Immer wenn ich eine Packung Salatmix öffne, bewundere ich die Leistungen des Systems, das mir diesen „Schlaraffenland-Moment“ ermöglicht:
- Verschiedene Blattsalate in unterschiedlichen Farben und Formen, oft auch mit Mangold, Baby-Spinat und den jungen Blättchen roter Beete.
- Das sieht nicht nur hübsch aus und versorgt mich mit vielerlei Vitalstoffen, sondern ist auch noch „gewaschen und verzehrfertig“, so dass die Zubereitung eine Sache von Minuten ist.
- Die anfänglich noch übel riechende Schutzatmosphäre in diesen Packungen ist mittlerweile geruchlos – ein Zeichen, dass „das System“ ungemein schnell auf Kritik reagieren kann, die die Freude am Produkt mindern könnte.
Als Single-Haushault könnte ich mir die Salat-Vielfalt der Packungen niemals selbst herstellen. Ich müsste Salate in Mengen kaufen, die den Bedarf weit überschreiten, was finanziell und abfalltechnisch unsinnig wäre. Das System beschert mir also einen Luxus, der nicht mal teuer ist – was will man mehr?
Ist Marktwirtschaft gleich Kapitalismus?
Wer nun meint, das kreative Salatmix sei doch ein Produkt der Marktwirtschaft, die nicht zwingend auch Kapitalismus bedeuten müsse, begibt sich auf den Weg politischer Spekulation (nix dagegen!), die vom Stadium der Durchsetzung und des Ausprobierens zumindest noch weit entfernt ist. Bisher hatten und haben wir Marktwirtschaft immer nur im Kapitalismus:
- zunächst als soziale Marktwirtschaft im „Rheinischen Kapitalismus“
- und heute als „radikalisierten“ Markt im Finanzkapitalismus, der auf dem „neoliberal“ genannten Denken basiert, das seit mehr als 30 Jahren die einstigen Errungenschaften der sozialen Marktwirtschaft erfolgreich zerfrisst.
Das Gewinnstreben gehört zur Marktwirtschaft, das Profitstreben (=Streben nach Kapitalrendite) zum Kapitalismus. Da Kapital zur Erzeugung von Gütern zwingend gebraucht wird, wundert es nicht, dass beide Begriffe oft als Synonyme gebraucht werden, auch wenn das streng genommen nicht stimmt.
Wir brauchen mehr als guten Salatmix!
In die Theoriegebäude will ich jetzt aber gar nicht einsteigen, sondern die Praxis betrachten, die eben nicht nur Vielfalt in Sachen Salate beschert, sondern auch jede Menge Schäden im Dienste des Gewinn- und Profitstrebens anrichtet:
- Investiert wird da, wo die Gewinnchancen am Größten scheinen, nicht dort, wo es sinnvoll wäre: Da „entdeckt“ z.B. der Milliardärssohn Benjamin Kahn die Rummelsburger Buch in Berlin als tollen Standort für sein Unternehmen „Coral World International (CWI). Trotz des vielfältigen Widerstands vieler Anwohner gab die BVV Lichtenberg mit den Stimmen von SPD und DIE LINKE dem Vorhaben, einen Wasserpark mit Korallenriffen zu errichten, per B-Plan grünes Licht. Soviel Investorengeld wiegt halt schwerer als die Infrastrukturbedürfnisse der Bürger. Dass es in Berlin mittlerweile auch viel Unmut über immer mehr Tourismus gibt – geschenkt! Dass es aufgrund anhaltender Trockenheit künftig an Wasser mangeln könnte – ach, wer denkt denn an sowas! In Brandenburg oder Mecklenburg wäre so eine Attraktion immerhin ein Segen – aber dahin geht der Investor nicht, weil sich das Kapital dort deutlich langsamer vermehren würde.
- Im Kleinen findet Ähnliches statt: da hat ein indisches Restaurant großen Erfolg, prompt machen im selben Stadtteil 30 weitere auf. Alsbald haben die Leute genug von den vielen „Indern“ und 25 machen pleite. Ihre Restaurants übernehmen andere (vegan, rohköstlich, Thais..), Einrichtung und Ausstattung kommt raus, alles wird neu gemacht. Und wieder und wieder und wieder, in immer kürzeren Abständen. Was für eine Verschwendung, während andere Bezirke leer ausgehen!
- Ressourcenverschleuderung ist auf vielen Ebenen Kennzeichen kapitalistischer Produktion: Immer kürzere Produktzylen mit geringerer Haltbarkeit, Abschaffung der Reparierbarkeit und die strukturell „normale“ Missachtung jeglicher Nachhaltigkeit (gegen die auch das beliebte „Greenwashing“ nicht hilft). Gegen ein Produkt, das am Markt Erfolg hat, stehen viele andere, die floppen, für die also alle eingesetzten Ressourcen umsonst waren.
- Vermüllung und Verschmutzung der Umwelt hier und weltweit – Massentierhalter verseuchen mit überflüssiger Gülle das Grundwasser und gefährden mit ihrem Antibiotika-Einsatz die Gesundheit von uns allen. Der viele Müll, der in den „entwickelten“ Gesellschaften anfällt, wird in arme Länger exportiert und versifft dort die Landschaft. Die Meere sind voller Plastik, weil die Produzenten die Verantwortung für das Verpackungs- und Verbrauchsmaterial leicht auf andere abwälzen können. In die Preisgestaltung geht das Beseitigen der Schäden durch Müll jedenfalls nicht ein, das wird exportiert bzw. sozialisiert.
- Extreme Mietpreissteigerungen gefährden den sozialen Frieden: Nicht mehr nur Geringverdiener, sondern auch durchschnittliche „Normalverdiener“ können die extrem steigenden Mieten in vielen Städten nicht mehr bezahlen. Hier sieht man gut, wie gerade das Funktionieren des Marktes (hohe Nachfrage = steigende Preise) sozial unerwünschte Folgen zeitigt. Wenn nurmehr Reiche in den Städten leben können, geht die Gesellschaft den Bach runter und die begründete Wut und Unzufriedenheit wird sich politisch auswirken – nicht immer auf allgemein wünschenswerte Weise.
- Leistung lohnt sich nicht, obwohl die Vertreter des „freien Marktes“ das ständig behaupten. Die am meisten schuften (Lieferdienste, Pflegekräfte, Küchenhilfen und Gastronomie-Personal) verdienen am wenigsten, immer weniger in Vollzeit sozialversicherungspflichtig Beschäftigte können wegen zu niedriger Löhne mit einer Rente oberhalb der Grundsicherung rechnen. Warum der Lohn der Lieferanten wohl nicht steigt, obwohl die Nachfrage boomt? Auf einem funktionierenden Markt wäre das doch zu erwarten – ich nenne das also Marktversagen!
- Der Privatisierungswahn macht die Gesellschaft kaputt: Es gibt immer weniger Orte, an denen man sich trifft, ohne (oft hohen) Eintritt zu bezahlen oder konsumieren zu müssen. Der öffentliche Raum schrumpft und geht ins „Hausrecht“ kommerzieller Betreiber über. Doch von den 69 Shopping Malls in Berlin stehen viele schon wieder weitgehend leer – aber was solls, es werden weiterhin neue Malls geplant, während der Bedarf an nicht durchkommerzialisierten Einrichtungen (Kitas, Schulen, Werkstätten, Ateliers, freie Kunst & Kultur) immer weniger gedeckt wird.
- Verarmung: Das einstige Versprechen der sozialen Marktwirtschaft „Wohlstand für alle“ ist gebrochen, heute gilt statt dessen „Stütze für viele“, nämlich für immer mehr Menschen, die Hartz4 oder Grundsicherung beantragen müssen.
Wenn also in einem solchen Umfeld ein JUSO-Vorsitzender mal wieder die Systemfrage stellt, ist das – eigentlich – kein Grund zum Hyperventilieren, sondern sehr verständlich. Die Frage ist doch eher: Warum erst jetzt? Nils Minkbar bringt im SPIEGEL („Das Tabu, das er bricht„) die Dinge auf den Punkt, indem er der „entfesselten Herrschaft des Kapitals seit dem Fall der Mauer“ zu Recht bescheinigt, sie sei
„…nicht besonders kompatibel mit dem Ziel einer lebenswerten Umwelt, einem verträglichen Klima und schließlich unseren eigenen Werten. Das spricht längst nicht gegen einen tüchtigen Markt, der für viele Annehmlichkeiten sorgt und etwa auch Meinungsvielfalt garantiert, denn auch die Freiheit der Presse, auch dieser Publikation, ist Akteur und Produkt des Marktes. Aber diese sinnvolle Einrichtung ist zum Herd einer Ideologie mit fanatischen Zügen geworden. Die Maximierung der Leistung, die Optimierung des Einzelnen und die Verherrlichung reicher Menschen sind zur modernen Ideologie geworden, die zu einer völlig verzerrten Wahrnehmung dessen führt, was bei uns eigentlich los ist.“
So kann es nicht weiter gehen, bzw. es wird ganz FURCHTBAR, wenn es so weiter geht. Und jene, die schon das Nachdenken über Alternativen mit einem Shitstorm begrüßen, zählen zu jenen 1 bis 10%, die derzeit Kasse machen zu Lasten der vielen, die kaum mehr über die Runden kommen. Oder stehen zumindest in ihren Diensten bei gesicherten, gut dotierten Einkommen, vertreten also trotz aller Kollaeralschäden den Schutz von Kapital und Eigentum, um ihre Stellungen nicht zu verlieren.
Also ja, Kapitalismus ist geil, ABER auch sehr sehr schädlich. Wie man ihn neu eingrenzt, muss diskutiert und dann umgesetzt werden. Und zwar eher zügig als auf die lange Bank geschoben.
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9 Kommentare zu „Kapitalimus ist geil, aber….“.