Claudia am 03. Mai 2002 — Kommentare deaktiviert für Zur Mai-Randale in Berlin

Zur Mai-Randale in Berlin

Es wundert niemanden wirklich, dass auch dieser 1.Mai in Berlin „wie immer“ verlief: Randale in Kreuzberg, kaputte Scheiben, brennende Autos, ein geplünderter Supermarkt und von Stein- und Flaschenwürfen Verletzte auf beiden Seiten. Und: tolle Bilder in der Abendschau: Wie sie auf den Straßen tanzten vor brennender Barrikade, artistische Kleinkünstler, die den Handstand rückwärts im Feuerschein eines „abgefackelten“ Autos vollführen – wow! Die Ästhetik des Ausnahmezustands wird in den Medien genussvoll zelebriert, wie an jedem 1.Mai.

Die Polizei übte sich dieses Jahr in „Deeskalation“. Nur kein martialisches Auftreten, niemanden provozieren, sogar die Veranstalter der „Revolutionären 1.Mai-Demo“ bemerkten anerkennend, dass „es den Bullen diesmal nicht darauf angekommen ist, hier hunderte schwer Verletzter zu haben“. Immerhin verliefen die Demonstrationen selber friedlich, das Konzept war teilweise erfolgreich – auch die Randale im Anschluss ging schneller zu Ende als in anderen Jahren. Trotzdem darf sich die Polizei nun die üblichen Vorwürfe anhören: das Konzept „Deeskalation“ sei gescheitert, von einem „Rückzug des Rechtsstaats“ ist die Rede – als könne irgend eine Strategie, sei sie nun martialisch oder eher zurückhaltend, die Gewaltausbrüche zur Gänze verhindern. ALLE wissen das, aber anstatt dazu etwas zu sagen, erfolgt der übliche politische Schlagabtausch: Ihr seid schuld….

Wer ist denn nun schuld? Oder ist das eine falsche Frage? Heut‘ morgen hat mich mal interessiert, wie eigentlich die Aktivisten von links außen die Ereignisse bewerten. Mal kurz gegoogelt (Autonome + Berlin) und schon der zweite Klick brachte zu Tage, was ich suchte. Das Webzine „Autonome Antifa Berlin“ meldet unter dem Banner „Danach“ nur einen einzigen Satz:

„Wir danke den viele besoffenen, gröhlenden, sinnloskleineAutoszerstörenden, sexistischen, unverantwortlichen, partyeventmachenden, unpolitischen , eigeneLeuteverletzenden Pseudohooligans und Radalekiddies …. für diesen schönen 1.Mai.“

Klare Worte und kein Grund, ihnen nicht zu glauben. Wer die Geschichte gewaltätiger Ausschreitungen in Berlin seit 1968 rekapituliert, wird die Entmischung von Geist und Gewalt bemerken: die Theorie- und Utopie-Lastigkeit der 68er und Spontis vermochte es noch, Gewalt aus der „Systemopposition“ hochintellektuell zu rechtfertigen. Die später sich entwickelnde Anti-Atom und Umweltbewegung hatte schon weit handlichere Gründe für Gewalt „am Rande“ von Demonstrationen, der Kampf gegen die Nato-Nachrüstung basierte gar auf echter existenzieller Panik: Man glaubte allen Ernstes, wenn jetzt die Pershing 2 stationiert werde, gehe sofort der 3.Weltkrieg los. Also: Wo Recht zu Unrecht wird, wird Wiederstand zur Pflicht. Die Hausbesetzerbewegung Anfang der 80ger konnte ebenso auf das Wohlwollen fast der ganzen Stadt setzen, denn die Skandale von Entmietung, Leerstand und Kahlschlagsanierung waren allen sicht- und erlebbar – und doch wurde hier schon sehr deutlich, dass immer auch ein gewisses „Gewaltpotential“ existiert, dass sich hinter Gründen nur verbirgt, sie aber nicht wirklich braucht.

Und heute? Im Vorfeld der Mai-Randale fahndet die Berliner Abendschau offenbar immer nach jemandem, der noch etwas „Rechtfertigendes“ zu den mit Sicherheit kommenden Ereignissen sagt, aber man merkt, dass das immer schwerer wird. Allenfalls finden sich noch Leute, die auf die „Provokationen der Bullen“ verweisen – insofern ist die „Deeskalation“ die einzig wahre Strategie: Nicht, dass sie Gewalt wirklich verhindern könnte, aber sie zerstört die letzten Illusionen über einen vermuteten „Sinn“ dieses Geschehens.

Sinnlose Gewalt also – warum findet sie statt? Und – mangels erkennbarem Sinn ist das fast noch interessanter: warum immer zu einem festen Termin?

Der Innensenator sagte im TV: Wenn man diese Gewalt verhindern will, kann man das nicht allein der Polizei überlassen. Ich weiß nicht, was er konkret meint, aber für mich ist ganz klar: diese Gewalt ist ein Auswuchs unseres gesellschaftlichen Unbewussten. Kaum jemand ist nämlich wirklich entrüstet, auch nicht ein paar Tage nach Erfurt, wo doch so viel von „Innehalten“ die Rede war, von der Notwendigkeit, die Akkzepanz von Gewalt als Teil der Normalität zu bekämpfen.

Während der Randale sind immer viele Schaulustige unterwegs. Erwachsene stehen am Straßenrand und applaudieren den jugendlichen Steinewerfern. Der Apotheker, dem man die Scheibe eingeschmissen hat, meint, er nehme das nicht persönlich. Und wer in der Walpurgisnacht oder am ersten Mai sein Auto in der Kampfzone parkt, muß sowieso unendlich blöde oder arrogant sein, heißt es in der Sendung „Kontraste“. Der weißhaarige Sprecher der Abendschau berichtet vom Verlauf der Ereignisse mit belustigtem Unterton – überhaupt ist der „Programmpunkt Mai-Randale“ ab Januar ein zunehmend häufiges Thema. Die „Unausweichlichkeit“ der sinnleeren Veranstaltung wird zwar beflissen bedauert, aber es gibt interessante Strategiediskussionen und am Tag der Tage natürlich Sondersendungen – und immer wieder Witze über die punktgenaue „Revolution nach Terminkalender“.

Ein lieber Freund, dem das ganze Geschehen wirklich in der Seele weh tut, fragt, warum eigentlich die Justiz nicht schärfer reagiert, z.B. gegenüber den Verhafteten den möglichen Strafrahmen stärker ausschöpft. Auch das ist ein Teil der allgemeinen Akzeptanz dessen, was da so sinnlos sich vollzieht – und ich finde es eigentlich einsichtig, dass nicht versucht wird, mit juristischen Mitteln, mit langen Gefängnisstrafen und all ihren lebenszerstörenden Folgen hier „Prävention“ zu betreiben. Ein bisschen käme mir das vor, als würde das Publikum im Theater die Schauspieler für die Verbrechen in einem Shakespeare-Drama zur Verantwortung ziehen. Das ist vielleicht ein bisschen überspitzt gesagt, aber mein Gefühl geht in die Richtung: diese Randale ist kein Privatzoff einiger Irrer, sondern Ritual einer ganzen Gesellschaft. Ein Ausbruch des Irrationalen, der umso weniger „ausfallen“ kann, je weniger uns rational zur „Lage der Welt“ noch einfällt.

Muss ich das ausführen? Die üblichen Schlagworte ein weiteres Mal aneinander reihen? Ich glaube nicht. Jede Leserin und jeder Leser weiß, was ich meine, wenn es auch jeder für sich etwas anders formulieren würde. Mit Vernunft allein scheint man nirgends mehr viel ausrichten zu können, egal, welches Problemfeld man in den Blick nimmt. Und so sehr wir uns auch dagegen wehren mögen: der Kampf aller gegen alle wird härter, sowohl im Bereich des individuellen Berufslebens als auch im politischen Großraum, wo der Krieg als Mittel der Politik wieder möglich ist.

Das rechtfertigt nicht die rituelle Gewalt auf den Straßen in Kreuzberg. Aber es macht die Wurzeln der Gefühle verständlicher, aus denen die gar nicht so heimliche Akzeptanz der „Mai-Festspiele“ erwächst – die dieses Mal übrigens unter das Motto „Macht verrückt, was Euch verrückt macht!“ gestellt waren.

Etwas Positives zum Schluss? Berlin hat ja nicht nur den Mai-Zoff im Terminkalender: Demnächst findet der „Karneval der Kulturen“ statt, ein wunderbar buntes Multi-Kulti-Festival im Geiste von Frieden und Völkerfreundschaft. Ebenso schön der schwul-lesbische Christopher-Street-Day und im Juli dann der berühmte Mega-Event, die Love-Parade. Das Irrationale hat auch seine hellen Seiten, sogar mit deutlich mehr Terminen. Hoffen wir also auf gutes Wetter!

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Claudia am 28. April 2002 — Kommentare deaktiviert für Amoklauf in Erfurt: Der Tunnelblick verengt sich

Amoklauf in Erfurt: Der Tunnelblick verengt sich

17 Menschen sind tot. Der Amoklauf eines 19-Jährigen, der Lehrer, Schüler und Polizisten des Gymnasiums niedermetzelte, aus dem er kürzlich verwiesen wurde, erschüttert die Republik. Fassungslosigkeit, Entsetzen, hilflose Fragen nach den Gründen. Wer ist schuld? Hätte man das verhindern können? „Er wollte immer auffallen“, sagt eine Mitschülerin. Ein Psychologe spricht vom Realitätsverlust des Täters, vom Tunnelblick, der keine Alternativen mehr zulasse als eben den Griff zur „Pump-Gun“. So jemanden dürfe man eben nicht alleine lassen, wenn man ihn von der Schule werfe.

Kulturkritische Reden werden jetzt wieder gerne geführt, gedruckt, gesendet: Der Werteverlust! Das hohle Leistungsdenken! Nur die Reichen und Schönen, nur Erfolgsmenschen und Medienstars gelten etwas in unserer Welt – kein Wunder, dass diejenigen schon mal ausrasten, die in der sich ausweitenden Kampfzone als Verlierer da stehen. Vom Bundespräsidenten bis zum Hinterbänkler wissen auf einmal alle: Der Wurm ist drin in unserer Gesellschaft, die nur noch dem Mammon huldigt, in der gegenseitige Hilfe, Achtung und Respekt allenfalls noch als Sonntagsreden-Marotte religiöser Würdenträger vorkommen. Habermas, wie recht du hast!

Ein paar Tage noch werden die Medien das Thema durchdeklinieren, dann wird es im Wahlkampf verschwinden: Wie kann Deutschland sich im internationalen Wettbewerb behaupten? Wie muss man das Bildungssystem umbauen, um die Schüler und Studenten in kürzester Zeit fit für den Weltmarkt zu machen? Die Betroffenen in Erfurt bekommen ihre psychosoziale Betreuung, für Großschäden durch Terroranschläge haftet seit heute der Staat, die „unausweichlichen Strukturveränderungen“ im sozialen Netz stehen auf der Tagesordnung, gleich nach der Wahl kommt der „Umbau“. Wir sind bereit für die Zukunft, da kann man nicht meckern.

Wie doch die Worte und Sätze locker dahin fließen! Auf der Ebene psychosozialer und politischer Verallgemeinerungen lassen sich Zeilen schinden ohne Ende, doch es befriedigt mich nicht. Das Klagen und Lästern über die „böse Welt“ ändert nicht nur nichts, sondern vermittelt auch immer den Eindruck, der Autor (und der ebenso entrüstete Leser) habe mit alledem nichts zu tun, sondern säße als unbeteiligter Beobachter auf einem Podest hoch über den Niederungen, in denen die Dummen und die Bösen das furchtbare Schauspiel dieser Welt zelebrieren.

Das Eintauchen in solches Schreiben und Lesen ist zwar entspannend. Man tröstet sich mit der Vorstellung, es besser zu wissen und erhaben zu sein – ganz ohne je darüber nachzudenken, inwiefern man selber Teil des Schreckens ist, der als „das Übel“ so angenehm auf Distanz gehalten wird. Und geht zur Tagesordnung über.
Mitmensch on Demand

Zum Beispiel Erziehung. Gewalt, so berichten Kundige in der Folge der Erfurter Schrecknisse, werde von den Jugendlichen heute öfter im Elternhaus erlebt als in der Schule – und weit häufiger als noch vor zwanzig Jahren. Gleichzeitig berichtet ein Radiosender von den Bemühungen des Gesundheitsministeriums, die um sich greifende Medikamentierung der Grundschulkinder zurück zu fahren. Bereits ein gutes Fünftel wird regelmäßig oder gelegentlich mit dem Beruhigungsmittel Ritalin sediert, das eigentlich nur für krankhaft hyperaktive Kinder entwickelt wurde.

Böse Eltern? Die einen sind so hilflos, dass sie schon mal zuschlagen, wenn der Nachwuchs nervt, die anderen benutzen die Errungenschaften der Pharmaindustrie, und wieder andere sind froh, die Kids in der Obhut zweifelhafter Medien sich selbst überlassen zu können: Videos, Computerspiele, vielleicht auch die pädagogisch wertvolle Hörkassette, Hauptsache, sie geben Ruhe!

Mir scheint, das Aufziehen von Kindern ist eine Sache, zu der heutige Individuen immer weniger in der Lage sind – aber ICH habe gerade kein Recht, mich über das Versagen von Eltern zu erregen, denn persönlich bin ich dem Thema Kind lieber gleich ganz aus dem Weg gegangen. Wer nichts macht, macht auch nichts falsch, da lässt sich’s locker kritisieren!

Besser, ich versuche, das Dilemma nachzufühlen: Was ist das Schreckliche an Kindern und Jugendlichen? Was ist der Kern der Überforderung? Immerhin begegne ich ihnen gelegentlich, erlebe Eltern im Umgang mit ihren Sprösslingen, spüre die Erschöpfung bei Freunden und Kollegen, wenn sie sich stundenlang liebevoll und engagiert den Bedürfnissen von 10-Jährigen fügen. Ich kann mich verabschieden, wenn es mir zuviel wird, sie nicht.

Was ist dieses „zuviel“? Es ist das rücksichtslose Eindringen in unsere Blase der Wahrnehmung. Kinder sind noch nicht so sehr „im eigenen Kopf versponnen“ wie der durchschnittliche Erwachsene, der gelernt hat, die Welt und ihre Anforderungen auf Distanz zu halten und sich den Dingen nach eigenem Plan zu widmen. Das Leben wird immer komplizierter, die Anforderungen an den Intellekt steigen. Ich muss jede Menge Informationen aufnehmen und wesentlich mehr Kontakte auf unterschiedlichsten Ebenen pflegen als es noch vor zwanzig Jahren möglich und üblich war. Der Siegeszug der E-Mail (und der SMS) spricht eine deutliche Sprache: Man brettert nicht mehr einfach so rein in ein anderes Leben, indem man jemanden anruft oder gar aufsucht. Nein, man schiebt seine Botschaft in einen elektronischen Speicher, in die Mailbox oder auf den Anrufbeantworter, damit der Andere nach eigenem Gutdünken darauf Zugriff nehme, wann immer es ihm passt. Mitmensch on demand, alles andere wird zur Überforderung.

Wir tragen Scheuklappen, die Jahr für Jahr dichter werden. Die Individualisierung, diese wunderbare Freiheit, Arbeit, Beziehungen, Wohnort, Werte und Bindungen weitgehend selber wählen zu können, verschärft die Lage noch, denn auf Gemeinsamkeiten aus Herkommen und Tradition, auf irgend welche Selbstverständlichkeiten kann niemand mehr zählen. Statt dessen müssen wir uns informieren (= in verwendbare Form bringen) und kommunizieren, taktieren, planen, verhandeln, Kompromisse schließen. Um überhaupt noch zusammen zu wirken, bedarf es des ständigen Stroms medialer Berieselung und jeder Menge technischer Interfaces, die ihrerseits hohe Anforderungen an die Lernfähigkeit mit sich bringen. Alles zusammen ergibt eine extrem einseitige Belastung des Intellekts, zwingt zur Rationalität, zum berechnenden Denken, das immer eine Zukunft plant und das „Jetzt“ nur als Mittel zum Zweck betrachtet. Gefühle sind dabei eher störend und der Körper wird – wenn überhaupt – mühevoll fit gehalten, damit er im üblichen Sitzleben nicht vorzeitig ausfällt.

Leben aus dem Tunnelblick: Ich nehme nur wahr, was mir nützt und was in meinen Plan passt. Anforderungen von außen sind Störfaktoren, die es zu bekämpfen gilt – gibt es überhaupt noch ein „außen“? In vielen Köpfen offensichtlich nicht. Der Status quo des Tunnelblick-Bewusstseins wird jedoch selber zum Störfaktor mit zunehmender Neigung zum Katastrophischen. Vor einer Berliner Grundschule ist gerade ein Spielgerät zusammengebrochen, einige Kinder brachen sich Arme und Beine: Es war eine Art Karussel auf einem Holzstamm, der im Sandboden steckte. Bei jedem Regen stand lange das Wasser um den Stamm, das hatten viele gesehen und konnten es in die Mikrophone erzählen. Aber nie war jemand auf die Idee gekommen, der Stamm könne durchfaulen, natürlich nicht, niemand hat Zeit, an so etwas zu denken. Und wenn doch, wäre man ja gewiss nicht zuständig!

Vor drei Wochen versuchte ich, in einer sozialen Einrichtung bei mir um die Ecke einen Raum für einen Abend pro Woche zu mieten – und zwar zu einem festen Starttermin. Die Angestellten waren freundlich, sagten zu allem „ja gerne“, hängten sogar meine Ankündigungsplakate auf, auf denen der Termin stand. Und sie sprachen davon, dass sie mir einen Schlüssel machen lassen würden, damit ich in die Räume komme – insgesamt vier Leute sprachen immer wieder davon, waren weiterhin freundlich, schoben sich das Vorhaben gegenseitig zu und verwiesen aufeinander – letztlich aber brachten sie es nicht zustande, auch zu tun, was sie sagten! Ich war nicht mal richtig sauer, so seltsam kamen sie mir vor: wie Zombis in einem Traum, zu denen man einfach nicht durchdringt, egal, wie laut man schreit.

Wieviele Menschen wohl in diesem Zombi-Tum ihr Leben verbringen? Wie oft bin ich selber so? Können uns bald nur noch Amok-Läufer, Selbstmordattentäter und Kamikaze-Piloten für ein paar Augenblicke aus dem täglichen Schlaf aufstören?

Ob dieser Text, in dem ich mir das Ganze für heute von der Seele schreibe, ein wenig wacher macht? Glaub‘ ich nicht, Worte werden maßlos überschätzt. Wir lernen allein durch die Folgen unserer Taten – im Moment tut mir zum Beispiel der Rücken vom langen Sitzen weh, besser, ich mach‘ jetzt Schluss und gehe ein bisschen im Zimmer umher.

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Claudia am 23. April 2002 — Kommentare deaktiviert für Nachhaltiger Verzicht – wenn Verbraucher streiken

Nachhaltiger Verzicht – wenn Verbraucher streiken

Wenn ich so durch die Berliner Straßen und Parks laufe, bemerke ich normalerweise jedes Blümelein, das den Asphaltdschungel mit seiner Anwesenheit beehrt und freue mich darüber. Eines ist mir auf meinen Wegen durch reale und virtuelle Welten allerdings lange nicht begegnet: das „zarte Pflänzchen des Aufschwungs“, von dem die Politiker so gerne reden. Es muss sehr versteckt vorkommen, vielleicht kennen nur Eingeweihte seine Standorte, Deutschland jedenfalls scheint im Moment nicht dazu zu gehören.

Der Handel vermeldet bis zu 20% Umsatzminus im ersten Quartal, die Entlassungen und Insolvenzen gehen munter weiter, der SPIEGEL fasst zusammen: Die Leute kaufen nur noch das Nötigste und auch beim Nötigsten sparen sie, wo sie können. ALDI, LIDL & Co verzeichnen zweistellige Zuwachsraten.

Auch bei mir ist schon einige Zeit ins Land gegangen, seit ich mir mal etwas kaufte, das nicht unbedingt sein muss. Mein Luxus ist das Fitness-Center und gelegentlich die Sauna. Mir fehlt nichts, ich habe alles, was ich brauche, sogar ein Handy, das ich eigentlich nicht haben wollte, aber schließlich geschenkt bekam. Wie soll so eine Wirtschaft florieren, die auf WACHSTUM angewiesen ist? Sogar mein PC, den ich bisher alle 2,5 Jahre durch einen neuen ersetzte, tut es noch wunderbar. Noch immer erfüllt er meine Bedürfnisse: kein Wunsch nach „mehr Speicher“ oder mehr Geschwindigkeit kommt auf, alles funktioniert blendend – und wer denkt denn noch im Traum daran, einfach mal ein neues „Winword“ zu kaufen? Ein komischer Gedanke aus alten Zeiten, als man noch bei jeder Version glaubte, mit der neuen MEHR machen zu können, im Ergebnis aber auch ein Betriebssystemupdate und einen frischen Computer brauchte. Um dann – im besten Fall – genau das tun zu können, was vorher schon funktionierte! Ha, da haben wir dazu gelernt, zum Elend der Softwareschmieden.

Nun warten alle auf UMTS, auf dass der Austausch sämtlicher Handys und neue Dienste den widerborstigen „Verbraucher“ aus dem Dornröschenschlaf holen möge, die Kids hoffentlich einen Boom anstoßen wie mit SMS – bangen, hoffen, zittern – ob die Hoffnungen berechtigt sind? Eine neue Euphorie, ein Hype wird gebraucht, der nicht nur einer Branche ein kurzes Hoch beschert, sondern viele mitzieht. Ich bin skeptisch, ob UMTS das zaubern kann.

…und sie können es doch!

Die Verbraucher tun derzeit unaufgefordert etwas, was sie nach Einschätzungen der Umwelt-Marketing-Leute überhaupt nicht mögen, wovon sie nicht einmal hören wollen: Sie üben Verzicht. Wer hätte das gedacht!

„Verzicht“ ist lange schon das Unwort der Öko-Branche und der engagierten Umweltschützer. Energieeffizienz, Ressourcenschonung, sinnvolle Wiederverwertung, Qualität und Genuß, technische Innovation, nachhaltiges Wirtschaften – viele neue Begriffe sind in diesem Kontext entstanden, alte bekamen eine neue Bedeutung. „Verzicht“ aber darf man nicht in den Mund nehmen, wenn man vom Volk ernst genommen werden will. Das ist das Credo, das man als Umwelt-Aktivist schnell zu lernen hat, will man nicht als sektiererischer Radikaler im Nichts enden.

Mitte der 90ger konnte ich das hautnah miterleben, als ich zwei Jahre in Sachen Klimaschutz zugange war. Mit arbeitslosen Akademikern im Rahmen von ABM Energiesparkampagnen entwickeln und durchführen – das war die anspruchsvolle Idee, die damals auch umgesetzt werden konnte, weil sich noch genug Geld in den „öffentlichen Händen“ befand. Meine Begeisterung war groß, schnell wurde ich Projektleiterin, kam raus aus ABM, rein in einen tollen BAT 2A-Job – alles wunderbar, und sogar eine Arbeit mit Sinn!

Doch schnell landete ich auf dem Boden der Realität. Da unsere Kampagnen auf Verhaltensänderungen zielten, wurden wir in der „Energie-Szene“ kaum ernst genommen. Dort hatten die Leute das Sagen, die auf „technisches Verunmöglichen von Fehlverhalten“ setzten. Niemand will darauf achten, beim Verlassen des Raumes die Fenster zu schließen, also braucht es Fenster, die sich AUTOMATISCH öffnen und schließen, besser noch eine zentral gesteuerte Klimaanlage, energiesparend, hocheffizient! Schon gar nicht mag der Büromensch Verantwortung für die Beleuchtung und das Regeln der Heizung übernehmen – lasst uns das alles automatisieren! Der Mensch ist unfähig und unwillig, sein Verhalten zu ändern, er braucht ANREIZE und neue Geräte, das spart berechenbar Energie, angeblich auch Geld, belebt nebenbei den Markt und alle sind glücklich.

Das Schlimme: Sie hatten im Grunde recht! Unsere RauspfeilKampagnen motivierten tatsächlich ganze Hausgemeinschaften zu Verhaltensänderungen, jede Menge Energie wurde gespart – aber nur so lange wir da waren und als eine Art „Umwelt-Animateure“ die Motivation aufrecht erhielten. Danach sank das Verhalten zurück in die übliche Ignoranz. Ich begann, einen neuen Menschenhass zu entwickeln, den berufsmäßigen Zynismus der Aktivisten: Verantwortungslose Idioten überall, die nichts anderes kennen, als ihre Fettlebe zu genießen, koste es, was es wolle. Ekelhaft!

Alles Lüge

Wenn so ein Gefühl das Herz vereinnahmt, macht keine Arbeit mehr Spaß. Viele arrangieren sich, machen einfach so weiter und beziehen die eigene Motivation zunehmend aus den persönlichen Benefits, die solche Jobs erlauben. Vielleicht hätte ich das auch gekonnt, wenn wenigstens die Lehre von der technischen Innovation, vom Klimaschutz durch Energieeffizienz, gestimmt hätte. Leider ist sie falsch, eine geschickte Lüge, an der viele zum Zweck der Selbsttäuschung festhalten.

Wenn ich mir nämlich ein neues Gerät zulege, sagen wir mal einen energieeffizienter produzierten PC, dann verbraucht die Herstellung dieses PC trotzdem ein Vielfaches der Energie, die er – verglichen mit dem Weiterlaufen des alten – in seinem ganzen „Leben“ einsparen kann. Und so ist es mit den meisten Dingen: energiesparend und umweltschützend ist das „Nutzen bis es nicht mehr geht“, nicht das ständige Erneuern auf die letzte – meinetwegen hoch energieeffiziente – Version. Und noch jeder Fortschritt in Sachen Energieverbrauch und Schadstoff-Ausstoß bei Autos wurde „aufgezehrt“ durch die VERMEHRUNG des Autoverkehrs, mehr Zweitwagen, mehr Individual-Mobilität, mehr Brummis auf den Straßen.

Jeder wusste das. In kleinen nicht-offiziellen Gruppen kam das auch durchaus zur Sprache: Allein der VERZICHT (auf Waren, Bequemlichkeit und Mobilität) bringt’s. Alles andere ist nicht wirklich problemlösend, höchstens vermindert es ein klein wenig die Geschwindigkeit der Verschlimmerungen. Und Verzicht – Pech für die Natur und unser aller zukünftiges Überleben – ist dem Menschen nun mal nicht beizubringen!

Was ICH kann, können alle – und dann?

In dieser „Meinungslage“ besann ich mich auf mich selbst: Was ICH zustande bringe, können auch andere leisten, egal was „man“ über „die Menschen“ denkt. Ich drückte meine Stromrechnung um 40 Prozent, schaltete die Geräte immer brav aus, kaufte eine Plastikschüssel als Spülschüssel, um nicht immer das Waschbecken mit unnötig viel heißem Wasser vollaufen zu lassen. Ja, ich war ein guter Energiesparer, hoch effizient, solange ich mich mit diesem Job und seinen Themen & Problemen befasste…

Aber auch der aus dem eigenen Verhalten geschöpfte Glaube rettete nicht. Denn bald schon fragte ich mich und meine Mitarbeiter: Wie soll denn unsere Wirtschaft funktionieren, wenn alle so handelten, wie wir es empfehlen müssen, wenn wir die Wahrheit sagen? Verzicht üben, nichts Überflüssiges kaufen, nicht „just for fun“ verreisen und herumfahren? Wenn alle, die auf schöne, hochwertige Dinge stehen, sich einfach mal quer durch den Katalog bei Manufactum eindecken und dann ist Schluß? Diese Sachen sind verdammt „nachhaltig“ – und dann? Was geschieht, wenn die Menschen auf die Mode pfeifen und nicht mehr, nur weil ein Jahr vergangen ist, von spitzen Schuhen auf „quer abgehackt“ umsteigen?

Im BTX führte ich eine private Umfrage unter anonymen Chattern durch: Wieviel Geld könntest du sparen, wenn du nur das Notwendigste kaufen würdest? Die Antworten schwankten zwischen 10 und 90 Prozent, im Mittel waren es 50! Wow, die Hälfte des Konsums ist also reiner Luxus, potenzieller Schonraum für Klima, Natur und Umwelt. Aber: was wird dann aus uns?

Der Präsident der Europäischen Zentralbank schrieb mal in der ZEIT: „Die Deutschen sind Menschen, die das Licht ausschalten, wenn sie einen Raum verlassen. Sie drehen die Dusche ab und seifen sich ein, ohne dass heißes Wasser ins Leere läuft. Das macht sie symphatisch, aber all das bedeutet immer auch ein kleines Stück weniger Wachstum.“

Tja, so sieht’s aus. Meine Rede, mein Denken, mein engagiertestes Wünschen endet im Absurden. DIE GRÜNEN bekamen gestern in Sachsen-Anhalt gerade mal zwei Prozent der Stimmen. Im wirtschaftlichen Ödland mit der höchsten Arbeitslosigkeit denkt niemand über grüne Themen nach. Was aber geschieht, wenn Verzicht tatsächlich um sich greift, sei es auch aus anderen Gründen, das erleben wir gerade. Und kein Vordenker der „Nachhaltigkeit“ meldet sich zu Wort, stellt diese Bezüge her und sagt dazu was Intelligentes!

Was kein Grund zum Lästern ist, mir fällt ja auch nichts ein.

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Claudia am 20. April 2002 — Kommentare deaktiviert für Aus dem Netzleben

Aus dem Netzleben

Kürzlich hab‘ ich das Diary mal wieder mit dem Netscape 4.7 angesehen – und erschrocken festgestellt, dass aus unerfindlichen Gründen die ganze Optik im Eimer war! Diese mittlere Spalte hier erschien nur noch als meterlange Wortliste – und es hat verdammt lang gedauert, bis ich den Fehler fand (wieder mal ein Bug im NS 4.7). Jetzt ist alles wieder ok. Schade, dass mich niemand darauf aufmerksam gemacht hat.

Die Mailingliste CSS-Design ist ein voller Erfolg. Binnen weniger Tage fanden sich über 300 Leute zusammen, die sich jetzt ausschweifend über die aktuellen und künftigen Methoden des Webcoding austauschen. Dabei wundert mich immer wieder, wie lange es dauert, bis sich die Basiskenntnisse eines erfolgreichen „Netzlebens“ bei allen durchsetzen. Manche melden sich entsetzt wieder ab, wenn sie merken, dass sie pro Tag 30 bis 50 Mails von der Liste bekommen – es ist tatsächlich noch nicht überall bekannt, dass man Listen am besten in eigene Ordner „fließen lässt“ und WIE man das macht. Auch die Möglichkeit, das Ganze als tägliche Zusammenfassung zu beziehen, wird zwar in der Begrüßungsmail mitgeteilt, aber kaum einer macht davon Gebrauch. Dann geschieht es immer wieder, dass ein Dialog plötzlich ins Private kippt – und 300 Leute lesen mit, woher sich zwei kennen und welche Firma sie schon von innen gesehen haben. Verwunderlich auch, dass viele sagen: Genau so eine Liste hat uns gefehlt! Wussten sie nicht, dass jeder eine Mailingliste aufmachen kann? Bin mal gespannt, wie viel Zeit noch vergehen muss, bis die Kulturtechniken des Netzes so verbreitet sind wie Lesen & Schreiben.

Ich staune auch oft darüber, wie groß doch die kriminelle Kreativität sein kann: sogenannte „Hackerbanden“ teilen mir unter dem nicht ignorierbaren Subject „Abmahnung“ mit, endlich sei es ihnen gelungen, „illegale Sexkanäle“ zu knacken: anbei die URL zum kostenlosen Dialer-Download. Wie viele darauf wohl noch reinfallen und – voller Vertrauen zu den „Hackern“ – den teuersten Internet-Zugang ihres Lebens anwählen?? Heut morgen dann zum dritten Mal in dieser Woche die „Nigeria-Masche“: Angeblich braucht ein nigerianischer Stromkonzern für eine Überweisung ein ausländisches Konto, darf aber selber keines eröffnen. Man soll ihnen also hilfreich zur Seite stehen und bekommt dafür 10% von 28 Mio Dollar in Aussicht gestellt – wie großzügig! Ich frag mich, wie verrückt jemand sein muss, um darauf herein zu fallen und brav Konto und persönliche Daten hin zu mailen? Die Masche lief auch schon VOR dem Netz: Wenn einer darauf einsteigt, ergeben sich bald irgendwelche „Schwierigkeiten“ und man soll mal eben kurz ein paar tausend Dollar „auslegen“. Tja, Dummheit und Gier existieren immer schon, aber seit es E-Mail gibt, hat man größere Chancen, damit gewaltig auf die Nase zu fallen.

Schade, daß Politiker meist nur darüber nachdenken, wie sie das Netz reglementieren könnten, anstatt jeden Cent und alles Engagement in die notwendige Volksbildung zu stecken. Unternehmen schotten ihre Intranets lieber ab, SysAdmins ziehen die Firewalls höher und höher. Mitarbeitern wird verboten, Attachements anzunehmen, weil diese auch Viren enthalten könnten, anstatt dass man sie laufend schult oder beim selber lernen unterstützt. Ich bekomme regelmäßig Viren im Anhang ominöser Mails – na und? Sie werden eben gelöscht, wie der andere SPAM auch. Mit jemandem, den ich kenne, tausche ich trotzdem Attachments aus: WENN wir es besprochen haben, nicht einfach mal eben so, weil was dran hängt.

Und wenn ich schon mal am Klagen bin: wirklich schade ist, dass viele Einsteiger zwischen Shopping-Malls und Viren-Angst kaum noch mitbekommen, was das Netz sein kann. Wie gut, dass es immer noch Menschen gibt, die viel Arbeit und Herzblut investieren, um ein anderes Web zu zeigen. Zum Beispiel Iris Bleyer mit ihren RauspfeilBrightsites, die ich zum Schluß einfach im O-ton zitiere:

„Mir geht es in meiner Auswahl der brighsites darum, Interneteinsteiger ohne allzu viel Tamtam auf die hellsten Seiten des Web zu locken. Ich hoffe, wenn sie sich von dort aus weiter bewegen, werden sie sich nie wieder mit weniger zufrieden geben. Denn sie erkennen dann vielleicht, dass das Internet eine Seite hat, die für viele Newbees im wuchernden, grellen, lauten, flashenden Brei vom „Klick mich – Kauf mich“ immer schwerer zu finden ist. Das Netz lebt – es hat eine Seele. Und die ist freundlich, kommunikativ, kreativ, phantasievoll, klug, gefühlvoll, liebenswert… – und unverkäuflich :o).“

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Claudia am 15. April 2002 — Kommentare deaktiviert für Sumpfpegel steigend

Sumpfpegel steigend

Schon den ganzen März über gelingt es mir nicht, etwas über die Welt „da draußen“ zu schreiben. Wenn sich der Blick unvorsichtig vom Detail abwendet und diese seltsame Gesellschaft im Niedergang ins Auge fasst, wird mir so schlecht, dass der Schreibimpuls gleich wieder verschwindet. Es verschlägt mir die Sprache, stumm stiere ich auf den blinkenden Cursor und schließe dann das Schreibprogramm. Nicht lästern, nicht jammern, weder spöttische Kolumnen, noch tief entrüstete Tiraden, keine Relativierungen und Distanzierungen, uberhaupt kein Zuschütten fremder Gehirne mit noch mehr überflussigem Ballast – das ist die letzte Zärtlichkeit fürs große Ganze, die ich derzeit zustande bringe.

Manchmal kommt mir dann der verrückte Gedanke, mich völlig abzuwenden, nicht nur, was das Schreiben angeht. Warum interessiert mich das alles uberhaupt noch? Es zwingt mich ja keiner, die täglichen Widerlichkeiten fortlaufend zur Kenntnis zu nehmen. Die Ausbreitung des Sumpfes aus Korruption, Betrug und hemmungsloser Gier, die Ausplunderung sozialer Netze, die gut-gelaunte Beraubung wehrloser Noch-Steuerzahler – all dem kann ich sowieso nichts entgegen setzen – warum also uberhaupt noch hinsehen?

Manche meinen (und schreiben das sogar in ihre Webtagebücher), es gehe uns zu lange schon zu gut. Mal wieder ein Krieg wäre gar nicht so schlecht, er würde die Menschen aufwecken, das tagliche Lügen und Betrugen auf einen Schlag beenden – Wahrheit unter Stahlgewittern? Mir gruselt!

In Berlin ist das Hauen & Stechen im Kampf um die Zuwendungen der unter Schuldenbergen versinkenden öffentlichen Hände gerade besonders extrem. Jede Abendschau bringt die neuesten Sparbeschlüsse, dann die heftigen Proteste der Betroffenen, routiniert veranstaltete Demonstrationen, das tägliche „Nein“ der Gewerkschaften zu jeglichen Kurzungen; dazu immer neue kriminelle Aktivitäten von Ärzten, Apothekern und Sozialamtsmitarbeitern, die sich locker aus den Kassen und Steuertöpfen bedienen, in die wir alle einzahlen. Kontrolle findet nicht statt, wer sollte die denn ausüben, wie sollte man das finanzieren und organisieren???

Die Software ist schuld, sagt man im Sozialamt, die kontrolliert die Abbuchungen der Sachbearbeiter nicht, was will man da machen? Ärzte rechnen Unsummen über die Behandlung unzähliger „Patienten“ ab, die niemals bei ihnen in der Praxis waren, ganze Kartelle fliegen auf, die sich die „Kärtchen-Daten“ massenweise gegenseitig weiter reichen, die Staatsanwaltschaft ist überlastet und wird sowieso nur zufällig findig. und jeder Politiker und Funktionär, der in diesen Tagen einem Mikrofon zu nahe tritt, ist tief entrüstet! Böse Ärzte! Hey, ich erinnere mich noch sehr gut, dass das einzige Mittel, das diese Betrügereien effektiv verhindern könnte (nämlich den Patienten Rechnungen zu schreiben, wenn sie in der Praxis waren), zu Zeiten Andrea Fischers nicht beschlossen werden konnte: angeblich wurde man sich nicht einig, wer das Porto zahlt! auch aus der Speicherung verschriebener Medikamente auf der Mitgliedskarte ist nichts geworden, aus Datenschutzgründen, wie es heißt, doch faktisch wird hier einfach ein Freiraum zum unkontrollierten absahnen verteidigt – MIT Hilfe der Politiker.

Der Bäcker um die Ecke hat dicht gemacht, das Nichts breitet sich aus, zumindest in Gestalt leerer Laden. Gegenüber der Turkey wollte seinen Getränkestützpunkt verkaufen, muss aber nun doch weiter machen, denn er wird nicht aus dem 10-Jahresvertrag entlassen, wenn der Käufer nicht MEHR Miete zahlt – dabei berappt der arme schon seit Jahren einen total überteuerten „Nach-der-Wende-Preis“. Nicht weit davon sitzt eine nette Frau die letzten Monate ihres Jahresvertrags in ihrem Secondhand-Laden ab, sie hat ein Existenzgründerverfahren hinter sich, aber keine Kunden – leicht absehbar in dieser Nebenstraße ohne Laufpublikum, da muss ich kein professioneller Berater sein, um das zu bemerken. Keine Bankgesellschaft hilft solchen Menschen, sie können niemanden bestechen und haben das Pech, nicht von öffentlichen Mitteln, sondern vom Endverbraucher zu leben. Der macht sich rar zur Zeit, behält sein Geld bei sich, guckt Abendschau und beobachtet das „sozial ausgewogene Sparen“. Nicht sparen müssen die Glücklichen, an die die Manager der Bankgesellschaft diese tollen Immobilienfonds mit der für 23 Jahre zugesicherten Rendite verteilt haben – obwohl die Immobilien bereits leer standen. Berlin hat das jetzt für die nächsten 23 Jahre im Haushalt, na klar! und die Verantwortlichen beziehen noch über Jahre ihre Pensionen und Abfindungen in Millionenhöhe, da kann man auch nichts dran andern, Vertrag ist Vertrag.

Ach, jetzt hab‘ ich mich ja doch hinreißen lassen, im Sumpf zu wühlen! Zur Zärtlichkeit durch Schweigen hat es heute leider nicht gereicht. Gibt es vielleicht was Positives, so für den Schluss? Das mit öffentlichen Mitteln aufwendig restaurierte Altberliner Klohäuschen am Boxhagener Platz soll Ende März wieder eröffnet werden, lese ich im Wochenblatt. Ob man das glauben soll? Es war schon letztes Jahr fertig, doch nach wenigen Tagen ereignete sich ein Wasserrohrbruch, das „aus“ für die Anlage – wer sollte denn auch die Reparatur bezahlen???? Bis zum Wintereinbruch beschwerten sich die Anwohner fortlaufend über den Gestank – es ist ja nicht so, dass die Leute sich hier NICHT erleichtern, nur weil das Klohäuschen dicht hat! Nichts hat geholfen – aber JETZT, inmitten der schlimmsten Sparmaßnahmen, soll das „Café Achteck“ wieder öffnen? Vielleicht ein Zeichen des kommenden Aufschwungs…

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Claudia am 15. April 2002 — Kommentare deaktiviert für Worte, Taten – meditieren?

Worte, Taten – meditieren?

„Wissen, Wollen, Wagen, Schweigen“ – der uralte Merkspruch aus der abendländischen Magie kommt mir gelegentlich in den Sinn, wenn ich darüber nachdenke, wieviele Vorhaben und kreative Ideen einfach versacken, anstatt realisiert zu werden. Das liegt nicht allein an Trägheit, mangelnder Energie oder an den Schwierigkeiten, die plötzlich auftreten. Das letzte Stündlein einer angedachten Veränderung schlägt oft schon dann, wenn man darüber redet, gar darüber schreibt und das veröffentlicht.
Ich liebe Fernsehdokumentationen über naturnah lebende Völker, zum Beispiel über die Nomaden in Kasachstan und Sibirien. Der Kontrast zu unserem Leben könnte nicht größer sein, und immer wieder wundere ich mich, wie sie es aushalten, von morgens bis abends für das bloße überleben hart zu arbeiten – allenfalls noch für ein einziges großes Fest im Jahr. So etwas wie „Freizeit“ ist ihnen unbekannt und mir scheint, deshalb reden sie kaum darüber, was sie jetzt tun sollten, warum sie es tun und was daran anders vielleicht besser wäre. Veränderungen entstehen – wenn überhaupt – aus Notwendigkeit, nicht aus endlosen „Besprechungen“.

Freie Zeit – zwanghaft folgenlos?

Die „Freizeitkultur“ ist ein schwarzes Loch, ein als luxuriöse Errungenschaft gepflegtes Grab sämtlicher Veränderungsimpulse. Klar, in der Freizeit führt man zweckfreie Gespräche, erhält Anstöße für manches umdenken, es entstehen neue Wünsche und Meinungen – aber dann ist sie wieder ‚rum, die Freizeit, und der arbeitsalltag hat seine eigenen Gesetze. Es ist unendlich mühsam, eine erwünschte und rundum „besprochene“ Veränderung tatsächlich im Leben zu verwirklichen. Das geht mir immer wieder so, in kleinen und größeren Dingen. als ob ein Tabu über der freien Zeit läge: hier hat alles Platz, die Welt der Möglichkeiten kann sich schrankenlos entfalten, nur folgenlos muss es bleiben, sonst wär‘ es doch keine FREI-Zeit!
Ich treffe einen Bekannten, wir erzählen, was wir so machen und was wir von der Welt in diesem und jenem Punkt denken. Schon bald sind wir dabei angekommen, über Ideen, Vorhaben und „Probleme“ zu sprechen, die Gedanken fliegen, die Stimmung ist gut, ein Gefühl von aufbruch mag sich einstellen. Dann ist die Zeit vorbei, man verabschiedet sich und widmet sich wieder dem alltag, ganz wie gehabt. Wer kennt das nicht?

Oder ich hab‘ gerade ein Stück notwendige Arbeit hinter mich gebracht, nichts Zwingendes liegt an – was jetzt? Eine innere Stimme sagt: Jetzt hast du so anstrengend gearbeitet, du kannst doch nicht einfach so weiter machen! Abspannen ist angesagt – ich leg mich dann aufs Bett und lese einen literarischen Krimi, blättere in der ZEIT, guck mir Weltspiegel und Nachrichtensendungen an – und meine innere To-Do-Liste bleibt unabgearbeitet.

Die innere Liste

Diese To-Do-Liste füllt sich von ganz alleine und bildet sozusagen einen Arbeitsplan für die freie Zeit: Ich sollte 5 Kilo abnehmen, sollte öfter ins Fitness-Center gehen, endlich wieder aufhören zu rauchen und weit mehr trinken (Wasser!). Ich sollte mir ein Ehrenamt suchen und einen neuen Draht finden, aktiv am politischen Leben teil zu nehmen. Ich sollte meditieren, mir wieder mal ein anderes Sitzmöbel zulegen, mich mehr weiter bilden und meine diversen Projekt-Ideen konsequent umsetzen… ich sollte, ja. aber ich machs nicht, bzw. nur gelegentlich und mit Mühe, nicht „im Fluß“ des ganz normalen Lebens.

„Es muss ein Ruck durch Deutschland gehen!“, wird gerade hier überall plakatiert. Mir scheint, nicht nur ich kämpfe mit seltsamen Formen von Stagnation. Ein Mehr an Kommunikation ist dabei vielleicht gerade kontraproduktiv. Wir können uns nicht von oben oder außen sagen lassen, wie wir „rucken“ sollen! Gerade diese innere Ausrichtung auf die Stimmungen eines „man“, seien es plakatierende Verbände, die Beschwörungen der Obrigkeit, die in den Medien veröffentlichten Meinungen oder die Bedenken und Interessen konkreter Gruppen und Individuen, mit denen wir interagieren: es lähmt eher. Es füllt vielleicht die innere To-Do-Liste weiter auf, doch die ist letztlich nur eine Bürde, die mich behindert, das zu tun, was NOT-wendig ist, und das zu sehen, was WIRKLICH ist.

Die Liste zusammenstreichen

Vor etwa einem Jahr hab ich es gewagt, das „Du solltest meditieren!“ von meiner inneren Liste ersatzlos zu streichen. Natürlich hat mir das niemand aufzwingen wollen, die innere Liste ist ja eine Sammlung ureigenster Ansprüche, Vorstellungen und Wünsche. Wie viele meiner Generation las ich lebenslang immer wieder Bücher über Meditation, kam gelegentlich in Kontakt mit Gruppen, die Meditation üben, hatte faszinierte Phasen, in denen ich ernsthaft versuchte, täglich zu „sitzen“ – und nicht zuletzt gehört es untrennbar zum Yoga, den ich seit mehr als 10 Jahren praktiziere, in unterschiedlicher Intensität. Die letzen 20 Minuten einer Yogastunde sitzen wir still in der Runde – und das ist gut so, der Körper ist durch die übungen ruhig geworden, ein schönes Loslassen, kein Problem.

Anders das „engagierte Meditieren“, diese fruchtlosen Versuche, durch Selbstdisziplin im rituellen „Sitzen“ irgend etwas zu erreichen. Immer wieder andere Meditationsweisen: den Gedankenfluß beobachten, Bilder imaginieren, Worte, Sprüche, Töne, Empfindungen als Focus benutzen, es gibt ja so vieles! Sich dabei immer ein bißchen komisch vorkommen: Meditation ist das Gegenteil von „etwas erreichen wollen“ – warum um Himmels Willen mach‘ ich das also?

Genug davon, das liegt weit hinter mir. Nur stand es noch ziemlich lange auf der inneren To-Do-Liste: „Du sollst meditieren, vielleicht nicht jetzt, vielleicht später, aber irgendwann ganz bestimmt!“ Immer wollte ich jedoch andere Dinge lieber tun, und eines schönen Tages kam mir der Gedanke: Sitzen? Den Teufel werd‘ ich tun! Ich werde mich setzen, wenn alles getan ist, was ich lieber tue, keine Sekunde vorher!

Ich vergaß Meditation. Sogar wenn sie mir in einem Buch begegnete oder in einem Gespräch, kam der Ich-sollte-Gedanke nicht mehr auf. Schließlich denke ich auch sonst nicht bei allem, was ich sehe, dass ich das auch brauche.

Tatsächlich interessiere ich mich für ganz andere Dinge. Zum Beispiel ist es ungeheuer spannend, zu beobachten, wie während des Sitzens vor dem Monitor unzählige Impulse von außen und innen um meine Aufmerksamkeit kämpfen. Ich arbeite mit ca. acht offenen Programmen, zappe vom Schreiben eines Textes zum Bearbeiten eines Bildes hin zum Coding einer Website – alles immer wieder unterbrochen vom Lesen der hereinkommenden E-Mails. Ich „besuche“ 12 verschiedene Mailinglisten, zwar nur punktuell, aber wenn ich in eine „reinlese“, dann entführt das meinen Geist wieder in eine ganz neue Richtung. Im Laufe eines Tages bin ich bestimmt mit 50 verschiedenen Themen befaßt und arbeite an fünf bis zehn aufgaben, unterbrochen von unüberschaubar vielen freiwilligen und unfreiwilligen Ablenkungen. Die Zerstreuungsmaschinerie, der ich mich so fortlaufend aussetze, ist beispiellos, nie da gewesen und es ist ein Wunder, dass ich überhaupt noch irgend etwas zustande bringe.

Und wie das dann weiterläuft, wenn ich den Monitor mal verlasse! Viele Themen hallen nach, der Geist ist noch immer „im Summs“, aber es entspannt sich ein klein wenig, man spürt den Versuch, eine Ordnung hinein zu bringen, etwas will neue Prioritäten setzen. Wer? Was? Ich schau doch nur zu! Die innere To-Do-Liste bringt sich in Erinnerung, andrerseits ist da auch diese geistige Müdigkeit, die mich dazu veranlasst – einfach mal so zum abspannen – die Aufmerksamkeit auf eine Körperempfindung zu focussieren, den Atem zum Beispiel. auf dem Laufband im Fitnesscenter geht das recht gut, im Liegen ziehe ich das Strömen und Gribbeln in den Muskeln vor. Oh, wie entpannend! als würde man das Hirn in klares Quellwasser und reine Luft tauchen! Doch gleich sind sie wieder da, die planenden und berechnenden Gedanken, ein Stück weit folge ich ihnen, dann fällt mir wieder ein: Ich MUSS ja nicht, gönne mir ja gerade eine PAUSE, – kehre also zum Atem zurück, genieße die zunehmende Verlangsamung dieses hektischen Hin und Hers. Und plötzlich: ein Augenblick ohne Denken, ohne alles, ohne MICH. Eine Lücke in alledem – was war das? Wie könnte ich diese Lücke nochmal erzeugen, wieder erleben, genauer betrachten? Aber WER sollte da WAS betrachten, wenn da doch „gar nichts“ war???
Sehr seltsam, aber doch interessant. Was so alles vorkommt in einer kleinen Pause! Jetzt liege ich manchmal ein wenig länger, bevor ich zur Zeitung greife – und nach diesem Artikel geh ich aufs Laufband. Gottlob muß ich ja nicht „sitzen“, brauch‘ nicht zu meditieren…

Vielleicht wär‘ es eine gute Idee, auch den anderen Kram von der Liste zu streichen?

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Claudia am 10. April 2002 — Kommentare deaktiviert für Neuer Code, neues Projekt, neue Mailingliste

Neuer Code, neues Projekt, neue Mailingliste

Ein recht lange Diary-Pause! Kein Wunder, mich hat ein Arbeitsanfall erwischt, wie ich ihn lange nicht erlebte. Gestern war es dann soweit: Die neue nach draußenMailingliste CSS-Design konnte starten – eine Initiative von Michael Charlier und mir im Rahmen des Webwriting-Magazins. Dort schrieben wir dereinst übers Inhaltsverzeichnis, dass TECHNIK nicht im Zentrum des Magazins stehen soll, sondern der Inhalt. Und doch hat sich in den letzen Monaten dort viel über Technisches angesammelt, denn der große Umbruch im Webdesign bzw. Webcoding, der zur Zeit statt findet, geht nicht spurlos an uns vorbei.

Also eine Art Befreiungsschlag! Dem neuen Thema ein eigener Schwerpunkt und eine extra Mailingliste. Das forderte erhebliche Vorarbeit, die jetzt auf nach draußenwww.css-design.de und auf der nach draußenListenhomepage zu besichtigen ist. Der Kick bei der ganzen Sache – hier mal für Nichtwebdesigner verständlich ausgedrückt – ist die vollständige Trennung von Form und Inhalt. Die Optik einer Seite – also Farben, Schriftgrößen, Spaltensatz, Platzierung der Bilder etc. – wird gänzlich in einer extra Datei mit einer speziellen Code-Sprache (CSS) ausgelagert und mit dem Hauptdokument (HTML) nur „verlinkt“. So ist es möglich, zur selben Seite die verschiedensten Layouts anzubieten, ohne das „eigentliche“ Dokument anfassen zu müssen.

Wer das in Action bewundern will, kann mal auf der Listenhomepage die unterschiedlichen Designs mit dem „Styleswitcher“ aufrufen. Über die Spielerei hinaus, hat diese Möglichkeit erhebliche praktische Bedeutung, denn das Web wird zunehmend mit anderen Geräten angesehen als mit „ordentlichen“ 17-Zöllern. Webseiten müssen sich vielfältigen Darstellungsweisen anpassen können, auf kleine und kleinste Bildschirme passen, ja sogar vorlesbar sein. Und das ist mit dem verschachtelten Tabellen-Design, wie es sich in den wilden ersten Netz-Jahren entwickelt hat, einfach nicht möglich, radikale Vereinfachung ist angesagt – das Komplexe wird in Zusatzdateien (CSS) ausgelagert und nach Bedarf und Ausgabegerät ausgewählt.

Neben der Freude am Neuen, die sich sowieso erst mit zunehmender Praxis einstellt, ist es für mich ein Abenteuer, mal wieder mit der Versammlung einer neuen Gruppe befaßt zu sein (neudeutsch: Community-Forming – hier aber nicht im kommerziellen Sinn gemeint). Individuen aus den verschiedensten Ecken der Welt treffen sich im virtuellen Raum, um sich auszutauschen und voneinander zu lernen. Seit dem Listenstart gestern mittag sind bereits 145 Leute eingestiegen – und die Stimmung ist toll! Das Thema brennt ja auch vielen Webworker/innen derzeit auf den Nägeln. Man sieht die Zeichen an der Wand: Zwar sind die neuen Methoden im aktuellen Web noch etwas sperrig anzuwenden, aber irgendwie spürt man doch: Da gehts lang, das ist die Zukunft!

Ein bißchen komme ich mir vor wie in den ersten Netz-Jahren, als noch jeder seinen HTML-Code selber in die Tasten hackte, weil an Editoren, die das können, noch gar nicht zu denken war. Als Mensch war man den Programmen weit voraus – und so ist jetzt auch wieder. Erstmal müssen Menschen die neuen Techniken ausexperimentieren, ihre kreative Grenzen ausloten und Anwendungen für den Alltag festklopfen. Erst DANN kann man das alles in Software giessen und wieder so tun, als müsse ein Webdesigner vom Code nichts wissen, sondern brauche bloß auf der Oberfläche eines WYSIWYG-Editors Elemente hin- und her schieben wie in einem Grafikprogramm. (Was übrigens auch bezüglich des „alten Stils“ niemals stimmt, sonst würde man nicht überall auf Seiten treffen, die nicht korrekt funktionieren. Leider ist das Auftraggebern verdammt schlecht zu vermitteln!)

Für heute laß ich es hierbei bewenden, anstatt mir noch ein „richtiges Thema“ abzuringen. Es kommen auch wieder ruhigere Tage, wo mir weder wild kommunizierende Web-Versammlungen noch neueste Coding-Methoden etwas geben. Stille Stunden, Schreibmeditationen – alles hat offenbar seine Zeit.

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Claudia am 01. April 2002 — Kommentare deaktiviert für Verwirrungen im Frühling – eine Bestandsaufnahme

Verwirrungen im Frühling – eine Bestandsaufnahme

Der Winter ist nun wirklich weg! Wärme, Sonne – Menschen flanieren wieder auf den Straßen. Ostern ist dieses Jahr genau das, was es sein soll: Ein auf allen Ebenen fühlbarer Einschnitt zwischen dem Alten, Abgelebten, und dem Neuen, von dem man noch nicht weiß, was es sein wird. Ein Gefühl positiver Spannung, ein Hauch von Wandel, Abenteuer, Aufbruch, dem ich am besten in größtmöglicher Wachheit begegne, sonst verliere ich mich leicht in den vielerlei Aktivitäten, die sich jetzt anbieten, und lande schon bald in verstärktem Chaos.

Also: Inventur! Auf einen Zettel schreibe ich alles, was mir einfällt, alle Vorhaben, Pflichten, Wünsche, Pläne, Notwendigkeiten, die sonst immer nur punktuell „einfallen“, mich plötzlich überfallen und des öfteren aus dem Takt bringen. Querbeet wird alles gelistet, vom bisher verschleppten Brief ans Finanzamt über den anstehenden Relaunche des Webwriting-Magazins bis hin zum Einpflanzen der Ableger einer großen Dieffenbachia, die noch auf dem Küchenfenstersims in der Vase stehen. Mein Áuto will ich auch endlich los werden, ein alter, stellenweise leicht verbeulter Citröen AX, der mir noch aus der Zeit des Landlebens geblieben ist. Hier nutze ich ihn gerade mal, um ins Fitness-Center zu fahren, völlig irre!

Die Liste stimmt mich zufrieden, sie schafft Klarheit, indem sie sowohl die unangenehmen Dinge als auch die ganz verrückten Träume umfasst – ach, was heißt hier schon verrückt? Das sind einfach Vorhaben und Projekte, von denen ich normalerweise annehme, dass ich sie sowieso nie schaffen werde, rein zeitlich und energiemäßig betrachtet. Wenn ich aber mal bedenke, wie viel Zeit ich doch tatsächlich mit Lesen und Fernsehen verbringe, dann kann das so einfach nicht stimmen. Irgend etwas ist falsch an der Herangehensweise, wie ich meinen Alltag verlebe, wie ich mich täglich im Reich der Notwendigkeit verstricke, mich dann allzu gern ablenken lasse, in dieses & jenes hinein gerate, ohne da wirklich etwas Merkliches zu leisten, und dann entsprechend frustriert nach „Abschalten“ verlange.

Bei alledem ist es nicht besonders hilfreich, den Kopf schon jahrzehntelang mit unüberschaubar vielen Gedankengebäuden, Weltanschauungen, Philosophien und Ideologien belastet zu haben. Zu jedem Impuls, der mich von etwas ablenkt oder zu etwas Anderem hinzieht, fallen mir gleich unzählige Begründungen und Rechtfertigungen ein: Warum das, was ich gerade unterbreche, sowieso das Falsche ist, bzw. das, was ich statt dessen ins Auge fasse, mich näher ans „eigentliche Leben“ führt – oder auch umgekehrt. Zum Beispiel kann ich es locker als „Flucht vor der Wirklichkeit“ werten, wenn ich ins Fitness-Center aufbreche oder in die Sauna gehe, anstatt endlich die Website für meine Eigenwerbung zu konzipieren oder zur Meldestelle zu gehen, um Ersatz für den verlorenen Führerschein (wie sinnig!) zu beantragen. Andrerseits kann es als Gipfel der Seinsvergessenheit erscheinen, den Tag vor dem Monitor in einer Welt aus Zeichen zu verbringen, anstatt im Körper, in der physischen Umwelt mit der Natur, der Stadt und konkreten anderen Menschen „face to face“ zusammen zu kommen. Ein ständiges Ebenen-Zapping, wobei der aktuelle Aufenthalt tendenziell immer als das Falsche erscheint.

Alle Aktivitäten, die dem Geldverdienen dienen, sind besonders betroffen von diesem Oszillieren der Bewertungen: einerseits erscheint es als das einzig Reale, sich dieser Notwendigkeit mit aller Kraft und Kreativität zu stellen – und alles Andere wäre bloße Ablenkung und Flucht. Andrerseits ist der ökonomische Bereich am schärfsten in Verruf, das „falsche Leben“ rein kommerzieller Strebungen zu repräsentieren, wo der Mensch alles und jedes als Mittel zum Zweck benutzt, der Blick von Hunger und Gier verdunkelt ist und der Andere nur noch als Kunde oder Konkurrent wahrgenommen wird. Besser man macht Kunst, betätigt sich als Kulturschaffende, bedient das Reich des Kostenlosen, das ohne Sünde ist…. was für ein Quark, alles reines Kopfkino!

Komischerweise erlebe ich diese Gefährdung durch Verzettelung, Unentschlossenheit und schwankende Urteilskraft als ein Ergebnis persönlichen Fortschritts (mehr zugestoßen als erarbeitet, aber immerhin) auf dem Weg vom automatenhaften Reagieren hin zu mehr Freiheit der Wahl. Mit 20, 30, 35 wusste ich immer sehr genau, was gerade anliegt: was ich tun muss und was ich tun will, wann das zusammenfällt oder weit auseinander liegt. Angst und Ehrgeiz leiteten mich problemlos vom Gestern ins Morgen. So etwas wie eine offene Gegenwart kannte ich nicht, nicht mal beim Sex. Die Reiche des Denkens, der Gefühle und der Körperempfindungen waren fest miteinander verkettet: Sagte einer etwas vermeintlich Feindseliges, hielt ich den Atem an, krampfte den Bauch zusammen und spannte die Nackenmuskulatur mehr an als gewöhnlich an, ohne dass mir all diese Körperreaktionen bewusst geworden wären. Ich reagierte SOFORT mit Angst-, Ärger-, oder Hassgefühlen, die sich ohne Zögern in verteidigende oder angreifende Gedanken mit entsprechender Rede und den daraus folgenden Taten umsetzten. Freiheit bedeutete für mich, genau SO sein zu können. Reagieren, ohne an Grenzen zu stoßen, mit den Impulsen mitgehen, die mir begegnen, ohne deren Herkunft und Wesen je zu bedenken: Was ich fühle und wünsche, ist GUT, was mich hindert und einschränkt ist SCHLECHT, ist böse Welt und reine Unterdrückung.

Wenn ich das noch mal lese, was ich da gerade hinschreibe, fällt mir auf: Wow, das ist ja der Geist der Jugend! „An sich“ ist dieser Geist nicht gut und nicht schlecht, sondern unverzichtbarer Teil des Ganzen. Ohne diesen Geist würde die Welt einfach stagnieren und langsam in Fäulnis übergehen. Die gewisse Verblendung, die darin liegt, alles Übel im Außen, im Althergebrachten und bei den Anderen zu sehen, zusammen mit der aus dieser Sicht zwangsläufig entstehenden Wut, ergibt die nötige Kraft für gesellschaftliche Veränderungen. Wie anders sollte man die harten Gebäude des Bestehenden zum Bröckeln bringen, als mittels der festen Überzeugung, selber reinen Herzens auf der richtigen Seite zu stehen und die Macht des „Bösen“ zu bekämpfen?

Im Lauf der Jahre verschwindet dieses „reine Herz“, das sich der Tatsache verdankt, dass man noch nicht viel hinter sich hat, weder im Guten noch im Schlechten. Je mehr gelingt, was man sich ersehnt, umso mehr der Niemand, der man war, sich zum Jemand wandelt, dessen eigene Praxis die reine Theorie ersetzt, desto mehr gewinnt man persönliche Kontur. Die Leere wird zur Form, verstrickt sich in Widersprüche und wird zunehmend in Frage gestellt. Ab 35 ist jeder für sein Gesicht selber verantwortlich, heißt es zu Recht – vielleicht der wahre Grund, warum heute da mehr und mehr die Chirurgen ran müssen.

Mir wurde etwa Mitte dreißig klar, dass ich sterblich bin. Sicher, man „weiß“ das immer schon, auch als junger Mensch, doch ist es lange ein rein mentales Wissen, Buchwissen sozusagen. Ich kann mich noch genau erinnern, wie mir aufgefallen ist, dass sich etwas grundstürzend verändert hat. Bis zu einem bestimmten Augenblick hatte ich nämlich meine persönliche Geschichte und damit die Zeit ganz allgemein in Gedanken aufgerechnet, die mit „seit …“ begannen: Seit dem Abitur, seit dem Auszug von zu Hause, seit dem Umzug nach Berlin, seit dem Beginn meiner letzten Beziehung… – und auf einmal ertappte ich mich bei einem Denken „bis…“, ja, bis wohin?? Zur Rente? Zum statistischen Altersdurchschnitt rauchender Frauen? Ich konnte es nicht verlässlich „verdaten“, aber auf einmal war es DA, war in meinen alltäglichen (!) Gedanken angekommen: das Ende, mein ganz persönlicher Tod.

In der Krise, die sich in diesen Jahren verdichtete, verlor ich jeden Boden unter den Füßen, meine Welt wurde auf den Kopf gestellt und am Ende war ich eine andere geworden. Mein eigenes Ostern, könnte man sagen. (in anderen Beiträgen hab‘ ich darüber geschrieben, das wiederhole ich jetzt nicht). Seither schwingt mein Lebensgefühl – Glück, Zufriedenheit, Besorgnisse, Wünsche – rund um einen neuen Set-Point, der weit über allem liegt, was mir bis dahin zugänglich war. Und mit Yoga (gelobt sei mein lieber Lehrer Hans-Peter Hempel, ohne den das nicht geschehen wäre) konnte ich dieses gelassenere und entspanntere In-der-Welt-Sein sogar stabilisieren, beobachten und bewusster erleben.

Ach, immer wenn ich so ins Erzählen gerate, ist der Punkt der Lobreden schnell erreicht! Es gibt ja auch soviel Grund, das Leben zu preisen und dankbar zu sein – allein schon die Sonne, wie sie jeden Tag ein wenig länger scheint, die Blüten, die sich jetzt überall einfach so öffnen – und sogar ALDI-Tomaten (die kleinen!) haben auf einmal wieder einen wunderbaren Geschmack! Mein je aktueller Schreib-Impuls, der immer von einer Klage, einem Mangel, einer Kritik ausgeht, verliert sich vor der Fülle des Seins, wirkt auf einmal lächerlich und aufgesetzt: Navigationsprobleme im Freiraum? Leiden an der Abwesenheit „orientierender“ Ängste und Zwänge? – ich bin wohl nicht ganz dicht!

Und mit dieser befreienden Erkenntnis mach‘ ich für jetzt Schluss, MEHR ist von eigenen Texten kaum zu erwarten!

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