Claudia am 23. Dezember 2000 — Kommentare deaktiviert für In der Lücke

In der Lücke

Jetzt ist es also soweit: Die Wintersonnwende ist vorüber, morgen brechen die „12 heiligen Nächte“ an. Der Konsumrausch feiert sein Finale, dann gehen alle nachhause, um die letzten Vorbereitungen zu treffen, das Erstandene zu verpacken, vorzukochen – fast komisch, so ein kollektives Agieren in einer das Individuelle so hoch schätzenden Gesellschaft.

Bei uns hier nichts von alledem. Am zweiten Weihnachtsfeiertag sind wir bei Freunden im Haus eingeladen, ansonsten Stille. Die Wiese, die Büsche und Bäume draußen sind jetzt voller Reif, zweimal am Tag bekommen die Hühner warmes Wasser, weil es so schnell einfriert – ich möchte jetzt nicht Huhn sein! Und doch legen sie immer weiter Eier… Ein Vogelhaus haben wir heute aufgestellt, aber noch halten sich die Vögel zurück.

Wenn ich meinen Eintrag vom 23.12. letzten Jahres lese, merke ich, dass ich heute deutlich weniger besinnlich drauf bin. Lustigerweise war damals ebenfalls Reif, und zwar der einzige im ganzen Jahr! Ist schon komisch, so ein Diary, ich schaue selten alte Einträge an, vielleicht wär‘ das ein Einstig ins jahresendzeitliche Bilanz ziehen.

Was tun in diesen letzten Tagen, ohne ins allgemeine Festgeschehen involviert zu sein? Zu meiner Family nach Wiesbaden fahre ich nicht, denn da tobt Weihnachten echt die Lucy. Und so ist es fast ein wenig abenteuerlich, hier in der Pampa im Nichts zu sitzen, frei geschaufelt von den Pflichten, noch ganz ohne Vorstellung, wie das selbst gewollte Vakuum zu füllen wäre. Ich liebe Lücken im normalen Geschehen, in denen man spürt, dass das Leben nichts Selbstverständliches ist, sondern sehr sehr seltsam.

Jedenfalls hab‘ ich vor, bis Anfang Januar recht viel Diary zu schreiben – in Berlin konnte man nachts in die Kneipe gehen und andere versprengte Weihnachtsflüchter treffen, hier muß ich eben virtuell „nach draußen“ gehen. Webdiarys sind ja dieses Jahr in Mode gekommen, viele schreiben jetzt ein „Weblog“. Ich bin mal gespannt, was davon übrig bleiben wird. Die, in die ich bisher eher zufällig ‚reingelesen habe, wirken auf mich meist irgendwie „äußerlich“, jemand schreibt, was er oder sie so denkt, aber ohne daß man einen wirklichen Eindruck von der Person gewinnen könnte, die da schreibt! Und DAS ist für mich doch der eigentliche Grund, Tagebücher zu lesen, Leute „aus der Entfernung“ kennen zu lernen. Erst wenn ich sie „kenne“, sagt es mir was, wenn sie dieses oder jenes empfehlen oder kritisieren.

Viele, die nonkommerziell im Web publizieren, scheinen ein bißchen gespalten in der eigenen Intention: sich ausdrücken wollen, aber möglichst ohne sich zu zeigen. Dabei halte ich es für immer wichtiger, dass Menschen sich im Netz darstellen. Nicht „zur eitlen Selbstdarstellung“, wie es Carola Heine mutig auf ihre Seiten schrieb, sondern damit wir uns überhaupt noch verstehen können in diesen Zeiten, in denen die Begriffe selber immer bedeutungsloser werden. Ich merke, dass abstraktes Argumentieren auch bezüglich allerwichtigster Themen bei mir nicht mehr ankommt: ich will denjenigen sehen, der die Behauptungen aufstellt und die Argumente bringt. Erst wenn ich insgesamt einen Eindruck habe, ob ich von dieser Person einen Gebrauchtwagen kaufen würde, erst dann lasse ich mich auf Argumente ein.

Durchaus bedenklich, ich weiß. Aber ich MACHE mich nicht, sondern ich werde. Allenfalls kann ich zuschauen und beschreiben, was läuft.

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Claudia am 18. Dezember 2000 — Kommentare deaktiviert für Kurz vor Jahreswechsel

Kurz vor Jahreswechsel

Immer länger ist es dunkel, wenn das so weiter geht, könnte ich glatt mal einen Tag verpassen! Die Außenwelt kann ich derzeit fast ganz abschreiben: grauer verhangener Himmel, Matsch, gelegentlich Nieselregen – sogar ein Besuch bei den Hühnern wirkt wie eine große Unternehmung. Das Leben auf dem Land in einem kleinen Dorf ist mitten im Winter, der nicht mal ein richtiger Winter ist, ganz besonders öd, besser gesagt, ein „Leben“ existiert praktisch nicht.

Was bleibt? Natürlich sitze ich nicht still herum und besinne mich auf die Vergänglichkeit aller Dinge, wie es vielleicht angesagt wäre. Das hat noch gut Zeit, die „12 heiligen Nächte“ dauern vom 24.Dezember bis zum 6.Januar, also noch sechs ’normale‘ Tage bis dahin. Im Fernsehen beginnt aber schon das allgemeine Themenwiderkäuen zur Jahreswende, das heißt, auch die schwarze Glotze ist kein Mittel der Wahl, um dem Nichts zu entkommen. Ich kann gut verstehen, dass man sich früher beim Bauern versammelt und die dunklen Wochen mit viel essen und noch mehr trinken hinter sich gebracht hat. Was auch sonst?

In den letzten Tagen bin ich „fremd gegangen“ und hab mal ein bißchen in der SELFHTML-Lounge mitgeschrieben – ich hab‘ ja erwähnt, dass Hypertext für mich einen utopischen Charakter hat, den ich gern mal ein bißchen herausarbeiten würde. Allein schon die Tatsache, dass man sich „am Rande des berühmtesten Hypertextes“ in einer „Lounge“ trifft… wunderbar! Und die Gespräche dort sind mehrere Grad engagierter als das übliche zweizeilige Blafasel, das auf vielen Bords und auch in Mailinglisten die Lust nimmt, sich zu beteiligen. (Hoffentlich ändert der Link hier nichts daran!).

Heute fällt mir nicht viel ein, sorry. Wollte trotzdem ein paar Zeilen in die Welt schreiben, einfach nur mal kurz „da sein“ – warum denn auch immer ‚was leisten? Schließlich sind die Leistungen von Millionen immer nur einen Mausklick entfernt … (falls jemand einen Surftipp zu einer ungewöhnlichen Site hat, bitte im Forum lassen!).

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Claudia am 09. Dezember 2000 — Kommentare deaktiviert für Vom lebendigen Hypertext

Vom lebendigen Hypertext

Danke, danke für die guten Wünsche: Heute ist der dritte Tag der Erkältung, der Tag ihres Verschwindens. Als erste Erkältung seit vielen Jahren ist das sowieso eher eine interessante Erfahrung: diese körperliche Schlaffheit, die volle physische Unfähigkeit zu irgend welchen Anstrengungen bringt mir eine selten verspürte innere Ruhe. Vermutlich funktioniert der psychische Mechanismus nach dem Motto: Wo nichts geht, kann auch nichts verlangt werden, wie schön! Und aus dieser Entlastung heraus konnte ich locker aktiv werden, voller Freude vor dem Monitor sitzen und mein neues KnowHow-Projekt anschieben, dessen erster Artikel (zu Nielsen, siehe Kasten) ja seit gestern zu besichtigen ist.

Meine Motivationskrise, die sich seit Monaten hinzog, ist mit diesem Projekt-Start vorbei: Endlich wieder ein lebendiger Hypertext! Das Diary ist natürlich auch lebendig, doch seine Form ist fest, mit ihr experimentiere ich nicht mehr. Das Erotische des Webdiarys, das praktisch ein Teil meiner Existenz geworden ist, findet auschließlich auf der inhaltlichen Ebene statt: Wie weit zeige ich mich? Ist das, was ich zeige, überhaupt real? Welche Motive stehen hinter diesem Tun? Soll ich dies und jenes wirklich schreiben? Hat es einen Sinn, und wenn nicht, warum findet es trotzdem Leser? Usw. usf. – im Ganzen eine sehr persönliche Angelegenheit, nichts, womit ich irgendwie auf’s real existierende öffentliche Leben einwirken will.

Im jetzt endlich gestarteten Webwriting-Magazin kann ich dagegen das Netz für mich wieder mal ganz neu erfinden: Den in jahrelanger Praxis gemachten Erfahrungen mit dem Publizieren im Internet eine eigene Form geben und diese gleichzeitig auch ausformulieren und begründen. Mit Michael Charlier ist mir dafür der ideale Co-Worker begegnet, er hat erstens Jahrzehnte schreiberisch-journalistische Erfahrung, doch vor allem auch die Geduld, Dinge wirklich auf den Punkt hin auszuformulieren. Quellen angeben, Autoren zitieren, Dinge wirklich von Anfang bis Ende rezipieren und dann nachvollziehbar bewerten, das ist nicht unbedingt das, was mir Spaß macht. Ich setze lieber ein Beispiel, verschaffe ein ERLEBNIS und sage dann: Wenn sie es nicht selber schnallen, dann eben nicht. Insofern ergänzen wir uns aufs Beste und ich bin guter Dinge, dass das Webwriting-Magazin eine unverwechselbare Qualität aufweisen wird, von der auch andere etwas haben.

Lebendige Texte?

Gute Hypertexte haben für mich etwas Utopisches. Schließlich sind es keine fertigen Artefakte, die irgendwo ausgestellt stehen, keine WERKE, in irgendwelchen Speichern und Bibliotheken gehortet, vielleicht gerühmt, oft schnell vergessen. Nein, Hypertexte sind im besten Fall offene STRUKTUREN, Organisations- und Kommunikationsstrukturen für Texte und Menschen. Nehmen wir einen guten Prototyp als Beispiel: Selfhtml [aktualisierte URL, Stefan ist nicht mehr dabei] von Stefan Münz ist nicht nur das Produkt (die 7 Versionen des Hypertextes selbst), sondern ein Teil von Stefan, den er so nach außen gestellt hat, worauf sich andere einfanden, die zur Sache etwas beitrugen. Rund um das Dokument entstand eine weit verstreute Community aus Menschen, die von Stefans ganz spezifischen Art, Wissen weiterzugeben, angerührt sind und diese Art & Weise mit- und weitertragen. (Natürlich gibt es auch jede Menge „blosse Konsumenten“, das ändert aber nichts.)

Es ging und geht dabei nicht nur um HTML, sondern um die Vermittlung der spezifischen Sicht von Stefan auf das Netz: Um den Geist gegenseitiger Hilfe, um Kooperation jenseits kommerzieller Interessen, um Ordnung, und wie man sie im Chaos schaffen kann, um Werte eben, die durch den Hypertext (dessen „Leben“ im Web) nicht etwa zitiert und beschrieben, sondern VERWIRKLICHT werden. Und es ist ja auch eingeschlagen! Dass Einsteiger heute oft lieber zu grauenhaften WYSIWYG-Editoren (Ihre Homepage in zehn Mausklicks) greifen, anstatt selbst HTML zu lernen, liegt einerseits am großen Umfang, den HTML mittlerweile angenommen hat, zum anderen daran, dass sie in einer (fast) ganz kommerzialisierten Umgebung keinen Zugang zur „Energie des Verstehens“ (=Untertitel zu Selfhtml) finden, die ja etwas anderes ist als die Energie des Verkaufens. Es braucht mehr und immer neue Hypertexte, um das immer wieder neu zu vermitteln.

Übrigens hab‘ ich mich gerade mal in den Chat auf Selfhtml-Life eingeklingt. Da heißt es auf einem Laufband: „Frage Dich stets, wer Du bist, bevor du uns fragst, wie das alles mit JavaScript geht….“. Klasse! Da ist er wieder, der philosophische Geist von Selfhtml, den man in einer Lernstruktur zu so etwas Trockenem wie HTML gar nicht erwarten würde.

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Claudia am 07. Dezember 2000 — Kommentare deaktiviert für Webwriting-Magazin startet

Webwriting-Magazin startet

Eine Erkältung. Gestern nach dem Saunabesuch spürte ich sie kommen, wollte es erst kaum glauben (bin doch abgehärtet!), seit Jahren war ich nicht krank. Ausgerechnet jetzt, wo ich morgen zu einem Symposium nach Romainmotier eingeladen war, auf dem ich über Mitschreibprojekte hätte reden sollen: Alles abgesagt. Meine Lunge ist ein Reibeisen, allein die 12 Stunden Zugfahrt von Schwerin bis hinter Lausanne wären der reine Horror gewesen.

„Ich hab‘ mir eine Erkältung geholt“, sagt der Volksmund und meint damit: Wenn man eine braucht, ist sie leicht zu haben. Doch wäre ich wirklich GERN in die Schweiz gefahren, auch, weil ich da eine langjährige Online-Freundin das erste mal „real“ gesehen hätte – wunderbares Essen, Logis, Anreise und sogar ein Honorar hätte es gegeben. Wie inspirierend ein Treffen beim „Migros Kulturprozent“ sein kann, davon erzählt die Website, die vor zwei Jahren nach dem ersten Wochenende entstanden ist, das ich in RM verbringen durfte: Digitaler Diskurs – als Hypertext leben.

Inspiration – eine wunderbare Sache, doch bei mir ist derzeit eher ein Umsetzungsstau festzustellen. Zum Glück ist zumindest das Webwriting-Magazin endlich begonnen: Der erste Artikel steht:

WWMAGJacob Nielsen’s Webdesign – Der Erfolg des Einfachen.
Durchgelesen und auf Verwendbarkeit geprüft von Michael Charlier.

Das Webdesign ist eine Demonstration gegen die Eintönigkeit des derzeitigen Mainstreams: diese immergleichen Dreispalter mit den überladenen Randstreifen, dem max. 1,5 Bildschirme langen Artikeln (ohne jede Nutzung des Hypertext-Prinzips!), den blinkenden Bannern und Unmengen von EyeCatchern, die vom Inhalt ablenken, sofern überhaupt einer geboten wird. Es ist Webdesign, wie es nur Menschen machen, bzw. für einen spezifischen Inhalt entwickeln können, nicht Programme, die nur noch Daten aus 20 verschiedenen Datenbanken in möglichst simple Vorlagen einsetzen.

Um den Demo-Aspekt noch zu unterstreichen, WÄCHST das Webwriting-Magazin: Artikel für Artikel wird erscheinen und mit den zunehmenden Inhalten werden sich erst Rubriken und Bereiche entwickeln, die wiederkehrenden Designelemente werden klar werden. Irgendwann wird mir ein Logo einfallen, Suchmechanismen und Indizes dazukommen – immer dann, wenn man sie braucht. Dennoch ist das, was im Web zu sehen sein wird, als einzelner Content immer vollständig – nutzloses Surfen in leere Bereiche mit Under-Construction-Schildern wird es nicht geben, keine Sorge!

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Claudia am 03. Dezember 2000 — Kommentare deaktiviert für Sex als Dienstleistung

Sex als Dienstleistung

Endlich rückt das Aufstehen in die Frühe vor: Heute immerhin schon um sieben vor dem PC angekommen! Meine Idee, die einem echten Bedürfnis entspringt, nämlich die Zeit der Helligkeit mehr in Richtung Mitte der wachen Zeit zu legen, verwirklicht sich langsam. Ich hoffe, im Lauf dieses Winters nochmal auf sechs, wenn nicht fünf Uhr Aufstehzeit zu kommen!
Sowas hätte ich vor 20 Jahren für vollkommen irre gehalten. Wie die meisten Jungen war ich Langschläferin und NACHTMENSCH, wie man von sich gerne sagt. Freiheit bedeutete zu allererst, ausschlafen zu können, solange ich mochte. Komischerweise reflektierte ich nicht, wie frei oder unfrei ich eigentlich davon war, täglich bis vier Uhr morgens in die Kneipen zu rennen. Na, so ändern sich die Zeiten. Heute finde ich es geradezu abenteuerlich, einfach in mich hineinlauschen zu können und von daher meine Schlafens- und Wachzeien zu wählen. Im Prinzip…. :-) Faktisch nimmt man ja doch Teil am kollektiv Gewohnten, und sei es nur durch die abendliche Tagesschau, die ich noch immer nicht durch Radio oder Internet-Schlagzeilen ersetzen mag.

…und jetzt das mit dem Sex.. :-)

Apropos Schlagzeilen: Wichtige Veränderungen kommen manchmal auf leisen Sohlen daher. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin in Sachen Cafe „Pssst“, dass Prostitution heute nicht mehr in jedem Fall als sittenwidrig angesehen werden kann, ist so ein Fall. Endlich der erste kippende Domino-Stein, der vermutlich all die in Gesetze und „ständige Rechtsprechung“ gegossenen Diskriminierungen und Ausgrenzungen, Lügen und Heucheleien rund um den käuflichen Sex zu Fall bringen wird.

Im Einzelfall, der zu entscheiden war, ging es mal wieder um die Frage, ob die Betreiberin einer Bar an selbständige Huren stundenweise Zimmer vermieten darf, ohne sich der „Förderung der Prostitution“ schuldig zu machen. Bisher ging das nicht, die Zimmervermietung mußte über einen Strohmann laufen, um nicht zum Verlust der Konzession zu führen. Auch durfte das Ambiente keinen „gehobenen Eindruck“ machen, alles, was die Arbeitsbedingungen der Huren normalisiert und angenehmer macht, war (und ist in vielen Punkten immer noch) verboten.

Ein Ende dieses verrückten Zustands ist jetzt in Sicht. Rot-Grün plant ein Anti-Diskriminierungsgesetz, das es Huren ermöglichen wird, voll versichert und rechtlich rundum anerkannt zu arbeiten. Ihre Dienste werden als ganz normale Dienstleistungen bewertet, ähnlich wie Massage und Krankengymnastik. Richtig so!

Warum ich mich darüber freue? Schließlich könnte man auch darüber trauern, dass offenbar der real existierende Porno-Markt und die gesamte verlogene Übersexualisierung in den Medien nun dazu führt, dass sogar der offizielle „Maßstab der Sitten“ sich ändert. Ich ziehe es vor, das anders zu sehen: Die Entkriminalisierung und Enttabuisierung der bezahlten sexuellen Dienstleistungen hat vielleicht eine befreiende Wirkung. Wenn deren Nähe zum Schmuddligen, Verbotenen, jedenfalls politisch Unkorrekten tendenziell abnimmt, dann können sich vielleicht in Sachen Sex entspanntere Verhältnisse entwickeln – NICHT NUR im Bereich der Käuflichkeit!

Die Energie, die immer da ist

Um über Sex zu reden, muß man seine Grundeinstellung dazu mitteilen. Was ich „damals ’68“ als 14-Jährige einem oberflächlichen Underground-Mainstream ahnungslos nachplapperte, ist mir im Lauf eines erfahrungsreichen Lebens – dem gesellschaftlichen Rollback entgegen – zu tiefster Gewissheit geworden: Sex ist zuvorderst kein Zeichen der Liebe oder gar Unterpfand für Bindung und Geborgenheit, sondern ein Grundbedürfnis wie Essen & Trinken, eine Energie, die IMMER da ist, mal weniger, mal mehr spürbar, mal angenehm, mal eher unangenehm. Das Wegdrücken der Sexualität in nur ganz schmale erlaubte Bereiche, das die Gesellschaften immer schon pflegten, hat viele Gründe, für die es im Einzelnen Pro und Contra geben kann, doch mit Wahrheit hat das alles nichts zu tun. Zudem sind diese Unterdrückungs- und Kanalisierungsmechanismen allermeist unbewusst, es gab und gibt da kein Kollektiv wacher und bewußter Menschen, die sagen: Wir wollen das so!

Weite Bereiche der Sexualität werden so in eine Schmuddelprostitution gedrängt, von der kein Mann (und erst recht keine Frau) behaupten kann, er oder sie pflege hier den aufrechten Gang. Oder ist es etwa möglich, während einer Party mit Arbeitskolleginnen (!) und Kollegen zu sagen:

„Hey, ich war da gestern abend bei Mona in der Bleibtreustraße. WOW, die konnte mich für eine Eeeeewigkeit knapp vor dem Point of No-Return halten! Ich konnte alles vergessen, sogar mich selbst, es war großartig…
Sie nimmt übrigens keine Kreditkarten, sie meint, es sei ihr zu teuer und zu umständlich, bis das Geld wirklich da ist.“

Ganz ähnlich also, wie man zum Beispiel einen guten Koch oder ein neues Restaurant rühmt und dann zu anderen Themen übergeht.

Warum nicht?

Fakt ist, dass das ganz normale Geschlechterverhältnis entlang der sexuellen Ebene noch immer belastet ist wie eh und je. Auch der angeblich „kostenlose“ Sex liebevoll verbundener Paare ist gewöhnlich alles andere als easy; zuvorderst deshalb nicht, weil er (wie die Beziehung selbst) als regelmäßig und dauerhaft, als friedlich-verläßlicher „Normalzustand“ erwartet und gewünscht wird. Was normal ist, wird dabei auch noch an der Zeit der heftigsten Verliebtheit gemessen, wo man nicht viel anderes im Sinn hat, als möglichst viel Zeit miteinander im Bett zu verbringen. Aber kaum ist das abgeflaut und mensch beginnt, die Welt wieder wahr- und das eigene Leben wieder aufzunehmen, wirkt das auf den Partner als Entzug, gar als ungewollte Verstoßung, jedenfalls als eine Art BEWERTUNG. Schau an, es gibt wieder andere Prioritäten!

Selbst dann, wenn er oder sie selber schon heftig nach Luft schnappt und wieder mehr Raum und Energie für die Eigenbewegung braucht, geschehen diese negativen Bewertungen, es geht jetzt um Bedeutung und nicht mehr ums Erleben. Der Sündenfall ist da, das Kind im Brunnen. Es herrscht jetzt der Psycho, nicht mehr Eros oder Pan.

Das Erlebnis, größer werdende Teile der Aufmerksamkeit des endlich gefundenen und geliebten Partners auch wieder zu verlieren, macht junge Menschen verständlicherweise agressiv, traurig, ängstlich oder verbittert. Schließlich hofft man da noch, beim Anderen alles Heil zu finden, das man in diesem seltsamen Leben auf einer unerklärlichen Welt nötig haben könnte. Und wenn schon das nicht, so ist er (oder sie) doch wenigstens ein verläßlicher Verbündeter im Unbekannten – oder etwa doch nicht?

Hier geht es nicht mehr um Sex. Ich denke, das ist leicht erkennbar. Es geht um ganz andere Aspekte des In-der-Welt-Seins, der Sex wird mit ihnen nur unzulässig befrachtet. Leider geht das immer so weiter, springt von einem Thema zum nächsten, wird zur Methode der nichtmentalen Kommunikation. Das Bewerten des sexuellen Aufeinander Zugehens oder Fernbleibens im Hinblick auf Bedeutung für Anderes tötet das ursprüngliche und Unverfügbare der Erfahrung, macht einen Teil davon (den jeweils postiv bewerteten) zur möglichen Währung, den anderen Teil zum möglichen Sanktionsmittel. Und wer sich ganz unerwartet mit solchen Machtmitteln ausgerüstet sieht, müßte schon ein Heiliger oder eine Heilige sein, um sie niemals zu benutzen, meint ihr nicht auch? (Und was war mit der Hure? fragt der innere Assoziationsblaster…)

Nähe – sexuell ein Flop?

Wie immer: die sexuelle Dimension vieler Paare ist auch deshalb belastet, weil sie früher oder später erleben, dass die im besten Fall zunehmende geistig-psychische Nähe, aus der echte Verantwortung und dauerhafte Bindung entsteht, auf sexuellem Gebiet eher kontraproduktiv ist. Man fühlt sich verbunden, will aber immer weniger voneinander. Spirituell ist das ein Gewinn, sexuell eher ein Verlust, denn das Wesen des Sexuellen enthält auch etwas Forderndes, ja, agressives. Eben das, was verschwindet, wenn man sich wirklich nahe kommt. (Das Leiden am sog. „Kuschelsex“ hat hier seinen Ursprung.)

Wenn man sich erinnert, dass Sexualität ja doch ursprünglich im Zusammenhang mit Fortpflanzung entwickelt wurde, ist der agressive Aspekt nicht weiter verwunderlich. Schließlich mussten sich die Zweigeschlechtlichen Wesen bis ins 20ste Jahrhundert physisch recht nahe kommen, um sich fortzupflanzen zu können (einzig der Mensch macht da neuerdings einen „FORT-Schritt“). Und das als verteidigungsfähige erwachsene Einzelwesen, aus der Grabbelgruppe lange ‚raus! Unter den Spinnen überleben das manche Männliche nicht. Sex war nie NORMAL.

Es ist unsere Schuld, wenn wir Sexualität technisch von der Fortpflanzung lösen (uns davon „befreiend“), dann aber nicht neu interpretieren und nur armselig oder überhaupt nicht kultivieren. Unser Fehler, wenn wir immer noch das Märchen von der lebenslangen Liebe mit der regelmäßigen und erfüllten Sexualität (hier und nirgends sonst!!!) glauben oder im Zuge des neuen Konservatismus wenigstens wieder herunterbeten – damit die Welt im globalisierten Sodom und Gomorra nicht ganz vor die Hunde gehe.

Meiner Generation (den Post-68ern) hat AIDS die Sprache verschlagen. Wir sind zugunsten des Überlebens von der richtigen Einsicht abgewichen, die wir im realen Leben sowieso nicht „durch Verordnung“ verwirklichen konnten. Das ist keine Schande, aber in den Zeiten von BSE muss man wieder Worte finden.

Die genannten und weitere eigentlich unerotische (Paar-)Verstrickungen zeigen jedenfalls eines: Kostenlos ist das alles nicht. Man kann gut verstehen, dass viele gerne Geld zahlen, um frei von all diesem Ballast Sexualität zu erleben. Um dafür auch die allen wohlgefälligen „guten Sitten“ entwickeln zu können, darf Sex als Dienstleistung jedenfalls nicht mehr als „sittenwidrig“ gelten. Gelobt sei das Verwaltungsgericht Berlin! Der ‚heiligen Hure‘ Felicitas, die es mit vollem persönlichen Einsatz durchgeboxt hat, gebührt dagegen ewige Dankbarkeit.

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Claudia am 01. Dezember 2000 — Kommentare deaktiviert für Film: Warum immer nur das eine?

Film: Warum immer nur das eine?

Im Kino gewesen: THE CELL angesehen und gestaunt! Den Kritiken kann ich voll zustimmen: Story recht dünn, doch spektakuläre Bilderwelten und Effekte beeindrucken so sehr, dass der Besuch lohnt. Die Rahmenhandlung braucht nur wenig Worte: hübsche Psychologin wird über Hirn/Computer/Hirn-Interface mit häßlichem Serienmörder verschaltet, reist in dessen Bewußtsein, um ihm den Aufenthaltsort seines letzten, noch lebenden Opfers zu entlocken: Der begehbare Frauenmörder als virtueller Freizeitpark für alle. Weiter → (Film: Warum immer nur das eine?)

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Claudia am 30. November 2000 — Kommentare deaktiviert für Yoga – die Fortsetzung

Yoga – die Fortsetzung

Der Eintrag gestern scheint gefallen zu haben: ein paar Mails mehr als sonst, einige Info-Mail-Bestellungen. Vielleicht sollte ich da weiter schreiben, was spricht schon dagegen, auch meine Yoga-Geschichte zu erzählen? Das läßt sich sowieso nicht mehr trennen vom „Rest“: alles, was ich erlebe und schreibe, ist davon geprägt, wenn ich auch immer darauf verzichtet habe, explizit „über Yoga“ zu schreiben. Mit einer Ausnahme: der Artikel „Entspannung“ ist zum Jahreswechsel 1996/97 entstanden und bringt meine erste und wichtigste Erfahrung mit Yoga auf den Punkt: dass der Körper, das Denken und Fühlen nicht drei unterschiedliche „Dinge“ oder Welten sind, sondern Aspekte ein- und desselben Ganzen. Wie viele Yoga-Erkenntnisse hört sich das verdammt banal an, man kann damit kaum im Gespräch glänzen. Aber es ist ein gewaltiger Unterschied, ob ich glaube, ich sei ein unabhängiges Wesen (genannt „ich“), das eine ebenso unabhängige Welt wahrnimmt, und dann diesen Wahrnehmungen entprechende Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen HAT – oder ob ich weiss, dass das nicht der Fall ist. Weiter → (Yoga – die Fortsetzung)

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Claudia am 28. November 2000 — Kommentare deaktiviert für Yoga – meine Geschichte

Yoga – meine Geschichte

Endlich mal wieder deutlich früher aufgestanden: um sieben anstatt erst um halb acht. In der dunklen Jahreszeit besteht eine Neigung, länger im Bett zu bleiben, doch genau das trägt zum Winterblues bei. Je später man aufsteht, desto kürzer wirkt der Tag, umso länger die Nacht, die jetzt schon kurz nach vier beginnt: Was um Himmels willen soll ich diese ganze lange Zeit tun? Manchmal beneide ich die Bären um ihren Winterschlaf! Die morgendliche Nacht wirkt dagegen inspirierend, die Stille ist voller Versprechen, langsam verdichtet sich die Energie in Richtung Tag, die Morgendämmerung setzt ein, hier draussen noch immer in Stille. Wunderschön.

So ungefähr an zwei Dritteln aller Tage übe ich morgens von 8 bis 9 mit meinem Lebensgefährten Yoga. Eigentlich hatte ich nie vor, das morgens zu machen, doch letztlich hat es sich so ergeben: es ist sehr viel schwerer, einen Tag – und sei er noch so eintönig und ereignislos – zu unterbrechen, um eine Stunde Übungen zu machen, als gleich morgens damit zu beginnen. Das gilt erst recht, wenn es Übungsformen sind, die sowieso einen leeren Geist benötigen, bzw. erst richtig erfahren werden können, wenn das Gedanken-Wandern im Kopf zum Erliegen kommt oder zumindest von der Konzentration auf den Atem dominiert, wenn schon nicht ganz abgelöst wird.

1991 hab‘ ich mit Yoga angefangen, eine wirklich lange Zeit. Ich möchte gar nicht wissen, was aus mir geworden wäre, wie ich heute das Leben spüren bzw. nicht spüren würde und was ich darüber dächte, wenn ich NICHT mit Yoga angefangen und es stets und ständig fortgeführt hätte. Acht Jahre mit Unterstützung meines ZEN-inspirierten Lehrers in seinen wunderbar kleinen Gruppen von jeweils nur vier Schülern! Der einmal-die-Woche-Termin hat sich dadurch als Minimum eingespielt, das ich mit wenigen Ausnahmen all die Jahre durchgezogen habe, auch in lustlosen Zeiten. Doch per „einmal die Woche“ geschieht im Yoga nicht viel. Ich kann von Glück sagen, dass Hans-Peter es fertig brachte, meine Motivation zu Beginn derart zu steigern und regelmäßig neu zu entfachen, dass ich die ersten Jahre fast täglich übte. Allein die Veränderungen der Befindlichkeit, die sich im ersten halben Jahr ergaben, gerieten deshalb spektakulär und taten das ihre, mich weiterhin bei der Stange zu halten. Auch später gab es viele lange Phasen, wo das Üben zumindest in Richtung täglich tendierte oder sich bei zwei bis dreimal pro Woche einpendelte.

Wenn eine Übungsweise mal so weit in einem Leben etabliert ist, gewinnt sie einen ganz anderen Charakter und völlig andere Bedeutungen, als zu Beginn des Engagements. (Da liegt auch der Grund meiner tiefen Dankbarkeit für Hans-Peter-Hempel, denn ohne ihn hätte ich diese Kontinuität niemals aufbringen können). In der Rückschau wirkt manches geradezu komisch, was ich über Yoga zu wissen meinte, bzw. davon erwartet habe, als ich damit anfing. Und es ist ein unverdientes Wunder, ein großes Glück, dass ich dabei geblieben bin, wenn auch mit größtmöglichen Schwankungen in der inneren und äußeren Beteiligung.

Vermutlich ist es ganz egal, was man macht: ob Yoga, Tai Chi, Feldenkrais, QiGong, Bogenschiesen, Karate, KungFu, Sitzmeditation oder Marathon, man muss es nur machen, öfter als einmal die Woche, länger als ein paar Monate. Und nicht mechanisch wie ein sogenanntes „Working Out“, sondern mit aller Sorgfalt, Aufmerksamkeit und Hingabe. Es braucht nun einmal diese Zeit, damit sich die eigentlichen, weniger oberflächlichen Wirkungen dieser Übungen entfalten – auf Ebenen, auf denen man sie gar nicht erwartet hätte.

Es wäre nun zwar möglich, Konkreteres aus meiner Yoga-Geschichte zu erzählen, doch damit wäre der Abgrund nicht überbrückt zu denjenigen, die noch nie eine Geist-UND-Körper-einbeziehende Übungsweise LÄNGER praktiziert haben: Die vielleicht nach drei Monaten Yoga zu TaiChi geweschselt sind, danach Kailash-Besteigung oder Trecking in Nepal, im Winter dann Sitzmeditation, im Frühling das Sportstudio und zur Sonnwende die Schwitzhütten-Zeremonie, als Vorbereitung und Reinigung vor dem Tantra in der Toskana. Oder die, die vom Körper allenfalls Leistung verlangen, aber keinerlei Erkenntnisse – schließlich findet denken im Kopf statt und den behält man am sichersten oben, wenn man sein Leben im Sitzen verbringt.

Das schreibt sich lustig dahin, doch war ich auch nicht viel besser. Mit Yoga hätte ich ganz gewiss nicht angefangen, hätte ich nicht Hans-Peter getroffen, ihn einfach um einen Termin gebeten nach seinem Vortrag über „Buddhismus und Abendland“ an der Berliner Urania.

Hans-Peter Hempel

Hans Peter Hempel,
Yogalehrer, Professor für Politik & Philosophie an der TU Berlin
lehrt einen buddhistisch inspirierten Yoga (ZEN-Yoga), der darauf verzichtet, neue Systeme absoluter Wahrheiten zu errichten.Offene Weite – nichts von heilig
Bücher z.B.

  • „Alle Menschen sind Buddha. Der Weg des Zen“
  • „Im Hier und Jetzt – Unterweisungen im ZEN-Yoga“

Dass er Yoga lehrte, wusste ich gar nicht, sondern hatte aufgrund des Vortrags angenommen, dass er eine Meditationsgruppe leite. Yoga war bei mir „schon durch“ wie vieles andere: Mal ein tolles Buch gelesen, selber mit den Übungen angefangen, nach dem dritten Mal wieder aufgehört, weil ich mir ein bißchen blöd vorkam auf der Matte am Boden meines Zimmers. Das nächste Buch, bitte. Es kann auch gut sein, dass ich das „heiligmäßige Leben“ nicht länger als eine Woche ausgehalten habe, das für meine Begriffe zwingend dazugehörte. Jedenfalls war Yoga für mich kein Thema, als Hans Peter davon anfing: Der Körper sei so unruhig, nervös und verspannt bei uns Westlern, dass es ganz unmöglich sei, aus einem solchen Zustand in Meditation zu kommen. Deshalb lehre er Hatha-Yoga, schlichte Übungen, die jeder machen könne.

Ich hatte meine Zweifel, denn mein Leben lang hatte ich Sport vermieden und erst kürzlich wieder bemerkt, dass ich mich kaum noch ohne Schmerzen bewegen konnte. Ein paar Wochen Krankengymnastik hatten mir gezeigt, wie eingerostet ich mit 36 schon war und das schlimmste wieder hingebügelt. Aber auch sonst war ich weit vom REINEN LEBEN entfernt, das ich als Voraussetzung meinte erstmal leben zu müssen: Der Alkohol war immerhin schon „von mir abgefallen“, nicht aber rauchen, kiffen, zuviel essen, der Kaffee und vieles mehr. Ich – eine Yogini? Unmöglich!

Nicht mehr rauchen? Das könne man nicht verordnen, sagte Hans-Peter. Das müsse alles von selber verschwinden. Und in seiner unendlichen Geduld kreidete er es mir niemals an, dass ich über viele Jahre Raucherin blieb, bzw. es immer wieder wurde. Nur merkte er gelegentlich in der Yogastunde an, dass man es wieder mal sehr stark rieche…
Dass er mich trotzdem angenommen hat, obwohl ich seine Nase beleidigte, dafür bin ich ganz besonders dankbar. Neun Jahre später scheint das Rauchen sich zu verabschieden – eine lange Zeit.

Genug spontane Autobio – die Arbeit lockt…

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