Claudia am 06. November 2000 — Kommentare deaktiviert für Schaffenskrise: Sinn – Sein – Sinnlichkeit

Schaffenskrise: Sinn – Sein – Sinnlichkeit

Mehrere Tage ohne das morgendliche Diary-Schreiben bringen mich in eine neue Form von Entzug, doch noch nicht in neue Dimensionen der Arbeit, bisher nicht. Zwar staut sich das, was normalerweise alsbald zum Ausdruck kommt, nun zu größeren Mengen an und entfaltet mehr Druck, mehr Verlangen, mehr Drive. Dennoch packe ich es einfach nicht, die Energie sinnvoll zu nutzen und von der Gedankenebene auf die symbolische Schiene zu kommen.

Im Kopf schreiben sich gleich mehrere Kurzessays gleichzeitig, doch wenn ich mich hinsetze und das in eine konsumierbare Form bringen will, läßt der Elan schnell nach, versickert nach ein paar Sätzen wie ein Glas Wasser in der Wüste – warum nur? Es ist, als wandele mich in dem Moment, in dem etwas vom Möglichen ins Wirkliche übergeführt werden soll, mit aller Macht die Sinnfrage an, also immer dann, wenn es beginnt, in irgend einer Weise anzustrengen.

Wenn ich Familien mit Kindern sehe, beneide ich sie manches Mal. Sie verströmen eine Anmutung von Normalität, Sinn, Selbstverständlichkeit, Fraglosigkeit, konkretisierter Form und Heimat in dieser Form, wie es ein einzelnes Individuum niemals zustande bringen kann. Das große „Worum willen“, das als unbekannter Beweger hinter allen Aktivitäten steht, ist ein- für allemal geklärt, es gibt nur das „Wie?“, aber keine Überlegung, ob überhaupt, und wenn ja, warum eigentlich…

Dieser eigenartigen Schaffenskrise kann ich mich nur hingeben, weil derzeit kein Druck aus dem Bereich der Brotarbeit auf mich wirkt. Und genau darauf habe ich ja hingearbeitet! Es war mein größter Wunsch, einige Zeit frei zu haben, undefiniert frei, nicht etwa Urlaub oder Krankheit oder Töpfern in der Toscana. Wenn ich mich so umsehe, gibt es kaum Leute, die einfach mal untätig sind, ohne Plan und Ziel, ohne vorgegebenen Zweck. Nein, es ist im Gegenteil so, dass praktisch alle guten Freelancer, die ich kenne, überlastet, ausgebucht und bis ins nächste Jahr verplant sind. Sie arbeiten und arbeiten – ja woraufhin eigentlich? Ist das eine unzeitgemäße Frage? Ist Arbeiten & Geld verdienen mittlerweile selbst letztes Ziel und finaler Sinn? Wir arbeiten, damit wir nicht aus dem Geschäft kommen, damit wir immer weiter arbeiten dürfen?

Ich kenne vier Gründe, um zu arbeiten: Lebenserhaltung, Anerkennung, Freiheit, Selbstvergessenheit. In dieser Reihenfolge werden sie bewußt, werden sie wichtig und wieder unwichtig. Der Bereich der Lebenserhaltung ist keineswegs so groß, wie man gemeinhin denkt. Würden alle nur soviel arbeiten, wie unbedingt nötig, wäre der ganze wirtschaftliche Umtrieb längst nicht so auschweifend. Die Sehnsucht nach Anerkennung treibt dagegen viel weiter als die Notwendigkeit, und wer die Siegertreppchen nicht (mehr) braucht, wünscht zumindest Freiheit – Freiheit in Zeit und Raum, also in der Regel genug Geld auf der Kante.

Doch es gibt keine wirkliche Unabhängigkeit, man ist immer im Austausch, immer betroffen von Anderen, von der Umwelt, der Gesellschaft. „Fertig werden“ ist keine ernstzunehmende Arbeits-Utopie, und das ist sogar ebenso schön wie schlimm: Der untätig am Strand herumlungernde Millionär aus der Werbung ist nur eine lächerliche Figur, der alsbald schon psychisch vor die Hunde gehen würde, fände er keinen ganz persönlichen Sinnhorizont – tätig oder untätig.

So bleibt also nur die Selbstvergessenheit: Etwas arbeiten, in das ich so hineinversinke, dass es daneben nichts mehr gibt, vor allem nicht mich selbst mit meinen langweiligen Anliegen. Wenn ich zum Beispiel im Fotoshop experimentiere oder ein Webprojekt designe, manchmal auch, wenn ich einen Text niederschreibe – dabei bin ICH als Konglomerat von Gedanken, Fähigkeiten und Energie genau so wichtig oder unwichtig wie die Maus, die Tastatur, die Grammatik, der Strom oder sonstige Komponenten, die zum fertigen Werk führen. Ich falle dabei also sinnvoll in eins zusammen mit allem, was sonst noch da ist und mitwirkt. Es gibt nichts Schöneres, aber leider läßt es sich nicht zwingen. Weil es derzeit nicht gelingt, die Selbstvergessenheit in der Arbeit zu erleben, wechsle ich einfach die Ebene und switche in die Sinnlichkeit: Musik hören, Saunabesuche, Yoga-Übungen, einfach nur daliegen….

(Ich hoffe ja doch, dass sich das bald mal wieder ändert! :-)
Meine Musikempfehlung heute: Einstürzende Neubauten – Silence is sexy)

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Claudia am 02. November 2000 — Kommentare deaktiviert für Kleiner Abschied, lange Rede

Kleiner Abschied, lange Rede

In den letzten Tagen hab‘ ich mich mal wieder nach Sinn & Ziel dieses Diarys gefragt. Tatsache ist, dass es mir großen Spaß macht, dass ich mich freue, wenn die „Schreibzeit“ anbricht, wenn ich – meist ohne vorher festgelegtes Thema – so in mich „versinke“ und warte, bis Worte und Sätze kommen. Oft sind es dann gleich mehrere Themen, die erstmal miteinander konkurrieren, letztlich kann ich nicht sagen, wie und warum nun DIES und nicht JENES die Datei füllt, auf jeden Fall befriedigt es mich, was immer es ist. Das Hinschreiben an sich ist wohltuend und wenn ein Beitrag ins Netz gestellt und das Forum gesichtet ist, könnte ich eigentlich den PC ausmachen. Weiter → (Kleiner Abschied, lange Rede)

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Claudia am 01. November 2000 — Kommentare deaktiviert für Shangrila

Shangrila

Heute ist ein wunderbarer Tag. Ich fühle mich klar und zuversichtlich, ohne dass es dafür besondere Gründe gäbe. Hab‘ gestern ausgespannt, Sauna, ein Spaziergang auf dem Flohmarkt, Besuch bei den Nachbarn und abends einen Serienmörder-Krimi. :-) Schon sieht die Welt wieder richtig freundlich aus, Sinnfragen verblassen im Morgenlicht, treten in den Hintergrund – bis zum nächsten Mal? Weiter → (Shangrila)

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Claudia am 31. Oktober 2000 — Kommentare deaktiviert für Kapitulation

Kapitulation

Wenn ich in die Suchmaschine google.com meinen Namen eingebe, findet sie 1000 bis 1500 Fundsachen, alle Aktivitäten seit 1996, Artikel, Interviews, Ausschnitte aus Webseiten – zum Gruseln oder zur eitlen „Werkschau“ gleichermaßen geeignet, ein Netzleben eben, in ganzer Breite, Horror-Picture-Show des Digitals, das nichts vergisst.

Gerade höre ich die Uralt-CD „Hair“ – und bin ein bisschen betrunken, was mich zum Rundblick der dritten Art verführt, was soll’s! Die ganzen Fundsachen in google.com zeigen mich in verhaltener Art, eine Form von Claudia, die über den Dingen zu stehen scheint, immer arbeitsfähig und mittelprächtig klar – ach, das ist auch nur ein Teil und der Rest ist gewöhnliches Chaos.

My dear, diese ungeheure Power und Freude, die von diesen Uralt-Songs ausgeht! Es zu hören und gleichzeitig zu wissen, dass dieses Gefühl dieser Gesellschaft so ferne ist wie das Grab des Tut Ench Amun! Und doch bin ich drin, bin da….

…….. Ich höre Nina gerne zu, wenn sie so ungewohnt ernste Worte singt wie:

Harmonie und Recht und Klarheit,
Symphathie und Recht und Wahrheit.
Niemand wird die Freiheit knebeln,
niemand mehr den Geist umnebeln,
Mystik wird uns Einsicht schenken,
und der Mensch lernt dabei denken…

Es ist November und mensch fühlt sich nach Winterschlaf. Nach Wegträumen, nach Abdriften ins Innere, was immer das sein mag, Neid an die Bären! Habt Ihr nicht auch das Gefühl, dass dieser ganze Umtrieb, dieses ganze auf-der-Matte-stehen-für-Erfolg einen Dreck wert ist? Ganz besonders im November?

„Wir sehen einander hungring in die Augen,
in Wintermäntermäntel eingehüllt,
in Düfte aus Retorten redend von einer Feriheit,
die nur auf dem Papier besteht,
während mit Musik das Boot,
in dem alle sitzen schon untergeht.

(Das war vor 30 Jahren!) Noch ist genug auf meinem Konto, um ein paar Monate ‚ohne Sinn‘ zu überstehen. Doch möchte ich gern weiter gehen – ja wohin denn nur?

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Claudia am 30. Oktober 2000 — Kommentare deaktiviert für Eure Seiten – aus dem Forum gepickt…

Eure Seiten – aus dem Forum gepickt…

[29.9.2023 Hinweis:  Da viele dieser uralten Webseiten heute nicht mehr existieren, habe ich statt einer Verlinkung die URL abgebildet. So kann bei Bedarf in der Wayback-Machine des Internetarchivs nach gespeicherten Versionen gesucht werden]

Jetzt hab‘ ich endlich angefangen, aus allen Forum-Links eine Liste zu machen. Ich staune, was (und wer!) da so alles zusammenkommt. Natürlich ist nicht jeder Link drin, den irgendjemand nur mal eben ‚reingesetzt hat, um sein/ihr Kommerz-Angebot bekannt zu machen. Nur echte Leser-Links und ernst gemeinte Empfehlungen! Für den Moment stell ich die Liste hier mal zur Ansicht – morgen werd‘ ich sie sauber verlinken, vermutlich im Forum. Viel Spaß beim Stöbern!

http://www.wodile.de – wodiles weekly – wöchentlicher Fortsetzungsroman, gute Story, tolle Illustrationen. Wodile war mal Wolff-Dietrich Lehmann, er schreibt, zeichnet, steht auf Net.Art, House und Techno, und besucht gelegentlich das Digital Diary. Schön!

http://www.kolumne.ixy.de/ – Kneibs Notizen – Am Rande der Literatur, wo Sponsoren noch Heilige sind, da wohnen sonderbare Leute, die Bekannten der Unbekannten, und ihr Hinterhof ist die Übertragungsrate eines durchschnittlichen Modems“. Zu denen gehört auch Andreas. Hier steht sein knappes „Diary“ und seine „zweifelhafte Kolumne“ (wöchentlich neu!).

http://www.einblick-ausblick.de – Einblick – Ausblick. Ein Online-Tagebuch – und zwar von Calypso. Leider derzeit AUF EIS GELEGT. Ob sie die Lust verloren hat?

https://sieb10.stangl-taller.at/ – SIEB.10 – e-zine für literatur – echt relevant, umfangreich, spannend, Urgestein und doch immer wieder aktuell, manchmal verstörend. Der Netzgemeinde zugemutet von Werner Stangl, der noch mehr Seiten, nämlich viele viele 1000e, im Web stehen hat. Einen Gruß nach Linz!

http://www.netzwanderer.de/ – Der Netzwanderer treibt sein Unwesen als „Mako“ auf diesen wilden Literaturseiten, die von außerirdischen Mächten infiziert und von einem blöden Werbefenster verunziert sind. (Ach, warum wollen nur immer alle sparen?) Schnell weiter zum http://members.aol.com/mako64161/ – tintenklecks, einer netten, bunten und informativen Kindersite!

http://www.the-arrow-fly.de/index.html – Behind the closed doors – da verbergen sich „Poems by Micha D’Alessandro“, ein Forum-Gast der ersten Tage. Sie verbergen sich wirklich gut, ich FINDE sie nämlich nicht. Auch nicht, nachdem ich endlich begriffen habe, dass ich „nextpage“ klicken muss, kommt da nur ’ne alte Kutte – und nicht ein Fitzelchen Text!?

http://www.literatur-fast-pur.de/diary1.html – Tage wie diese – Ulrike Linnenbrinks Tagebuch, nicht nur Worte, oft mit Fotos: Ach, was für eine wunderhübsche Idylle ist das doch, wo Ulrike lebt und schreibt. Man kann ihre Geschichten „Vom Leben und Sterben lassen“ bestellen, die „Spinne am Morgen“ gibt’s umsonst.

http://www.fh-lippe.de/~bmeyer/tabu/ – T@bu – das Tagebuch – Von Ingo Mack empfohlen, der das Web leider nicht mehr mit eigenen Seiten beglückt, dafür umso häufiger in diesem Salon gern gesehener Gast ist. Tja, „techniker tagebuch, ultraunausgewogen, herzhaft,“ sagt Ingo und hat recht.

http://www.moving-target.de – Moving Target – Diary der Altmeisterin Melody. Wie sie es doch immer wieder schafft, „ganz normalen Alltag“ so spritzig zu schildern, dass man sich köstlich amüsiert!

http://www.hal-screen.de/ – Hal Screen – Christiane Schenke präsentiert sich als Web- und Screendesignerin, in ihrer „Ideenküche“ finden sich engagierte Projekte und so manches fürs Auge!

http://www.mephistopheles.de/home/library/lyrik/inhalt.htm – Hauptsache, lebendig – Skywalker’s Gedichte – und Gedichte muß man selber lesen. Danke, Olivia!

http://www.avantart.de/ – Avantart  bietet viel über Rußland, und das schon seit 1996. Datschen-Memory, tuvinischer Schamanismus, das Nabokov-Museum in Roshdestweno, und ganz weit unten auch ‚was über die Autorin dieser umfangreichen One-Woman-Show http://www.mueller-goedecke.de/ Cornelie Müller-Gödecke.

http://www.digitab.de/horn/index.htm Horny Bitches – Gagarin2 (Net.Art)

http://www.digitab.de/ –  Digitab – Tableau für Gegenwart.

http://www.netgeschichten.de – Net-Geschichten schreibt Michael Charlier seit 1995 für die Frankfurter Rundschau. Jetzt stehen sie endlich alle im Web! Und werden immer mehr…

http://www.cafe-nirvana.com/ Café Nirvana – Olivia Adlers berühmter Web-Treff mit begehbarem Roman und Real Time 3D Chat.

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Claudia am 29. Oktober 2000 — Kommentare deaktiviert für 10.Tag „ohne“

10.Tag „ohne“

Gestern bin ich zwar auf die Idee gekommen, ins Netz bzw. in die Mail zu schauen, hab‘ sie dann aber doch nicht verwirklicht, sondern den Tag offline verbracht: lesend, kochend, einkaufend, plaudernd. Abends wollte ich den Chianti zur Pizza mittrinken, das schmeckte jedoch wie fauliger Traubensaft, so dass ich es nicht über mich brachte, eine wirkungsvolle Menge davon einzunehmen. Weiter → (10.Tag „ohne“)

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Claudia am 27. Oktober 2000 — Kommentare deaktiviert für Kampf, Gewalt, Moral

Kampf, Gewalt, Moral

Ein eloquenter Gast im Forum, der es vorzieht, ein anonymes Schatten-Dasein zu führen (shadow_being), sagt von sich:

Ich bin einer derjenigen, die Spaß am Kampf haben. Zwar nur auf verbaler oder intellektueller Ebene (zugegeben ein schrecklicher Ausdruck) aber dort doch mit großer Ausdauer und Kompromißlosigkeit. Doch selbst auf dieser nicht-physischen Ebene begegne ich ständig den moralischen Instanzen, die für jede Form des Kampfes in dieser Gesellschaft gilt: Widerstände wie Erziehung, Anstand, gutes Benehmen und dergleichen untersagen in vielen Umständen eine Diskussion oder ein Streitgespräch, sprich den Kampf. Man verzichtet darauf, wider besseren Wissens oder wider eigener Neigung. Eigentlich schade, denn wenn hat man schon die Möglichkeit, seine verbalen und geistigen „Marktwert“ zu testen, wenn nicht in einer Auseinandersetzung? Ich mag es, mich in Diskussionen über diese Widerstänmde hinwegzusetzen, zu Mitteln zu greifen, die zwar verpönt aber probate Mittel des Kampfes sind. Ich denke nicht, daß dieses Verhalten einfach in die „Platzhirsch-oder Ego-Schublade“ eingeordnet werden sollte, auch wenn zweifellos ein Machtanspruch und die Pflege des Selbstbewußtseins mitentscheidend für solche Auseinandersetzungen sind. Tatsächlich fühle ich in diesen Situationen auch den Jagdinstinkt, man schätzt den Gegner ab, sieht seine Schwächen, sieht ihn unterlegen und schlägt zu. Ich halte mich für ein gut domestiziertes Raubtier aber das hindert mich nicht unbedingt daran, meine Restinstinkte dann und wann auszuleben und ein Opfer zu „schlagen“ – vor allem, wenn dies völlig unblutig und ohne physische Gewalt von statten geht.

Warum sollte es moralisch einen Unterschied machen, ob da nun physische Gewalt im Spiel ist oder nicht? Körperliche Gewalt ist oft ein Ausdruck mangelnder Verbalisierungsfähigkeit, in sozial schwachen Milieus also häufiger anzutreffen als in besser verdienenden/gebildeteren Kreisen. Sich MORALISCH KORREKTER zu fühlen, bloss weil man in der Lage ist, den anderen mit Worten statt mit Fäusten zu zerlegen, halte ich nicht für legitim.

Ich kenne den Spaß am Kampf gut und hab‘ ihn in Zusammenhängen erlernt und genossen, die erstmal keine großen Moralfragen aufwarfen. Die Hausbesetzungsbewegung Anfang der 80er in Berlin bot ein wunderbares Spielfeld, um sich auszuprobieren. Es ging um „die gute Sache“, die auch vielen nicht-aktiven Berlinern wichtig war, es gab immer ein WIR, auf das ich mich bezog, das mich stützte und vor der Erkenntnis schützte, dass es mir sehr wohl auch um mich, meinen „Marktwert“ und dergleichen sachfremde Benefits ging.

Wie auch immer: Von keinem Zweifel angekränkelt kämpften „wir“ mit fantasievollen Mitteln, die beim Publikum oft aufgrund ihrer Humorigkeit gut ankamen. Doch konnte ich nicht lange darüber hinwegehen, dass der große Erfolg der „Bewegung“ (!) nicht zustande gekommen wäre, wenn da nicht eine Anzahl Leute ordentlich „Randale“ gemacht hätten, Leute, die die gute Gelegenheit nutzten, auf den Putz zu hauen, weil ihnen das Spass machte und ein intensives Kampfgefühl vermittelte. Die „Kunst“ bestand schon bald darin, sich von dieser gewaltbereiten Sub-Szene soweit zu distanzieren, dass man für die Gegenseite Verhandlungspartner sein konnte, sie andrerseits aber subtil zu beeinflussen, so dass sie an den richtigen Stellen, zum richtigen Zeitpunkt und im richtigen Maß zuschlug (weil man ja sonst als Verhandler allen Drohpotentials verlustig ging). Leider gelang das nicht immer so punktgenau, schließlich gab es keine etablierten Machtpositionen, alles wurde in Versammlungen offen ausgetragen.

Das INTENSIVE KAMPFGEFÜHL, das die einen beim Aufheben des Pflastersteins, die anderen beim Einnehmen der Stühle und ins Auge fassen des Gegners erleben, ist offensichtlich ein Wert, auf den mensch nicht so leicht verzichten mag. So schreibt shadow_being auch weiter:

Zu einem gewissen Grad bewundere ich die Leute, die sich über alle Normen hinwegsetzen und ihre Emotionen hemmungslos ausleben. Denn wenn ich mich umsehe, dann sehe ich lauter sedierte Emotionen: verhaltene Freude, gebändigte Wut, gezügelte Lust. Dabei sind es meiner Meinung nach gerade die Emotionen, die unser Dasein als „Krone der Schöpfung“ wirklich intensiv machen können.

Ein uraltes und hochaktuelles Thema, sicher ein Grund, warum Nietzsche derzeit so „in“ ist. Mit 15 las ich Freuds „Unbehagen in der Kultur“ und hatte schon gleich keine Lust mehr, erwachsen zu werden. Wofür, wenn es doch nur bedeutete, alles Intensive zugunsten des Gemäßigten aufzugeben, die „wahren“ Emotionen unter lauter Höflichkeiten zu verbergen?

Mal beiseite gelassen, dass ich mir keine Welt wünsche, in der jeder seinen aktuellen Emotionen nachgeht, ist mir deren „Wahrheit“ doch recht zweifelhaft geworden. Sicher, sie sind da, sie sind das Tierhafte, das Automatenhafte am Menschen. Ihre Zwangsläufigkeit und Bedingtheit mit kühlem Mind zu erkennen und sich nicht von ihnen „übermannen“ zu lassen, scheint mir typisch menschlich. Doch eben nur typisch menschlich im Sinne einer mentalen Einseitigkeit: gerade mal die Großhirnrinde entwickelt und schon wird alles nur noch vom Denken aus beurteilt, der Rest ist Archaik.

Bevor mensch sich „Krone der Schöpfung“ nennen darf, sollte das Problem eine andere, eine bessere, eine innovativere Lösung gefunden haben: Weder neurotisch vermodern in Zahlen & Zeichen, aber auch nicht so tun, als könnten wir ungebrochen fröhliches Raubtier sein. (Wenn ich ‚was finde, werde ich es zweifellos hier aufschreiben… :-)

Siehe dazu auch:
<a href=“https://www.claudia-klinger.de/digidiary/diary00_05_08.htm“>05.08.2000 Vom Kämpfen</a>
<a href=“https://www.claudia-klinger.de/digidiary/diary00_28_06.htm“>28:06:00 Mensch: ein Raubtier?</a>

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Claudia am 25. Oktober 2000 — Kommentare deaktiviert für Herbstwüste

Herbstwüste

Heute ist es draussen wüst und leer, ein Sturm rasiert die letzten Blätter von den Bäumen herunter, nicht mal die Hühner haben so richtig Lust, von ihren Stangen abzusteigen und den Stall zu verlassen. Kann ich gut verstehen, mir geht es nicht viel besser: Nach wie vor hält die Arbeitsunlust an, um zehn muss ich zum Zahnarzt, Steuer ’99 ist noch immer nicht fertig, und die Gedanken, die mir durch den Kopf ziehen, sind allesamt unendlich langweilig und schon ‚zigmal da gewesen.

Wie ich am 16. Oktober in einem autobiografischen Schreibanfall berichtete, beschäftige ich mich ja bevorzugt damit, mich von etwas „zu befreien“ – wie auch jetzt wieder vom Rauchen. Doch lange schon ist mir klar: Nach der Befreiung kommt nichts. Es folgt die nächste Aufgabe, der nächste Zwang, von dem ich mich wieder frei machen will – wofür eigentlich?

Meine Schwester hat drei Kinder und ist völlig in den Alltagsstress eingesponnen. Niemals stellt sie irgendwelche darüber hinausweisenden Fragen, warum auch? Manchmal bewundere ich sie, beneide sie um die Fraglosigkeit, das schlichte Da-Sein und So-Sein. Und doch würde ich nicht mit ihr tauschen, für keinen Preis der Welt.

Lieber stehe ich in der Wüste, die sich nach soviel Befreiungen auftut, schaue um mich her in unendliche Weiten, kein Blinzeln. Horizonte versprechen nichts mehr, sind nur einfach da, nicht mal eine Fata Morgana vergaukelt mir den Vormittag. Wenn ich lange genug bleibe, nicht aus Langeweile in irgend einen Zug steige, werde ich endlich sehen, was ist.

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Schloss Gottesgabe - hier wohnen wir in einer Mietwohnung
 

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