehen? Wir Jungen, die Bürger/innen von heute und morgen, die wir doch gegen Unterdrückung und Ausbeutung in aller Welt antraten (zumindest verbal) standen doch gar nicht in der Gefahr, per Gedenken von Wiederholungen abgehalten werden zu müssen. Neonazis waren damals noch eine marginale Erscheinung und rechte Parteien scheiterten regelmäßig. Es gab also aus meiner Sicht gefühlt keine sinnvollen Adressaten des ständigen „Gedenkens“.
Auf die Nerven gingen mir auch Erlebnisse beim Reisen. Während der Familienferien in Italien in den 60ger- und frühen 70ger-Jahren wurde ich von einheimischen Jugendlichen nicht selten mit „Germania? Ah, Iieetler“ und dem Hitler-Gruß begrüßt. Als wäre Deutschland immer noch Nazi-Deutschland – hatten die denn ein Rad ab? Intuitiv lastete ich dieses Verhalten und weitere, mir aufgedrängte Bezugnahmen aufs 3.Reich dem „ewigen Gedenken“ an und weniger dem kulturellen Nachhall der realen Verbrechen meiner Vorfahren.
Was hatte denn ICH damit zu tun?
Nichts, also war ich genervt. Noch etwas Anderes empfand ich als „irgendwie unangenehm“: Es gab spontane Singe-Runden am Strand, wenn jemand eine Gitarre dabei hatte. Die Jugendlichen aus Italien, Frankreich und England sangen immer auch irgendwelche nationalen Loblieder oder zumindest bekannte Volkslieder. Ich dagegen hatte nichts dergleichen im Gepäck, nur ein unangenehmes Gefühl rund um dieses Fehlen.
Nicht dass ich GERNE leichten Herzens die Nationalhymne gesungen hätte! Ganz im Gegenteil waren wir doch heftigst staatskritisch, antinationalistisch, antiimperialistisch und antikapitalistisch eingestellt -. ja was denn sonst? Jegliche nationale Selbstbeweihräucherung war uns ein Graus, ein NoGo, eine Sünde ewig Gestriger, die nicht aus der Geschichte gelernt hatten, dass es in den Untergang führt, „Deutschland“ zu rühmen. Es wurde nicht einmal benannt, wir lebten in der „BRD“.
Trotzdem war es eine blöde Situation, in diesen Runden aufgefordert zu werden, auch mal „was Deutsches“ zu singen – und dann einfach in einem Konglomerat wirrer Gefühle stecken zu bleiben, unfähig, eine sinnvolle Antwort oder ein unverfängliches „deutsches Lied“ zum Besten zu geben.
NICHT MEINE SCHULD, verdammt nochmal! Was habe ICH damit zu tun? Nichts! Das stand mir oft im Kopf, wenn es ums Gedenken ging. Egal ob es in ritueller, medialer, kulturell tradierter Form auftrat oder dadurch, dass Menschen aus anderen Weltgegenden mich auf die Nazi-Vergangenheit ansprachen.
Das erste Verständnis: Schuld versus Scham
Schuld von mir weisen, das war genau betrachtet der Hauptreflex, der meine Haltung zu „alledem“ kennzeichnete. Schuld waren meine Vorfahren, nicht ich. Damit hatte ich zwar Recht, doch stand diese im Grunde egozentrische Sicht der Dinge wie eine Mauer zwischen mir und einer ernsthaften Auseinandersetzung mit den Geschehnissen und ihren Folgen.
In den 80gern, an einem der vielen Abende, die ich damals in Kneipen zubrachte, kam ich im Gespräch mit meinem Freund (und Mitstreiter im sozialen und politischen Engagement) auf Auschwitz zu sprechen. Wir hatten schon einigen Alkohol intus, der ja bekannterweise das Emotionale verstärkt, und redeten uns in eine ungewohnte Ergriffenheit hinein. Wir stellten uns vor, es würde Ähnliches wieder geschehen und wir als aktuell politisch Unbequeme würden in die Fänge der Täter geraten.
Bierselig und entsprechend rührselig sahen wir uns tief in die Augen und versicherten uns gegenseitig: Nie, nie, niemals würden wir brav an einer Rampe oder vor einer Gaskammer anstehen und warten, bis wir dran kommen! Wir würden uns wehren, solange wir können und uns lieber erschießen lassen, als….
Bingo! Es war nicht gleich in jener Nacht, aber beim nüchternen Erinnern an dieses Gespräch fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Was wir als „Schuld“ im Gepäck haben, haben sie als „Scham“! Für sie, die Nachkommen der Opfer, musste „nie wieder!“ zwangsläufig etwas Anderes bedeuten als für die Nachkommen der Täter. Und eben auch, dass man lieber zum waffen-starrenden Staat wird, der mit seinen Gegnern und Nachbarn nicht immer zimperlich umgeht, anstatt auch nur den Schimmer eines Zweifels an der eigenen Wehrhaftigkeit – und Wehrwilligkeit aufkommen zu lassen!
Und auf einmal verstand ich auch die Berechtigung der Frage, ob ausgerechnet wir Deutschen die Richtigen sind, um Israels Politik zu bewerten…
Die wachsende Selbsterkenntnis im zunehmenden Alter rückte dann auch die jugendliche Selbstüberschätzung ins rechte Licht, die in den Beschwörungen jenes Kneipengesprächs zum Ausdruck kam. Die meisten Menschen sind KEINE Helden (wir waren und sind es auch nicht) und würden alles tun, um noch ein bisschen länger zu leben, fast egal wie. Ignorant und ahnungslos waren wir auch, sonst hätten wir wissen können, wie perfide die Nazi-Schergen die Menschen bis zuletzt darüber täuschten, was man mit ihnen in Wirklichkeit vorhatte. Es war von „Umsiedeln“, „Arbeitslager“ die Rede, in den Gaskammern gab es Dusch-Attrappen, der Vorraum hatte nummerierte Kleiderhaken, „damit man seine Kleider wieder findet“- unfassbar schrecklich, das alles!
Die „Scham“ bei den Nachkommen der Opfer ist deshalb genauso irrational wie das verschwurbelte Verhältnis zur „Schuld“ bei den Nachkommen der Tätergeneration.
Einsicht: Verantwortung, keine Schuld
Seitdem ist meine Aversion gegen das Gedenken immer schwächer geworden bis sie endlich ganz verschwand. Seit den 90gern gibt es ein Wiedererstarken der Rechtsradikalen, das in verschiedenen Wellen kommt, jede größer als die vorherige. Es wird immer klarer, dass jene recht hatten, die wieder und wieder mahnten „der Schoß ist fruchtbar noch aus dem das kroch“ und „wehret den Anfängen!“.
Das ist uns leider nicht gelungen, über die „Anfänge“ sind wir schon hinaus. Doch zeitgleich mit dem zunehmenden Nachdenken über die Gründe, warum das so ist, wird die Befassung mit den Anfängen, den Voraussetzungen und tieferen Gründen der Verbrechen im Nationalsozialismus interessanter und sehr viel selbstverständlicher. Jetzt geht es nicht mehr um MICH und ob und wie ich mich vom Gedenken gemeint fühle. Sondern darum, das gesamte grausige Geschehen vom Start bis zum schrecklichen Ende anzuschauen, zu verstehen, zu begreifen, wie es dazu kommen konnte – um die Parallelen der Anfänge zu erkennen und ihre Weiterungen bekämpfen zu können.
Zunehmendes Alter rückt übrigens auch die jugendliche Selbstüberschätzung jener Kneipennacht ins rechte Licht: Wie ahnungslos und größenwahnsinnig wir doch waren, indem wir ernsthaft glaubten, wir würden im Fall des Falles anders handeln! Die allermeisten Menschen sind keine Helden und tun alles, um noch ein wenig am Leben zu bleiben. Hinzu kommt, dass die Opfer bis zum Letzten darüber getäuscht wurden, was man mit ihnen vorhatte. Die „Scham“, die ich bei den Nachkommen der Opfer erkannte, ist genauso irrational wie das unausgegorene Verhältnis zur „Schuld“ bei uns Kindern und Enkeln der Tätergeneration.
Sich berühren lassen
Letzte Woche hab‘ ich mir viele Dokus angesehen. Auf einmal kam das alles viel näher an mich heran, berührte mich mental und emotional stärker als je zuvor. Das Hinschauen hat mich richtig mitgenommen – und gleichzeitig wunderte mich, warum das früher nicht auch schon so war! Vieles sah ich schließlich nicht zum ersten Mal.
Bin ich empfindlicher, sensibler geworden? Vielleicht ein wenig, aber nach wie vor halte ich die egozentrische Schuldabwehr von früher für den Haupt-Filter, der mir das Entsetzen, die Trauer, den Abscheu und das Mitgefühl vom Leib hielt.
In Folge dieser Revision der doch lange bekannten Tatsachen fühlte ich auf einmal, wie unangemessen und ignorant so manche „vom Gedenken Genervten“ daher reden. So wurde auf Twitter allen Ernstes Ausschwitz mit Gaza oder den chinesischen Uiguren-Lagern verglichen. So mit dem Vorwurf: „heute finden genauso schlimme Dinge (!) statt und ihr befasst euch mit „Gedenken“ an lang Vergangenes!“ Ich hatte gerade „Ein Tag in Ausschwitz“ gesehen, hatte den Überlebenden zugehört und mir kam die Galle hoch!
Zum Beispiel berichtet Maurice Kling, der Ausschwitz und einen Todesmarsch überlebt hat:
„Die SS war angehalten, nicht von „Menschen“ zu sprechen, sondern nur von „Stück“. Verstehen Sie: Sie sagten „Tausend Stück“, als ob wir Ziegelsteine oder Konservendosen wären.“
Für „Stück“ muss man auf Twitter nicht lange nach Parallelen suchen:
„Zu „Corona“ – Das wird schon nicht so furchtbar werden… wenn noch alle Grenzen, Flug- UND Seehäfen für unsere Goldstücke offenbleiben. Nachdenken wäre wünschenswert, denn die Fachkräfte sollen nun nicht an „Corona“ verrecken, nachdem sie so mühsam hergebracht wurden.“
oder:
„Grundrente: Unionspolitiker wollen Start notfalls verschieben, da sie das Geld für unsere Goldstücke braucht“
Mittlerweile kann man sich furchtbarerweise wieder vorstellen, wie es weiter gehen könnte mit den Anfängen und den Fortsetzungen. Ich mache hier aber mal einen Punkt, denn das ist ein anderes großes Thema. Und schließe mit den Worten von Maurice Cling:
„…ein äußerst wichtiger Aspekt: Wie die Nazis die Sprache manipulierten, um die Häftlinge zu entmenschlichen. Denn Dinge haben ja keine Würde und keine Gefühle. Solche Details sind meiner Meinung nach mindestens so wichtig, wie die Bilder von Leichenbergen. Die Welt muss ihre Lehre aus Auschwitz ziehen. Dazu gehört Analyse und das passende Gedenken.“
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Auf Youtube:
- Auschwitz – Bilder aus der Hölle [Doku]
- Befreiung von Auschwitz (altersbeschränkt)
Dieser Dokumentarfilm enthält alle Filmaufnahmen, die sowjetische Kameramänner nach der Befreiung von Auschwitz zwischen dem 27. Januar und dem 28. Februar 1945 gedreht haben.
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29 Kommentare zu „Vom Unbehagen am Gedenken“.