Claudia am 20. Juli 2001 —

Der Bär tobt

Aus der Nebenwohnung Techno, Trance, Sound pur, das Wummern der Maschine, doch in einer erträglichen Form, das Maschinenhafte in mir wohlig ansprechend. Ich wippe auf dem Stuhl vor und zurück wie ein orthodoxer Jude im Gebet. Fühlt sich satt an, heimelig.

Am Prenzlberg lassen sie gleich die Kuh fliegen, aus vierzig Meter Höhe stürzt der Aktionskünstler Flatz eine tote Kuh vom Hubschrauber in eine Baugrube, wo sie dann – pyrotechnisch angereichert – explodiert, während der Künstler „blutüberströmt“ an einem Kran hängt und lacht. Ich bin nicht dabei, stelle es mir aber bildlich vor – igitt! Eigentlich wollte ich ja heut‘ ausgehen und im Dharmakaya e.V. den Vortrag von Lama Dechen hören: „Nirvana, kann ich wirklich Leid beenden?“ – aber auch gestern schon hab ich’s nicht ins Zeit-Los geschafft, zum „Lachen nach Lachübungen des indischen Arztes Dr.Kataria“. Die Möglichkeit, diese Veranstaltungen aufzusuchen, reicht mir meistens völlig aus, ich muß es nicht wirklich machen.

Gestern an der Tankstelle stand da Wolfgang Thierse, schon recht naß, trat von einem Bein auf’s andere und fand kein Dach gegen den heftigen Platzregen. Spontan grüßte ich ihn, war auf dem Weg zur Toilette, deren Schlüssel man nur zusammen mit einer großen leeren Weichspülerflasche bekommt, eine Vorsichtsmaßnahme gegen das Vergessen. Ich wollte ihm schon anbieten, ihn irgendwohin zu fahren, man kann ja selten ‚was für seine Abgeordneten tun, aber als ich aus der Toilette kam, war er weg.

Berliner Abendschau, natürlich wieder Bankgesellschaft, Sparmaßnahmen, dann Entrüstung über die tot Kuh, deren Flug vom Senat gefördert wird. Eine einstweilige Verfügung, die eine 13-Jährige beantragt hatte, ist abgelehnt: Man muß es sich ja nicht ansehen. Ich finde, Kunst darf provozieren, sofern das noch gelingt, darf auch ein Sakrileg begehen – aber nach den Bergen mit zigtausend brennenden Kühen in England ist die Pyro-Kuh völlig überflüssig, reine Flatz-PR.

In der Küche kann man die Stimmen der Nachbarn hören, ganz nah. Die Worte verschwimmen gottlob, doch die Gefühle kommen an. Erst glaubt man, Zeuge eines Streits zu sein, doch bald wird klar, daß das der ganz normale Umgangston ist. Von oben das schon bekannte Stampfen, da tritt jemand seinen Frust in den Boden, daß die Decke zittert. Wie es den Menschen doch zeitlebens gelingt, andere zu finden, um gemeinsam noch schlechter dran zu sein als allein. Warum gehen sie nicht auseinander, warum spielen sie füreinander so bereitwillig den Fußabtreter?

Von rechts das Rollen der Straßenbahn, beim Bremsen quietscht es ein wenig. Autos rollen suchend umher. Parkplätze sind um diese Zeit eine Seltenheit, besetzt von den Gästen der Simon-Dach-Straße, in der jeden Abend der Bär tobt.

Ich lasse ihn toben. Ohne mich viel aus dem Zimmer zu bewegen, sitze ich mitten im Geschehen, umstellt von Möglichkeiten, umgeben von Ereignissen und fühl‘ mich glücklich. Wie sonderbar.