Claudia am 21. August 2009 —

Gefühle und Bewegung

Gedanken, Gefühle, Körperempfindungen – das sind die drei Dimensionen, in denen wir hauptsächlich leben, bzw. wahrnehmen, dass wir leben. Dabei unterscheiden sich Gedanken und Körperempfindungen in einem wichtigen Punkt von den Gefühlen: wir können durchaus mal umdenken bzw. etwas anderes denken, können auch auf den Körper in vielfacher Weise einwirken – doch die Welt der Gefühle entzieht sich dem direkten Zugriff, da sind wir dem, was in uns vorgeht, erstmal einfach ausgeliefert.

Ärger, Wut, Glücksgefühle, die „Schmetterlinge im Bauch“ und viele andere Emotionen scheinen uns zuzustoßen, ausgelöst von den Umständen, Ereignissen und vom Verhalten anderer Menschen.  Je nach Temperament und Sozialisierung reagierien wir spontan oder verhaltener, oder tragen sogar durchweg die Maske moderner „Coolness“ – doch was tatsächlich gefühlsmäßig abgeht, das bestimmen wir nicht selbst. Sogar das Strafrecht berücksichtigt die Machtlosigkeit gegenüber den eigenen Gefühlen durch die minder schwere Bestrafung einer „Tat im Affekt“.

Orientierung und Verfallenheit

Dass wir die Gefühle nicht direkt steuern können, ist gut so, denn sie sind es ja, die uns (neben den Körperempfindungen) überhaupt erst eine Navigation im Rahmen der schier unendlichen Eindrücke aus der Umwelt ermöglichen. Buddha beschrieb das Menschenwesen als „Leiden meidend, Freude suchend“: ein natürliches Verhalten, das unsere Welt und Gesellschaft entstehen lässt, doch eben auch seine Nachteile hat, da es uns leicht berechen- und manipulierbar macht. Jedenfalls in dem Rahmen, in dem wir den Gefühlen einfach verfallen und entsprechend agieren.

Für Buddha war es die „Erleuchtung“, die die sogenannte Kette des bedingten Entstehens durchschlagen konnte, denn dem Erleuchteten ist alles gleichermaßen gültig: er ist frei vom Karma, frei, den Gefühlen zu folgen oder eben nicht. Für Friedrich von Schiller gewinnt der Mensch erst seine Würde, wenn er sich willentlich über seinen Naturtrieb erhebt: „Beherrschung der Triebe durch die moralische Kraft ist Geistesfreiheit, und Würde heißt ihr Ausdruck in der Erscheinung.“

Schillers Herangehen ist das uns im Westen vertraute: Man spürt die Gefühlsimpulse, doch lässt man sie erst nach einer „moralischen Filterung“ zum Ausdruck kommen – oder eben nicht. Buddhas Weg ist radikaler: der Erleuchtete ist nicht mehr mit dem ICH, bzw. derjenigen Instanz identifiziert, die „die Gefühle hat“, sondern kann sie wie ein Tourist betrachten, ohne ihnen zu verfallen.

Vom Gefühlshunger der Onliner

Es gibt zwei Weisen, wie man indirekt auf Gefühle Éinfluss nehmen kann: Durch körperliches Erleben (Bewegung, bewusstes Atmen, Sporteln etc.), sowie durch „anders denken“.

  • Wer mies drauf ist, kann die Sauna besuchen oder einen Spaziergang über eine sonnige Wiese machen – schon ändert sich die Gefühlslage. Schneller gehts mit dem Griff zur Schokoladetafel, leider mit unangenehmen Folgen, wenn diese Art körperliche Kompensation des Leids zu oft gewählt wird.
  • Im Denken kann ich meine Gefühle hinterfragen und negieren, kann sie vernünftelnd klein reden, durch Umbewertungen (positiv denken) verwandeln oder auch einfach durch Nachrichten- und Medienkonsum „überschreiben“.

Wer nun, wie es ja heute viele tun, den Großteil des Tages körperlich auf einem Bürostuhl vor dem Monitor „einrastet“, verzichtet damit auf weite Teile des sinnlichen Erlebens. Abgeschirmt vom Wetter und reduziert in den Bewegungen fällt das physische Sinneserleben als Gefühlsanstoß weitgehend aus. Umso wirkungsmächtiger wird dafür die mentale Ebene: Mit ein paar Mausklicks können wir durch verschiedene Gefühlswelten zappen – hier ein heftiger Schlagabtausch, dort eine brisante Nachricht mit „erregendem“ Titel: ein Blick auf NetNewsGlobal liefert locker 50 Gründe, sich furchbar aufzuregen – und wer es drastischer mag, widmet sich den Video- und Bilderwelten, die Schönes und Abgründiges haufenweise ins Hirn schaufeln.

„Gefühle on Demand“ treffen so auf einen Gefühlshunger, der dem Mangel an natürlicher Bewegung geschuldet ist. Die sogenannte „Internet-Sucht“ und auch der oft erwähnte „News-Junky“ sind Phänomene, die sich aus der Unterversorgung mit Eindrücken und Herausforderungen in der physischen Realität erklären. Da sitzen wir in unseren zivilisatorisch wattierten Monaden-Gehäusen und sehnen uns nach Aufregungen – etwas, das Buddha noch nicht kannte, denn so etwas wie „Leiden suchen“ konnte damals noch nicht Bestandteil des Menschenbildes sein: es gab ja alltägliches Leid genug.

Wir bestehen zu 50 bis 70% aus Wasser – und eigentlich weiß jeder, wie „stehendes Wasser“ sich verändert: es wird faulig und beginnt bald, zu stinken. Ganz dem entsprechend versinkt ein Mensch, der zuviel vor Monitoren sitzt, zunehmend in einer kaum bemerkten Grundstinkigkeit: es ist irgendwie zuwenig los und das wird dann eben mittels immer neuer Medieninhalte „verpflastert“. Je krasser, desto lieber, denn dabei kann man sich wunderbar erregen und im folgenden Nachlassen der Erregung ein Gefühl der Entspannung erleben: fast so, als hätte man „was Richtiges“ erlebt.

Dieses Erleben medial vermittelter Ereignisse verhält sich jedoch zum alle Ebenen umfassenden „Real Life“ wie ein künstlich aromatisiertes Fertiggericht zum opulenten Gourmet-Menü mit der Geliebten bei Kerzenschein. Die Evolution wird noch einige Zeit brauchen, bis wir an ein „Medienleben“ so angepasst sind, dass es zu keinen neurotischen Reaktionen mehr kommt – für uns Heutige zu spät. Wir müssen also selber zusehen, dass wir körperlich nicht verkümmern und bewusst den Ausgleich suchen – eine Einsicht, die mir als alte „Sport-Hasserin“ nicht grade leicht fiel. :-)

Diskussion

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9 Kommentare zu „Gefühle und Bewegung“.

  1. Hallo Claudia,
    Zustimmung ! Dem einen hilft ein Garten, der andere fährt z. B. Motorroller und lernt seine Region und deren Menschen kennen und lieben oder er engagiert sich in einem Sportverein.

    In diesem Zusammenhang fällt mir EPIKUR ein – der übrigens auch ein großer Liebhaber von Gärten war.

    Mir scheint das Problem bei allem, zu sein, daß viele Menschen nicht wissen was sie wollen sollen. Die eigenen Bedürfnisse zu erspüren und
    zu erkennen und eben nicht die der „Manipulativa“ – und diese dann zu befriedigen versuchen, muss schwer sein, wie ich zu beobachten glaube.

    Gruß Hanskarl

  2. Hallo Claudia,

    mit Geh-doch-mal-wieder-raus-und-riech-an-einer-Blume-Aufforderungen kann ich ja eigentlich nicht so viel anfangen (das tu ich schon, wenns mir zu arg wird mit dem Screen). Dein Beitrag vermeidet jedoch geschickt, dabei stehenzubleiben. Vor allem, was du „Gefühl on Demand“ im Online-Leben nennst, kann ich als Eigenerfahrung bestätigen. Und sehr schön hast du auch das hier gesagt: »Die Evolution wird noch einige Zeit brauchen, bis wir an ein “Medienleben” so angepasst sind, dass es zu keinen neurotischen Reaktionen mehr kommt – für uns Heutige zu spät.« Das ist das Problem: das Digitalzeitalter ist ein Frühstatium der Entmaterialisierung. Wir spüren bereits, wohin die Reise geht, aber wir sind noch viel zu weit davon entfernt.

    viele Grüße
    Stefan Münz

  3. Flanieren ist auch was Tolles….
    In Frankfurt gab es kürzlich einen Kongress der Spaziergangswissenschaft…
    Gruß von Sonia

  4. @Hanskarl: danke für den Hinweis auf Epikur, mit dem kann ich grade gut was anfangen! Wie modern er wirkt in manchen Aspekten… und wie irre er durch das Christentum verfälscht wurde!

    @Stefan: na, das Klinger-Lebensberatungs-Blog ist ja auch noch nicht raus… ;-) Die These vom „Frühstadium der Entmaterialisierung“ würde mich in ausführlicherer Form interessieren! Wie „immateriell“ sollen/können/wollen wir denn werden? Der Satelitisierung des Körpers steht ja immerhin der Trend zum mobil nutzbaren Netz entgegen, zudem entstehen Interfaces wie Wii, die Gesten verstehen, sich also mehr dem Körper in Bewegung anpassen können. Die „Bedienung“ eines Programms kann man nun als Fitness-Übung gestalten, was sich derzeit noch in „Fitnessprogrammen“ ausdrückt, doch wäre ja auch ein Zuschalten körperlich fordernder Steuerungsmechanismen in normalen Programmen denkbar.

    @Wildgans: Spaziergangswissenschaft??? Das muss ich mal recherchieren… :-)

  5. Hallo Claudia,
    danke für Ihren Beitrag!

    Es gibt nun nicht viel, was ich mitzuteilen hätte. Nur soviel:
    Vor Jahren fing ich zum Abnehmen und als Ausgleich mit Ausdauersport an. Die Bewegung ließ mich das Ziel auch erreichen.
    Aber ich spürte: da ist noch was anderes. Inzwischen geht es mir nicht mehr in erster Linie darum, irgendwohin zu gelangen, „Ziele“ zu erreichen bzw. rastlos irgend etwas zu wollen. Selbst möchte ich jedenfalls stets „hier“ im Leben sein & den stillen Weltmoment im Herz halten. Klingt komisch, ist aber so. ;-).
    Die Bewegung an sich, die liegt schlichtweg in unserer Natur.

    Aber, was bedeutet das schon?
    12?
    Matthias

  6. Wenn nachmittags die Sonne durch das Fenster knallt, kann ich auf meinem Bildschirm kaum was lesen. Wenn Kinder draußen toben, schnappe ich manches auf, das fügt sich nahtlos in den Text. Ist es sehr kalt, ich muss die Fenster schließen, mag ich kaum eine Zigarette rauchen, an meinem Tisch. Wenn Regen auf das Pflaster prasselt oder der Wind die Bäume schüttelt, dass Blätter rauschen wie das Meer, kann ich nichts tippen – ich sitze still und lausche, träum vor mich hin. Wenn es blitzt und donnert, schalte ich aus und trenne die Geräte, weil mir schon einmal Blitz den Router killte. Ach – und so weiter. Ich fühle mich nicht vom Wetter abgeschirmt, im Gegenteil, es klopft, ich lass es gerne ein.

    Und da ich keinen Gedanken sagen kann, wenn ich nicht gehe, mich bewege, einen Rhythmus dafür finde, springe ich auf, laufe im Zimmer rum und manchmal raus und wieder rein, setze mich, schreib was, steh wieder auf … Mit einem Buch ruhe ich stundenlang im Sessel, nach und nach verschwindet alle Welt („ob’s stürmt oder schneit“) – aber am Computer rastet nichts ein, rostet nichts, ich jedenfalls nicht; die Maschine schon: gestern durfte ich sie in die Werkstatt tragen. Nein, ich glaube, ich sitze nicht still. Bewegt und dabei – meine Computerei.

    Für die, die es anders erleben, gibt es mobile Netzkultur. Tippen und gehen. Radfahren und telefonieren. In der S-Bahn hörte ich gestern einen Mann seinem Handy erzählen, dass er mit dem Notebook unterwegs ins Grüne sei, da kein Meeting anstünde, er darum auf die Wiese dürfe. Sowieso war die Bahn voller Leute, die auf Plastikkästchen trommelten. Manche Menschen joggen, weil sie Schrittzähler haben. Mein Ärztin sagt, es würde besser mit den Rückenleiden, seit Leute aufrechter an den Computern sitzen, als sie im Fernsehsofa hingen.

    Die digitalen Welten sind auch Ersatz. Man wählt sich ein und denkt, man wäre seiner Wirklichkeit entkommen, kann sich ‚dort‘ neu erfinden, und hat vielleicht Erfolg, ist glücklicher und kehrt nur ungern wieder heim in den gewohnten Köper, der bloß noch Hunger oder Zahnschmerz meldet, keine Lust. Aber bald fließt alles zusammen in der vernetzten Prothetik. Da ist bestimmt ein Sportmodul dabei und eins für die Gesundheit, das nicht nur piept, sondern auch rührt. (Mein Körper, das Aquarium.) Und die Tomate antwortet elektrisch, wenn du sie fragst, wer sie denn sei. Wir machen das schon.

  7. @Matthias: ich glaube, du meintest „42“ – nicht 12! :-)

    @Dirk: ich zweifle, ob man am PC „Ersatz“ findet, bzw. einer „eigenen Wirklichkeit“ entkommt, bzw. entkommen will. Auch wenn körperlich alles ok ist, bleibt man ja nicht dabei, sondern loggt sich ein – und je nachdem, ob man „dort“ nur konsumiert oder auch produziert, erscheinen die digitalen Welten doch mehr oder weniger auch als eigene: der eigene digitale Teil der Wirklichkeit.

    Oder meinst du, dein Hor.de und das Digital-Diary seien etwas so wahnsinnig ANDERES als deine Bude in Neukölln und meine in Friedrichshain? Die Nutzung und die Adressaten der „Ausstaffierung/Gestaltung“ sind andere, aber WIRKLICH sind sie doch beide.

    Dass du so beweglich bleibst, mag ja auch daran liegen, dass du keinen wirklich „ergonomischen“ Stuhl hast – kann das sein? ;-)

  8. Kenne ich Friedrichshain? Nicht gut genug. Ist hor.de etwas anderes als meine Bude in Neukölln? Ja, auf jeden Fall. In meinem kranken Körper wohnt wohl ein kranker Geist – aber er ist es nicht selbst. Und wenn ich in meinem Bett mir Abenteuer im Himalaja träume, ist meine Decke nie aus Schnee – ist weiß es und trotzdem umrieseln mich keine Daunen.

    Wirklich sind sie beide? Da bin ich mir online selten sicher. Vor allem wirken sie kaum ähnlich. Schimpft meine Frau mich aus, bin ich geknickt, tut es ein Blogger, den ich persönlich nicht kenne, hat der vielleicht in der Sache Recht, emotional ist mir das egal. Ich lese das Web wie einen Roman. Darin gibt es Fenster (‚Aufschauen vom Buch‘), deine Blogs etwa, die wurden fast alle im „real life“ aufgetan.

    (‚Fast‘ heißt, ich nehme SuMuze aus. Nicht, weil ich mir sicherer wäre, sie existiert, sondern weil ich dies Denken verstehe, ich kann es in mir bewegen.)

  9. […] Gefühle und Bewegung, Claudia Klinger. Hier muß ich einfach kurz zitieren: […]