Claudia am 08. August 1999 —

Ernsthaft schreiben?

Warum denn so ein Webtagebuch? Das ist doch bloß Larifari – laß es lieber und schreib ETWAS ERNSTHAFTES!

Wenn ein Freund so etwas sagt, an dessen Wohlwollen mir gelegen ist, stürzt mich so eine Bemerkung in heftige Selbstzweifel und ich brauche ein bißchen Zeit, bevor ich die ‚Lizenz zum Webdiary‘ wieder ungebrochen spüre.

Etwas ERNSTHAFTES – tja, warum eigentlich nicht? So ein tiefschürfendes Werk in Leinen gebunden zu den wirklich wichtigen Problemen der Welt. Oder zumindest ein brillianter Essay mit geistreichen Pointen, eine ästhetisch-literarisch bemerkenswerte kleine Geschichte, die man so schnell nicht vergißt….

Ganz abgesehen von der Frage des Könnens weiß ich recht genau, warum das Trachten nach dem großen oder kleinen Schreibwerk mich schon lange nicht mehr lockt. Schreiben außerhalb der Unterhaltungs- und Informationsindustrie ist Ausdruck unterdrückten Lebens. Was sich schreibend äußert, konnte im Reich der Handlungen nicht bewältigt, nicht seiner Energie beraubt werden. Und das Leben ist schließlich voll von nicht zu bewältigenden Dingen: Krieg, Tod, Krankheit, Haß, Gier, Ignoranz, Eifersucht, Machtstreben, Unterdrückung – es reicht für Generationen von Schriftstellern, die Themen hören niemals auf.

Auch in der Presse wirkt das publizistische Gesetz: only bad news are good news – Grund genug, warum ich keine (Print-) Artikel mehr schreiben mochte. Ohne jemanden in die Pfanne zu hauen, ist kaum ein „fetziger“ Artikel hinzubekommen. Der Journalist begibt sich in die Rolle des alles besser wissenden Beobachters, urteilt von dort aus alle ab, die sich in der Sache abstrampeln, gießt noch eine gehörige Portion Hohn und Spott aus und fertig sind zwei Seiten á 3000 Zeichen, die im Leser ein GUTES GEFÜHL erzeugen, ein Schmunzeln, ein „JAAAA, GENAU SO IST ES!“, das ihm immer wieder die paar Mark wert ist.

Was für den Journalisten die Schadenfreude, ist für den Literaten das Leiden. Ohne herzergreifendes Elend, garstiges Schicksal, unerklärlich Böses, ohne den Abgrund der Psyche und die daraus resultierende Verzweiflung fehlt der Stoff, aus dem die Werke kommen. Leiden ist unverzichtbares Produktionsmittel von Literatur, zumindest in Deutschland. Wer mag schon ‚erbauliche‘ Schriften lesen? Wer steht auf Gedichte, die aus schlichter Lebensfreude entstehen? Nein, der Autor hat gefälligst in die Tiefen des Daseins hinabzusteigen, dort gehörig im Schlamm zu wühlen, auf daß alle mit hinuntergezogen werden, und dann – vielleicht – geläutert zurückzukommen, um seine neu gewonnene Distanz und heitere Gelassenheit mit dem Publikum zu teilen.

Ein ehrenwerter Job! Aber nicht der meine. Ich will nicht im Elend verharren und warten, bis es sich in schöne Formulierungen übersetzt. Mag nicht als Kaninchen vor der Schlange stehen und sie so lange anschauen, bis „ich selbst zur Schlange werde“ – ich nehme lieber einen langen Stock und versuche, sie ins nächste Gebüsch zu schleudern.

Mag sein, daß ich dabei großes Pech habe und die Schlange mich trotzdem beißt. Dann such‘ ich einen Arzt und laß mir eine Spritze geben – wieder nichts, worüber sich ernsthaft schreiben ließe!

Ohne je selbst eine literarische Erfahrung gemacht zu haben, würde ich nicht wagen, über das „Ernsthaft schreiben“ so viele Worte zu machen. Wer also mag, kann eine Geschichte lesen, die mich für sechs Wochen von allem anderen erfolgreich abgezogen hat. Es war wie ein Trip, eine psychisch-geistige Versenkung, ein Bann, der mich erst wieder los ließ, als die Story zu Ende geschrieben war.

Die Ruhe von Santa Maria (gezippte 46 Seiten) ist in Italien entstanden und lebt von einer großen Angst, der Angst vor Hornissen. Seit der Kinderzeit fürchte ich brummende Insekten, schon gar, wenn sie fliegen und stechen können und nicht ganz klein sind. Im Lauf der Jahre hat sich das entspannt, Bienen und Wespen lassen mich heute kalt. Doch die Hornissen in dem alten toskanischen Bauernhaus, in dem ich phasenweise lebte, versetzten mich unabwendbar in Panik, wenn sie aus ihrem Nest im Kamin den Weg in die Wohnküche fanden und versuchten, sich an der offenen Gaslampe umzubringen.

Aus der Erfahrung dieser irrationalen Todesangst entstand die Idee zur Geschichte. Ich blieb „vor der Schlange stehen“, verharrte gedankenlos bei der Angst und die Einfälle begannen zu strömen – von SELBST. Personen entwickelten sich, eine Handlung schritt voran, weitere, uralte psychische Schmerzen aus der Kinderzeit nutzten die Lücke ins Jetzt und drängten ans Licht – es war wie ein Rausch, ich wurde emfindungslos gegenüber dem Alltag und lebte die ganzen sechs Wochen in diesen psychischen Komplexen, gab ihnen Raum, kostete sie aus, faßte sie in Worte.

Danach wußte ich, was „ernsthaft schreiben“ ist. Und daß es alles andere ausschließt, weil es die gesamte psychische Energie für sich braucht. Ich muß mich dem Prozeß GANZ hingeben – oder garnicht.

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