Claudia am 28. September 2000 —

Wer schreibt?

Bin ich wirklich die „Autorin“ meiner Texte? Gestern zum Beispiel hab‘ ich mit dem Schreiben begonnen, ein Satz ergab den anderen – genau wie jetzt. VORHER habe ich keinen Plan, allenfalls einen Eindruck aus dem Augenblick, ein Gedanke kommt vorbei, und noch einer und noch einer – ich spüre nicht, dass ich etwas tue, von dem ich sagen könnte: DAS ist meine Arbeit als Schreiberin, hier wähle ich aus, da prüfe und verwerfe ich, das hier halte ich für wahr und schreibe es deshalb hin, das andere habe ich abgelehnt, es kommt mir nicht in den Editor… Je mehr ich mich in dieses Rätsel versenke, desto verrückter kommt es mir vor. Dann denke ich an die Leser, Himmel nochmal, das ist dann ein Einbruch, eine Hemmung, der Fluß stoppt, denn ich fühle MICH gefordert und offensichtlich kann ich sowas wie „mich“ nicht bieten, gar nicht auffinden, es ist nur eine Gewohnheit, zur Schreiberin ICH zu sagen, aber was heisst das schon?

Wenn der Fluss stoppt, lese ich den Satz, vielleicht den ganzen Absatz noch einmal, danach geht es dann problemlos weiter, es schreibt wieder… Das erinnert mich an die Zeit, als ich noch Gitarre spielte. Ich hatte einige komplizierte Stücke gelernt, mühevoll, Takt für Takt, nach Noten, die ich keineswegs fliessend lesen konnte. Musste mir alles erst ausrechnen, umständlich die jeweils richtige Stelle für den richtigen Finger der linken Hand finden und dann das Ganze auswendig lernen. Irgendwann aber KONNTE ich das Stück, die Hand hatte es gelernt und wusste jetzt ganz alleine, wo es lang ging. Wenn ich dann das Stück mal eine lange Zeit nicht mehr gespielt hatte, gab es nicht den Schimmer einer Chance, mich vom Kopf her an die Noten zu erinnern. Die Haltung einnehmen und sich in einen leeren Zustand versetzen, das Stück innerlich hören – das war alles, was ich „tun“ konnte, die Hand legte dann plötzlich von selber los und spielte all die komplizierten Griffe, die ich längst vergessen hatte.

Gedankensprünge…

Lerne nie den Autor kennen, den du bewunderst – ich habe vergessen, wer das geraten hat, doch ich weiss, was er meint. Texte wirken aus sich selber so perfekt, und man überträgt diese Perfektion auf den Autor, fordert sie von ihm ein. Wer SO ETWAS gedacht und auch noch hingeschrieben hat, muss doch auch sonst ein sagenhafter Typ, eine tolle Frau sein! Und womöglich geht mensch dann zu einer Lesung und dort sitzt so ein nervöser kleiner Mann mit schütterem Haar, Kettenraucher ohne Nachschub, Stimme ohne jeden Sound… Das ist nur ein Beispiel, nicht selbst erlebt, ich gehe nicht zu Lesungen, doch lerne ich natürlich manchmal Menschen kennen, deren Texte ich schätze. Und ich versuche – welch‘ idiotisches Bemühen! – selber nur Texte zu verfassen, die ich auch leben kann. Also keine großen Weisheiten, keine festen Behauptungen, keine ein-für-allemal-Rezepte, ja, manchmal, wenn es mich überkommt, verweigere ich es mir, sprachlich brilliant zu sein. Denn: Mein Zimmer ist auch nicht brilliant und die Klamotten, in denen ich hier vor dem Monitor sitze, würde ich nicht mal bei einem Behördenbesuch tragen.

Glauben andere Schreiber eigentlich, sich mit ihren Texten zu retten? Wollen sie den vollkommenen Text gegen die eigene Unvollkommenheit setzen? Und damit dann womöglich „unsterblich“ werden? Ein Glaube aus einer anderen Zeit, sofern ihm überhaupt noch jemand anhängt. Oder ist doch etwas dran? Etwa in dem Sinne: Unsterblich ist nur das, was nie gelebt hat. Mathematik zum Beispiel – aber ein Text?

Alles Unsinn. Texte handeln doch vom Leben, sonst sind sie langweilig. Trotzdem stellt sich die Frage: Wer erlebt das? In jedem Moment bin ich ein Knoten zwischen unendlich vielen Einflüssen, angefangen beim Wetter bis hin zu dem Gedankenstrom, der unaufhaltsam durchs Gehirn tobt. Indem ich da nun etwas herausgreife und als „Ereignis“ berichte – schaffe ich dadurch nicht selbst das Ereignis als ein vom großen Rest abgegrenztes Geschehen?

Letztes Jahr hab‘ ich mir eine Digitalkamera gekauft. Ich dachte, ich würde viel damit fotografieren, sie ist ja recht handlich, nicht so ein Trumm wie zu Zeiten der Spiegelreflex-Ausrüstung. Fakt ist, dass ich sie nie mitnehme, wenn ich ausgehe oder wegfahre, wenn es also womöglich etwas Besonderes zu sehen oder zu erleben gibt. Es kommt mir vor wie eine Versündigung, einem Sonnenuntergang oder einer schönen Landschaft mit Kamerablick und Jäger-Klick entgegen zu treten. Schlimm genug, dass ich den Sonnenuntergang – auch ganz „unbewaffnet“ – gedanklich kommentiere, während er stattfindet. Das trennt mich vom Geschehen wie eine undurchdringliche Milchglasscheibe. Dem kann ich zwar entgegenwirken, indem ich mich körperlich verausgabe, doch bin ich verdammt träge und bequem und verzichte in der Regel dankend auf den Einbruch der Wirklichkeit, den der Moment der Entspannung nach einer Anstrengung verschafft.

Tja, so fliessen die Worte in die Tasten und wenn mich jemand fragt, warum ich das mache, weiss ich es nicht.

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