Claudia am 15. April 2002 —

Sumpfpegel steigend

Schon den ganzen März über gelingt es mir nicht, etwas über die Welt „da draußen“ zu schreiben. Wenn sich der Blick unvorsichtig vom Detail abwendet und diese seltsame Gesellschaft im Niedergang ins Auge fasst, wird mir so schlecht, dass der Schreibimpuls gleich wieder verschwindet. Es verschlägt mir die Sprache, stumm stiere ich auf den blinkenden Cursor und schließe dann das Schreibprogramm. Nicht lästern, nicht jammern, weder spöttische Kolumnen, noch tief entrüstete Tiraden, keine Relativierungen und Distanzierungen, uberhaupt kein Zuschütten fremder Gehirne mit noch mehr überflussigem Ballast – das ist die letzte Zärtlichkeit fürs große Ganze, die ich derzeit zustande bringe.

Manchmal kommt mir dann der verrückte Gedanke, mich völlig abzuwenden, nicht nur, was das Schreiben angeht. Warum interessiert mich das alles uberhaupt noch? Es zwingt mich ja keiner, die täglichen Widerlichkeiten fortlaufend zur Kenntnis zu nehmen. Die Ausbreitung des Sumpfes aus Korruption, Betrug und hemmungsloser Gier, die Ausplunderung sozialer Netze, die gut-gelaunte Beraubung wehrloser Noch-Steuerzahler – all dem kann ich sowieso nichts entgegen setzen – warum also uberhaupt noch hinsehen?

Manche meinen (und schreiben das sogar in ihre Webtagebücher), es gehe uns zu lange schon zu gut. Mal wieder ein Krieg wäre gar nicht so schlecht, er würde die Menschen aufwecken, das tagliche Lügen und Betrugen auf einen Schlag beenden – Wahrheit unter Stahlgewittern? Mir gruselt!

In Berlin ist das Hauen & Stechen im Kampf um die Zuwendungen der unter Schuldenbergen versinkenden öffentlichen Hände gerade besonders extrem. Jede Abendschau bringt die neuesten Sparbeschlüsse, dann die heftigen Proteste der Betroffenen, routiniert veranstaltete Demonstrationen, das tägliche „Nein“ der Gewerkschaften zu jeglichen Kurzungen; dazu immer neue kriminelle Aktivitäten von Ärzten, Apothekern und Sozialamtsmitarbeitern, die sich locker aus den Kassen und Steuertöpfen bedienen, in die wir alle einzahlen. Kontrolle findet nicht statt, wer sollte die denn ausüben, wie sollte man das finanzieren und organisieren???

Die Software ist schuld, sagt man im Sozialamt, die kontrolliert die Abbuchungen der Sachbearbeiter nicht, was will man da machen? Ärzte rechnen Unsummen über die Behandlung unzähliger „Patienten“ ab, die niemals bei ihnen in der Praxis waren, ganze Kartelle fliegen auf, die sich die „Kärtchen-Daten“ massenweise gegenseitig weiter reichen, die Staatsanwaltschaft ist überlastet und wird sowieso nur zufällig findig. und jeder Politiker und Funktionär, der in diesen Tagen einem Mikrofon zu nahe tritt, ist tief entrüstet! Böse Ärzte! Hey, ich erinnere mich noch sehr gut, dass das einzige Mittel, das diese Betrügereien effektiv verhindern könnte (nämlich den Patienten Rechnungen zu schreiben, wenn sie in der Praxis waren), zu Zeiten Andrea Fischers nicht beschlossen werden konnte: angeblich wurde man sich nicht einig, wer das Porto zahlt! auch aus der Speicherung verschriebener Medikamente auf der Mitgliedskarte ist nichts geworden, aus Datenschutzgründen, wie es heißt, doch faktisch wird hier einfach ein Freiraum zum unkontrollierten absahnen verteidigt – MIT Hilfe der Politiker.

Der Bäcker um die Ecke hat dicht gemacht, das Nichts breitet sich aus, zumindest in Gestalt leerer Laden. Gegenüber der Turkey wollte seinen Getränkestützpunkt verkaufen, muss aber nun doch weiter machen, denn er wird nicht aus dem 10-Jahresvertrag entlassen, wenn der Käufer nicht MEHR Miete zahlt – dabei berappt der arme schon seit Jahren einen total überteuerten „Nach-der-Wende-Preis“. Nicht weit davon sitzt eine nette Frau die letzten Monate ihres Jahresvertrags in ihrem Secondhand-Laden ab, sie hat ein Existenzgründerverfahren hinter sich, aber keine Kunden – leicht absehbar in dieser Nebenstraße ohne Laufpublikum, da muss ich kein professioneller Berater sein, um das zu bemerken. Keine Bankgesellschaft hilft solchen Menschen, sie können niemanden bestechen und haben das Pech, nicht von öffentlichen Mitteln, sondern vom Endverbraucher zu leben. Der macht sich rar zur Zeit, behält sein Geld bei sich, guckt Abendschau und beobachtet das „sozial ausgewogene Sparen“. Nicht sparen müssen die Glücklichen, an die die Manager der Bankgesellschaft diese tollen Immobilienfonds mit der für 23 Jahre zugesicherten Rendite verteilt haben – obwohl die Immobilien bereits leer standen. Berlin hat das jetzt für die nächsten 23 Jahre im Haushalt, na klar! und die Verantwortlichen beziehen noch über Jahre ihre Pensionen und Abfindungen in Millionenhöhe, da kann man auch nichts dran andern, Vertrag ist Vertrag.

Ach, jetzt hab‘ ich mich ja doch hinreißen lassen, im Sumpf zu wühlen! Zur Zärtlichkeit durch Schweigen hat es heute leider nicht gereicht. Gibt es vielleicht was Positives, so für den Schluss? Das mit öffentlichen Mitteln aufwendig restaurierte Altberliner Klohäuschen am Boxhagener Platz soll Ende März wieder eröffnet werden, lese ich im Wochenblatt. Ob man das glauben soll? Es war schon letztes Jahr fertig, doch nach wenigen Tagen ereignete sich ein Wasserrohrbruch, das „aus“ für die Anlage – wer sollte denn auch die Reparatur bezahlen???? Bis zum Wintereinbruch beschwerten sich die Anwohner fortlaufend über den Gestank – es ist ja nicht so, dass die Leute sich hier NICHT erleichtern, nur weil das Klohäuschen dicht hat! Nichts hat geholfen – aber JETZT, inmitten der schlimmsten Sparmaßnahmen, soll das „Café Achteck“ wieder öffnen? Vielleicht ein Zeichen des kommenden Aufschwungs…

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