Claudia am 12. August 2000 —

Real Life kann weh tun

Die Liste Netzliteratur ist meine Lieblings-Community: Anders als in vielen anderen Mailinglisten, die sich durch ihren rauhen Ton und ständige „Hahnenkämpfe“ auszeichnen, gehen die Leute meist freundlich miteinander um. Klar, es wird auch mal gefrozzelt, es gibt Phasen der Langeweile und Mails, die kein Newcomer verstehen kann, aber alles in allem ist es doch „eine fröhliche Schar“, viele Mitglieder kennen sich persönlich (f2f) und arbeiten in manchem Projekt zusammen.
Als vor ein paar Tagen ein paar Neu-Einsteiger, jegliche Nettiquette ignorierend, in die Liste „bretterten“ und mittels provozierender Sprüche die Runde ein wenig aufmischen wollten, wirkte das zunächst als ganz willkommene Belebung. Schliesslich dient so eine Liste ja auch der platten Unterhaltung: als Unterbrechung im Arbeitstag guckt man mal rein, was denn so los ist…

Die Neuen, allesamt Mitarbeiter eines netzbekannten Satire-Magazins, fielen nicht nur durch ihren agressiven Ton, sondern auch durch ihre Ahnungslosigkeit auf: Offensichtlich hatten sie keinerlei Beziehung zum Thema Netzliteratur und wussten nicht so recht, über was reden. Dass das aber auch gar nicht in Ihrer Absicht lag, sollte die Liste noch zu spüren bekommen.

Ich ignorierte die Neuen weitgehend. „Auf-den-Putz-hauen“ als Selbstzweck ist in bestimmten Lebensaltern reizvoll, die halt einfach schon hinter mir liegen. ;-) Erst, als sie einen alten Mann angriffen, der sich – vorgeblich 79 Jahre alt – in die Liste verirrt und dort zum Besten gegeben hatte, die Kriegsjahre seien seine schönste Zeit gewesen (guter Job, viele Freundinnen), verteidigte ich diesen alten Mann gegen die blöde Anmache. Ja, ich schickte ihm sogar per PM ein „Help-File“ mit allerlei Tips zur Mail-Nutzung und einigen Erläuterungen zum sozialen Geschehen in so einer Liste, wofür er sich herzlich bedankte.

Alte Menschen im Web werden zur Zeit mehr, das sagen auch die Statistiken. Persönlich hatte ich in den letzten Monaten Mailkontakt zu mehreren 65 bis 85-Jährigen, die mich aufgrund einiger Diary-Einträge angemailt hatten – es kam mir also nicht gleich völlig unglaubwürdig vor, dass sich „so einer“ mal in eine Mailigliste verirrt haben sollte. Und – das ist auch Fakt – ich guck‘ mir die Äußerungen anderer nicht daraufhin an, ob sie irgendwie „unstimmig“ sind, ich nehme den Leuten erstmal ab, dass sie das sind, was sie zu sein vorgeben – wie sollte man sich sonst sinnvoll verhalten?

Andere waren weniger gutgläubig. Als sich der Streit um den vermeintlichen „alten Nazi“ hochschaukelte, vermuteten etliche Listenmitglieder, dass es sich hier um einen „Fake“ handelt: Eine Kunstfigur, ein Pseudo, eine Fälschung, von den Newcomern zu rein provokatorischen Zwecken geschaffen: schliesslich wurde auch der Streit von IHNEN inszeniert, die Listenmitglieder gingen eher sachlich auf die angeschnittenen Themen ein, wehrten sich gegen die zunehmende Agressivität oder bezweifelten schlicht das ganze Geschehen – womit sie Recht behielten!

Per PM forderte ich den „alten Herrn“ auf, mich anzurufen und so seine Identität zu beweisen. Als das einen ganzen Tag lang nicht geschah, wusste ich, was Sache war. Und ich fühlte mich verletzt, als hätte mich jemand in den Bauch getreten.

Als sich der „Täter“ in der Liste schließlich als 35-jähriger Satire-Schreiber outete, der die Netzliteratur-Community aus blossem Verwertungsinteresse benutzt hatte wie die Ratten in einem Labyrinth, hatte ich ein paar Stunden lang Lust, den Computer einzumotten, die Maus in den Müll zu werfen und mir ein anderes Betätigungsfeld zu suchen. Warum nicht z.B. als Altenpflegerin? Irgend etwas, wo man dem Anderen ins Gesicht sehen kann – und der Andere MIR ins Gesicht sehen muss, wenn er sich unmöglich macht!

Ich sass am Fenster, schaute auf die beruhigend grüne Schlosswiese und dachte darüber nach, was das alles bedeutet. Jenseits des vordergründigen Ärgers, persönlich verarscht worden zu sein, war ich unendlich traurig. Es schmerzt mich einfach, dass Menschen mit anderen umgehen, als seien sie bloss Texte, Programme, Material.

Dereinst bin ich nach einem Jahr Reinschnuppern in die Welt politischer Parteien mit Abscheu dort wieder ausgetreten, weil ich es so widerwärtig fand, wie da „der Gegner vorgeführt“ wurde – einfach so, jenseits irgend einer Sache, um die es gegangen wäre. Dass das im Netz mittlerweile zum Privatsport profilierungswilliger Schreiber geworden ist, die der Realität nichts Berichtenswertes abgewinnen und deshalb ihre Ereignisse selber inszenieren müssen, deprimiert mich. Es zeigt diese grauenhafte Leere, wo normalerweise Menschen ein Herz haben sollten.

Man könnte jetzt entschuldigend sagen: Sie wissen nicht, was sie tun. Jemand, der einen Fake inszeniert, findet das einfach nur lustig und denkt nicht darüber nach, dass er damit die Bedingungen sozialen Verhaltens untergräbt, ja, verunmöglicht. Es steht ihm nicht vor Augen, dass er damit Misstrauen säht, Verschlossenheit nahelegt, ja, Angst verbreitet. (Wie kann jemand noch hilfsbereit und offen auf jemanden zugehen, der stets fürchten muss, der andere sei ein „Fake“, zu vermutlich feindseligen Absichten geschaffen?).

Leider funktioniert diese vernunftgläubige De-Eskalierungs-Denke nicht: Ich glaube nicht mehr daran, dass jemand, der seine Umwelten und Mitmenschen derart egozentrisch ge- und missbraucht, einfach „unwissend“ ist. Es ist ihm schlicht egal, was er bei anderen anrichtet. Hauptsache, er kann einen fetzigen Artikel schreiben! Angesichts dieser Tatsache habe ich die einfache Wahl: Ziehe ich die Kampfmontur an und gehe Waffen-starrend und verpanzert durch die Welt, um sicher zu sein, dass mir keiner dumm kommt? Oder verzichte ich darauf und nehme in Kauf, gelegentlich verletzt zu werden?

Diese Entscheidung ist selten bewusst. Sie entwickelt sich im Lauf des Älter-werdens. Wenn ich so darüber nachdenke, sehe ich das Erwachsen-werden als Entwicklung von verletzlicher Weichheit zu kampfgeübter Härte: als Kind ist man allen Übeln hilflos ausgeliefert, doch im Lauf der Jahre lernt man immer besser einzustecken, aber auch auszuteilen. Das geht so weiter, bis es ca. Mitte dreissig einen Gipfel erreicht (so war es zumindest bei mir). Man ist zu einer schlagkräftigen Kampfmaschine geworden, wow! Doch auf einmal spürt man, dass es gar nichts zu erkämpfen oder zu erreichen gibt, dass man sich lediglich gegenüber dem Leben dicht gemacht, den Anderen gegenüber verschlossen hat – und wofür?

Ich will das jetzt nicht vertiefen, es führt zu weit weg. Wir kennen ja alle die verbitterten Alten, die ignorant, bösartig und geistig eng geworden sind: Sie haben sich NICHT rechtzeitig für Abrüstung entscheiden können. Sie leben in ihrer je eigenen Hölle und verbreiten Angst und Schrecken vor dem Alter, als gäbe es keine Alternative.

Der Weg der Abrüstung ist manchmal auch hart: Es tut weh, verletzt zu werden und sich das nicht schön zu reden. (Es liegt näher, durch körperliche Verspannungen die Empfindung zu blockieren und das gar nicht erst wahrzunehmen). Aber ich fühle mich lebendiger damit, das Leben ist – bei aller Härte – doch viel geheimnisvoller, wenn man ein flexibler Resonanzbodern ist und keine unerschütterliche Mauer.

Was mich in Sachen „Fake“ letztlich getröstet hat, waren die gelassenen Reaktionen in der Liste: Der Event wurde locker weggesteckt und festgestellt, dass wir ALLE ZUSAMMEN den „Angriff“ doch gut pariert haben: Freundliche Hilfsangebote, differenzierte Beiträge zum Thema „damals“ und „Generationenkonflikt“, wie auch ein gutes Gespür für falsche Fuffziger – alles war da, nichts fehlte. Ein Listiger fasste es treffend in die Worte:

„und irgendwie gibt es hier eine kollektive klugheit, die mehr ist als die summe der koepfe.“

 

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