Claudia am 28. Mai 2003 — Kommentare deaktiviert für Schreibzeit: ein ganz normaler Tag

Schreibzeit: ein ganz normaler Tag

Wenn ich morgens den Computer anschalte und, während er hochfährt, in der Küche den Kaffee aufsetze, ist der Geist noch klar, geradezu LEER – allenfalls spüre ich einen kleinen, freudig-neugierigen Sog in Richtung „Cockpit“. Dann, angekommen auf dem Stuhl vor dem Monitor, schau ich auch aus dem Fenster zur „Real World“, genieße den Blick auf viel Himmel, die grünen Bäume und den besonnten Kinderspielplatz. In einem Raum ohne gute Sicht nach draußen könnte ich mich nicht wohl fühlen, das hab‘ ich für mich heraus gefunden. Eigentlich verwunderlich, denn all meine Aktivitäten, mal abgesehen vom Einkaufen, Spazieren gehen und Freunde treffen, finden im „Raum hinter dem Monitor“ statt.

Und nun geht’s also los. Ich rufe die Mails aus vier Mailboxen ab, darunter die völlig im SPAM versunkene klinger@snafu.de. Hier bekomme ich einen ersten Eindruck von der „Problemlage des Tages“: heute etwa sind noch gar keine „Penis Enlargement“-Mails darunter, dafür mehr „Anti-Aging-Miracles“ und zunehmend auch „Keep SPAM out!“-Ratschläge. Pro Tag trudeln auf diesem Account etwa 60 bis 100 Werbemails ein, die ich sofort löschen muss, denn sonst find‘ ich nicht mehr durch. Hab‘ schon daran gedacht, Wissenschaftlern den Bezug dieser täglichen Horror-Auswahl zu Forschungszwecken anzubieten: Wer hat schon eine Mailadresse, die seit 1996 überall im Web gepostet und frei verteilt wurde???

4 Mailboxen, 22 Listen, 40 Server – und was JETZT?

Nun ja, nicht jede Idee ist kommerziell vielversprechend! :-) Als nächstes kommen die Listenmails aus 22 Mailinglisten. Automatisch sortieren sie sich in ihre je eigenen Ordner, die ich gelegentlich „aufsuche“ wie niemals endende Tagungen, in die man mal reinschauen kann, wenn Zeit ist. Immer gibt es „Lieblingslisten“, also die zwei, drei, in denen ich gelegentlich selber schreibe. Zur Zeit ist das die Ab40-Frauenliste, die Ken-Wilber-Mailingliste, und – aus alter Anhänglichkeit – die Liste Netzliteratur, wo fast über alles geredet werden kann, nur Mails zum Thema finden wenig Resonanz. Der große Rest meines umfangreichen Listenwesens sind Fach-Listen: I-Worker, CSS-Design, Texttreff, Webgrrls und ähnliche Zirkel, im wesentlichen dafür da, fortlaufende Weiterbildung zu ermöglichen, Fragen zu stellen und Antworten zu geben, die sich aus der täglichen Arbeit ergeben.

Diese mittlerweile unverzichtbare „Arbeitsstruktur“ mutet mich manchmal wie ein virtuelles Großraumbüro an, in das ich etwa hinein rufe: „Hey, warum klappt diese Spalte jetzt nach unten weg, anstatt sich brav oben rechts zu positionieren?“ Meistens gibt’s schon sehr bald Antworten. Eine schnellere Methode, sich neues technisches Wissen anzueignen und mit den ersten Anwendungsproblemen auseinander zu setzen, ist kaum denkbar: erst ein paar einschlägige (in Listen erfragte oder per Google gefundene) Webseiten zum Thema lesen, dann mit der Umsetzung beginnen und bei Problemen nachfragen. All das geht nicht nur weit schneller, sondern ist immer auch aktueller und praxistauglicher als alles, was als Buch oder gedrucktes Magazin mit ihren langen Herstellungszeiträumen zu haben ist.

Nachdem SPAM und Mailinglisten eingetrudelt bzw. gelöscht sind, bleiben die wenigen, an mich persönlich gerichteten Mails zur Sichtung übrig. Freunde und Mitarbeiter aus verschiedenen Projekten, manchmal ein Diary-Leser mit einem eher „philosophischen“ Anliegen (die liebe ich!), natürlich meine Auftraggeber, meist mit kleineren Arbeitsaufträgen oder Nachfragen, und dann noch ein paar selbst bestellte Newsletter.

An der Stelle halte ich meist inne und frage mich: Was jetzt? Das Befassen mit den an mich gerichteten Mails bedeutet den „richtigen Einstieg in die Tagesarbeit“ – will ich das schon? Oder will ich mir erst noch ein wenig Besinnlichkeit gönnen, ein bisschen in den Listen stöbern, eine Antwort schreiben, vielleicht mal wieder einen Diary-Beitrag verfassen? Auch persönliche Dialoge können mich richtig beschäftigen, es laufen selten mehr als zwei, drei auf einmal, echte Gespräche über tiefere Themen, die mich locker für ein bis zwei Stunden von allem anderen abziehen können – natürlich nicht jeden Tag und meist erst zu späterer Stunde! Das geistig-emotionale Befassungspotenzial ist in dieser Hinsicht begrenzt, das ist mir aufgrund jahrelanger Erfahrung sehr bewusst. Meine Liebesfähigkeit wird durch das Netz eben NICHT vermehrt oder irgendwie beschleunigt. Und ja: für mich ist ein umfassendes Gespräch in aller Offenheit (nur diese schätze ich wirklich!) eine Form der Liebe.

Lieben, plaudern, arbeiten?

Will ich jetzt also lieben, plaudern, mich besinnen, lernen oder arbeiten? Nicht nur morgens, sondern jedes Mal, wenn ich Mail abrufe, stellt sich diese Frage „im Prinzip“ neu. Es kann sich jeder denken, dass Probleme mit der Selbstdisziplin mir nicht unbekannt sind! Es kann schon mal Nachmittag werden, bis ich mir einen inneren Ruck gebe und mich frage: Was will ich eigentlich heute noch SCHAFFEN? Dass das nicht wirklich zum Problem wird, liegt daran, dass ich auch im beiläufigen Tun, das einfach dem Fluss der Impulse folgt, etliches von dem „schaffe“, was anliegt. Es erscheint mir gar nicht erst als Arbeit. Meine Kunden sind in aller Regel nicht von meinem täglichen Chaos betroffen, sondern werden SOFORT bedient, wenn sie einen AKUTEN Bedarf haben – da muss ich gar nicht erst überlegen, insofern gibt’s da auch kein Konzentrationsproblem.

Anders meine ureigenen Vorhaben und Projekte: die stehen in ständiger Konkurrenz zu dem, was „von außen“ kommt, ich muss immer wieder neu darauf achten, eine Balance zwischen Agieren und Reagieren, zwischen Erschaffen und abarbeiten & pflegen hinzubekommen. Nicht immer leicht! Mal häng ich „am Draht“ wie das Kaninchen vor der Schlange, manchmal ignoriere ich die Mailwelt einen ganzen Tag, weil etwas Eigenes die ganze Konzentration braucht. Zum Glück liege ich meist in der Mitte zwischen den Extremen.

Mittags Real Life

Um die Mittagszeit, das kann um zwölf, manchmal erst um zwei sein, ruft sich „Real World“ in Erinnerung. Der Mensch lebt nicht vom Monitor allen, ein Break ist angesagt. Vielleicht mal kurz zum Bäcker oder ins Lädchen gegenüber (Milch, Tabak, Mineralwasser kaufen), den physischen Briefkasten leeren (Tageszeitung, Behördenbriefe, Werbung) und dann ein Imbiss – dafür wechsle ich in die Küche, Südseite, sehr sonnig, und während ich esse, lese ich die Berliner Zeitung, wohl wissend, dass das etwas ist, was MAN nicht tun sollte, denn: „Wenn ich esse, dann esse ich!“ Nun ja, ich hab meist einfach keine Lust auf Ess-Meditation, sondern will lieber das bisschen Wir-Gefühl, dass über die Lokalzeitung kommt, noch eben mitnehmen, bevor ich mich wieder der völlig ortlosen Netzwelt zuwende. Manchmal leg‘ ich mich dann noch eine halbe Stunde hin – mittags zu dösen ist wirklich wunderbar!

Doch schon bald „sitze“ ich wieder: Verschränkt mit der Mail-Ebene der großen und kleinen Gespräche, erstreckt sich mein virtuelles Dasein auf eine ziemlich vielfältige Webseitenlandschaft: eigene Seiten, gemeinsame Projekte und neue und alte Kunden-Sites. Interessehalber hab ich grad mal gezählt: 40 Serverzugänge haben sich in meinem FTP-Programm angesammelt, da muss ich auch mal wieder aufräumen! Immer ist irgendwo etwas zu tun, meist nicht besonders dringend, aber es addiert sich, wenn ich nicht aufpasse. Das „Zersplitterungspotenzial“, das die Pflege von Webseiten mit sich bringt, ist erheblich – gerade deshalb biete ich meine Kunden Pflege nicht offensiv an, doch mach ich natürlich alles, was gebraucht und gewollt wird und gelegentlich auch noch etwas mehr: wenn es sich z.B. um Dinge handelt, von denen sie gar nichts wissen, von denen sie aber gefährdet werden können, wenn sich niemand kümmert.

Routine gesucht

Und abends dann? Als ich noch zu zweit wohnte, hatte ich mir angewöhnt, meinen Arbeitstag am Monitor etwa um 18 Uhr zu beenden, zu kochen, gemeinsam zu essen und dann zumindest Abend- und Tagesschau anzusehen. Das ist weggefallen, seit ich alleine bin und noch ist es mir nicht geglückt, eine neue Routine zu finden. Manchmal geh ich ins Fitness-Center und in die Sauna, gelegentlich noch ein paar Schritte durchs Kiez. Ohne dafür großen Aufwand zu treiben, koch‘ ich mir was, beobachte mit Sorge einen gewissen Hang zu Fertigsuppen und Pizzas, telefoniere auch mal, wenn ich Lust auf eine menschliche Stimme verspüre. Da ich den Radiorecorder, den ich mir zugelegt habe, tatsächlich nur benutze, wenn mal ein Gast da ist, hab‘ ich mir auch keinen Fernseher angeschafft. Ich glaub nicht dran, dass ich mich wirklich davor setzen würde und will das eigentlich auch nicht. Eine Glotze im Leben reicht völlig aus, und wenn in der Welt etwas passiert, von dem ich wirklich wissen muss, ruft mich sowieso jemand an und sagt: Hast du mitgekriegt, dass..?

So kommt es, dass ich derzeit auch die meisten Abende am Compi verbringe – und gern! Das „ich sollte arbeiten-Gefühl“ ist dann weg und ich kann mich dem Besinnlichen oder Kreativen zuwenden. Mal wieder in den unendlichen Weiten nach Themen stöbern, die nicht „automatisch“ tagsüber in mein Bewusstsein treten, in meine Lieblingslisten schauen, ein gutes Gespräch weiter schreiben, Webseiten oder Foren von Freunden aufsuchen. Neulich hab ich mir auch mal einen Adult-Check geleistet und kann damit nun auch die mittlerweile gut abgeschotteten erotischen Seiten der Netzwelt erforschen – zu Beginn interessant, aber natürlich ist es bald wie überall: ein paar Sites, die ich gelegentlich wieder aufsuchen werde, der große Rest versinkt in der Beliebigkeit des immer gleichen Einerlei.

Alles super – oder wie?

Ein ganz normaler Tag – ist es das, was ich will? Fehlt mir ‚was? Stört etwas? Ich treibe nicht nur so dahin, sondern frage mich das tatsächlich oft. Noch nie im Leben bin ich lange bei dem geblieben, was mir nur „suboptimal“ vorkam. Würde mir nicht gefallen, was ich täglich erlebe, wäre ich längst schon anderswo, würde anders arbeiten, säße vielleicht mit anderen in einem gemeinsamen Büro, würde herum reisen, viel ausgehen, Kultur konsumieren – aber nein, all das reizt mich nicht. Ich bin DA, wo ich sein will und bin DAS, was ich sein will – sehr statisch, was den physischen Ort angeht, doch wunderbar frei und multidimensional, was das Sein betrifft, jeden Tag anders und neu.

Also alles super? Nicht doch: Ich sitze deutlich zuviel vor dem Monitor und leider ist der menschliche Körper nicht direkt für diese Art des In-der-Welt-Seins entwickelt. Das merke ich – und es ist kein Spass! Jetzt zum Beispiel reicht es wirklich, Mittagspause ist heut „wegen Diary“ ausgefallen – ich MUSS jetzt einfach aufstehen und irgend etwas anderes tun. Dieses „Andere“ zu finden, fällt mir nicht immer leicht. Aber na ja, ich arbeite dran… :-)

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Claudia am 14. Mai 2003 — Kommentare deaktiviert für Wille und Wahrheit: Die „Matschbirne“ erkennen

Wille und Wahrheit: Die „Matschbirne“ erkennen

Wie funktioniert der „freie Wille“? Wo kommt er her, wie kann er wachsen und was lässt ihn verschwinden? Ich frage nicht, „was IST der freie Wille?“, beziehe mich nicht auf die philosophische Endlos-Diskussion, ob ein Wille überhaupt frei sein kann oder nicht. Meine Frage richtet sich auf den Willen schlechthin: das Wort „frei“ benutze ich nur, um ihn von unfreiem Wollen zu unterscheiden. Was das ist, weiß jeder: das Streben nach Macht, Besitz, Anerkennung, Liebe ist uns irgendwie mitgegeben, es ist da, ohne dass wir es wählen, allenfalls können wir uns in gewissen Grenzen im Lauf des Lebens davon frei machen – zum Beispiel aufgrund von Erfahrungen, insbesondere Erfolgen. Wenn ich immer wieder erreiche, was ich „will“ und dann feststellen muss, dass es mich nicht glücklich macht, sondern nur der nächste Wunsch ins Rampenlicht tritt, dann erwischt mich irgendwann das Aha-Erlebnis: DAS ist es offensichtlich nicht! Und das einschlägige Wollen und Streben stirbt ab, ganz ohne Anstrengung und Indoktrination von außen.

Was aber dann? Mein eigenes Wollen reicht seit langem nur noch dahin, meinen Lebensunterhalt auf bescheidenem Niveau zu gewährleisten, meine Arbeit so zu gestalten, dass sie mir Freude macht und mich nicht nervt. Zudem habe ich gelernt, förderliche und freudvolle Beziehungen zu Mitmenschen zu pflegen und schädigende Verstrickungen gar nicht erst wachsen zu lassen. Es geht mir gut, und zwar sowohl von der Warte des eigenen Daseins-Gefühls aus betrachtet, als auch im Vergleich zu unzähligen Menschen, die ich mitbekomme, deren Innenraum gefüllt ist mit Ängsten, Agressionen, Mangelgefühlen und vielem mehr.

Und doch kann ich nicht sagen, dass ich „zufrieden“ bin. Oberflächlich betrachtet schon, aber untergründig ist da immer ein kleiner Stachel, der sich mal mehr, mal weniger spürbar zeigt. Eine leise Stimme, die zu mir sagt: Das ist doch nicht alles! Du kannst doch nicht mit 48 psychospirituell in Rente gehen! Was ist mit deinen Fähigkeiten, deiner Kreativität, deiner Kraft? Du lebst weit unterhalb deiner Möglichkeiten, schöpfst deine Potenziale nicht aus, hängst zufrieden herum und fängst mit deiner persönlichen Freiheit eigentlich nichts an. Gehört denn alles, was du erworben und entwickelt hast, dir? Reicht es, ein angenehmes und stressfreies Leben zu führen? Was hat die Welt davon?

Den Stau wahrnehmen

Bei der letzten Frage „Was hat die Welt davon?“ könnte man glauben, es gehe um Moral, um die Pflicht, den Kriegsdienst an der Realitätsfront im Geiste der Aufopferung abzuleisten. Das ist es aber nicht, ich fühle es nicht als Forderung, die Welt auf meinen Schultern zu tragen und mich in irgendwelchen Kämpfen aufzureiben, weil das nun mal jeder tun soll, damit die Gesellschaft prosperiert. Nein, es ist mehr ein Gefühl mangelnden Austauschs, als wäre der Fluss meines Aktiv-Potenzials irgendwie gestaut – und immer, wenn ich mich zurücklehne und meine Gelassenheit feiere, spüre ich diesen Stau, spüre, dass da etwas nicht stimmt.

Wenn ich über längere Zeit denselben Aspekt als „unstimmig“ empfinde, aber so gar nicht „von selber“ darauf komme, was da eigentlich los ist und wie ich etwas ändern könnte, dann werde ich wieder offener für Anregungen von außen. Allerdings müssen es Inhalte sein, die schon irgendwie nah an meinem Thema sind. Derzeit hätte ich gar nichts davon, etwa noch weiter spirituelle Texte zu lesen, die Gelassenheit und Selbstbeobachtung, Meditation und Loslassen predigen. Mein inneres Gefühl sagt mir, dass ich genau in die andere Richtung will – zwar auf einem neuen Niveau, nicht mehr in der unbewussten und extremen Art, wie ich in der ersten Lebenshälfte versuchte, die Welt und mich selbst durch überaktives Herumwurschteln zu beglücken, aber doch in Richtung HANDELN, mich einlassen, verpflichten, fordern – auch auf die Gefahr hin, an die Grenzen meiner Kraft und meiner Fähigkeiten zu kommen. Schon dass ich das „Gefahr“ nenne, ist ein Zeichen des „Problems“!

An die Grenze gehen

Eine Yoga-Übung zelebriert, wie es „richtig“ wäre: Man nimmt langsam und bewusst eine ungewöhnliche Körperhaltung ein und geht an die Grenze des Möglichen, die gleichzeitig die Grenze zum Schmerz ist – nicht aber darüber hinaus. Dort verharrt man, solange es geht und schaut sich an, was das im Körper, in den Gefühlen und Gedanken bewirkt. Dann lässt man ebenso langsam los und entspannt sich wieder, nun beobachtend, was die Übung für weitere Wirkungen entfaltet.

Im Leben tu ich das nicht, lange schon nicht. Ich gehe NICHT an die Grenze der Möglichkeiten, geschweige denn an die des Schmerzes. Wenn sich die Gelegenheit zeigt – und das Leben ist immer voller Gelegenheiten – frage ich mich: „Wozu denn? Mir geht’s doch gut, was will ich denn noch? Es gibt doch nichts zu erreichen!“. Das ist, so seh‘ ich es jetzt, ein klarer Fall von spiritueller Matschbirne. Diese Gedanken sind nicht Weisheit, sondern kaschieren und rationalisieren einen Fehler, eine Unstimmigkeit, irgend eine Altlast, die mich behindert und einschränkt, ohne dass ich sie schon genau sehen könnte.

Ein erstes Aha-Erlebnis verschaffte mir ein Buch über „Techniken zur Erforschung des Bewusstseins“, dessen Arbeitsbögen zur Erhebung eines Persönlichkeitsprofils ich einfach mal ausfüllte, ohne noch die Texte dazu zu lesen. Zwei hintereinander stehende Fragen und meine ohne Zögern gegebenen Antworten ließen mich stutzen:

Frage:
Welchen Abschnitt deines Lebens hältst du für den besten? Weshalb?

Antwort:
Mitte dreißig, die Zeit nach meiner „Befreiung vom Alkohol“ – weil ich da entdeckt habe, dass alles „von selber“ geht und nicht von mir „gemacht“ werden muss.

Frage:
Welche Aspekte deines gegenwärtigen Ichs magst du am wenigsten?
Antwort:
Entschlusslosigkeit und Ziellosigkeit, Zerstreutheit und Unkonzentriertheit, physische Beschwerden am rechten Arm und Bein (=Schäden von zu vielem Sitzen).

Das hat mich ein bisschen wach gemacht! Die wunderbare Wende in meinem Leben, von der ich noch heute zehre, hat mir Erkenntnisse und Weisheiten vermittelt, die für mich über allem anderen stehen, da sie selbst gefunden, selbst erlebt sind, nicht von außen vermittelt. Auch nicht in einer Umkehrung angenommen, wie man etwa als junger Mensch GEGEN das ist, was von den Eltern oder der Gesellschaft an Wahrheiten tradiert wird. Es war wirklich neu, völlig unerwartet und eröffnete mir eine neue Weise des In-der-Welt-Seins, die alles übertraf, was ich mir bisher ausmalen konnte. Ich glaubte, das Geheimnis des Glücks und des „richtigen Lebens“ gefunden zu haben.

Das „richtige“ Leben

Dem war auch so. Ich sehe das jetzt nicht als falsch an. Eher scheint mir der Prozess so zu verlaufen, wie das Yin Yang-Zeichen – wenn man es animiert, in Bewegung versetzt – zeigen will: der eine Aspekt der Polarität, sagen wir „schwarz“, wird immer größer und größer bis er allen Raum einnimmt – doch im Augenblick seiner totalen Dominanz, entsteht in seiner Mitte das Gegenteil: Weiß. Ab jetzt beginnt Weiß zu wachsen und Schwarz schrumpft zusammen – bis jetzt Weiß dominiert, in dessen Mitte dann wieder ein zunächst winziges Schwarz erscheint.

Mich hat offensichtlich die Begeisterung über das erste vollständig selbst durchlebte „Umschlagen“, das Gefühl der Befreiung und Erlösung, das damit verbunden war, derart beeindruckt, dass ich irgendwann anfing, fest zu halten. Ich hielt das Gewonnene für die absolute und letzte Wahrheit und begann, in meinem Leben das „Weiß“ zu verstärken, das so wunderbar inmitten des „Schwarz“ erschienen war. Das ist solange gut und unschädlich, solange das „Weiß“ von selber wächst – wenn es aber Zeit ist, wieder in Richtung des anderen Pols zu leben, wenn die Bewegung wieder umschlägt, dann bremse ich mich so nur selber aus. Tue also (unbewusst!) genau das Gegenteil von dem, was ich als „Extrakt der gewonnenen Weisheit“ gerne predige: den eigenen Impulsen zu folgen, sich ihnen hinzugeben, mitzuleben und nicht aus dem Kopf heraus daran herum zu rechten und das Leben zu be-rechnen. Meine Willensimpulse hab‘ ich dabei zunehmend gelähmt, innerlich alles diskriminert, was über das Bestehende, das „von selbst Entstehende“ hinaus greifen will. So lange und so erfolgreich, bis ich nicht nur jeden Draht zu dieser Art Wollen verloren hatte, sondern auch physisch an den Handlung symbolisierenden Gliedmaßen „Krankheiten“ auftraten. Unglaublich!

So ist jetzt also „Wille“ mein Thema. Etwas erreichen wollen, Ziele haben, die eigenen Aktivitäten auf diese Ziele hin ausrichten, auch längerfristig. Mich verpflichten und „Verstrickungen“ riskieren – und nicht aus den Augen verlieren, ob ich den Zielen mit meinen Schritten auch näher komme. All das hört sich für mich noch äußerst fremd an, da ist eine, wie ich jetzt sehe, selbst geschaffene innere Ablehnung dieser Dimension. Wie könnte ich die wieder „abschaffen“?

Was du nicht erfühlen kannst…

Wo eine Frage als solche erkannt ist, folgen Suchbewegungen auf mögliche Antworten hin. Bisher weiß ich nicht viel, obwohl ich mich schon ein wenig in den üblichen Formen mit „Ziele finden“ auseinander gesetzt habe, zunächst auf der beruflichen Ebene. Allerdings sprang da noch kein zündender Funke über, berufliche Ziele sind eben nur operationale Ziele, also solche, die eigentlich Zielen auf ganz anderen Ebenen dienen sollten.

„Was du nicht erfühlen kannst, das kannst du nicht erjagen“ – der Satz von Goethe geht mir seit langem nach. Nur darüber zu grübeln, welche Ziele es wert wären, sich ihnen zu verpflichten und richtig Einsatz zu bringen, ist gewiss nicht der Weg. Nein, ich muss mich neu öffnen, nicht immer gleich das beschwichtigende Zufriedenheits-Programm im Kopf ablaufen lassen, wenn mich irgend etwas stört oder ein Änderungswunsch auftritt. Ich muss nicht noch mehr „Gelassenheit üben“, sondern das Gegenteil an mich heran lassen, es wieder erwecken und wachsen lassen.

Muss ich? Nein, ich muss nicht. ICH WILL.

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Claudia am 04. Mai 2003 — Kommentare deaktiviert für Bilder der Liebe

Bilder der Liebe

Auf dem Flohmarkt, sonntags, Boxhagener Platz. Kein Antik- oder Kunstmarkt, sondern einer von der ursprünglichen Art, auf dem die Leute alles verkaufen, was sie nicht mehr brauchen – und das, was sich dann so ansammelt, wenn sie das Verkaufen weiter betreiben wollen. Da meine Wände noch immer recht kahl sind, halte ich Ausschau nach Bildern. Unwichtig ob Kunstdrucke, Poster, ÖÖlgemälde, vergrößerte Fotos, zusammengeklebte Collagen oder ausgedruckte Digitalwerke, unwichtig auch, wer wo und wann das Bild geschaffen, abgekupfert, geklaut oder variiert hat. Ich durchwandere den Markt im Uhrzeigersinn und scanne die Stände, die Tapeziertische und die Decken auf dem Boden systematisch nach Content. Inhalt für die bisher weißen Wände, auf die ich täglich mehrmals schaue.

Keine bestimmten Vorstellungen helfen mir beim Suchen. Ich weiß nicht, ob ich ein Abbild der Natur, etwas ganz Abstraktes, eine Stadtansicht, womöglich gar Bilder vom Menschen suche. Nur weiß ich recht schnell, wenn ich ein Bild sehe: DAS will ich NICHT!

So geh‘ ich von Stand zu Stand und erlebe jede Menge „Das nicht!“-Resonanz. Natürlich frag ich mich schon bald, was eigentlich nicht passt, warum mir einfach keines der vielen Fotos, Poster, Drucke und Gemälde gefallen will. Auch solche nicht, die weder stümperhaft noch uninteressant, ja, vielleicht „richtig gute Kunst“ sind. Aber: will ich da täglich drauf schauen? Die innere Probe auf den Ernstfall übersteht bisher keines. Es ist eine ganz andere Situation, als wenn man einfach nur so „Bilder kaufen“ wollte, in einer Hobby-artigen Sammlerhaltung, die bestimmte Vorlieben pflegt und das Beutegut zuhause in Rollen stapelt.

Nein, ich will Bilder für mich, Bilder zum selber ansehen, nicht zum zeigen. Und was ich ständig sehe, beeinflusst mein Sein, malt die Farbe an die Wände meiner Existenz, beeinflusst meine Stimmungen und Gefühle. Es muntert mich auf oder zieht mich herunter, lenkt ab oder unterstützt die Konzentration, stärkt den Willen oder unterminiert ihn.

Ich tue gut daran, sorgfältig zu wählen. Das bedeutet nicht, zu mir selbst in eine therapeutische Haltung zu treten und mir gewisse Bilder zu „verschreiben“. Sondern nur, auf die Regungen zu achten, die der Anblick in mir hervor ruft und zu fragen: will ich DAS? Will ich das jeden Tag, im Fall der weißen Wand gegenüber meinem Arbeitsplatz gar alle paar Sekunden?

Die besten Bilder auf dem Flohmarkt dieses Sonntags hat einer, der polnische Plakatkunst verkauft. Wow, dagegen können unsere gängigen Veranstaltungsplakate einpacken! Ein ganzer Stapel großer Poster wird vor mir auf- und umgeblättert: Plakate zu Opern, Theaterstücken, Lesungen, politischen Veranstaltungen, Symposien und Ausstellungen – und jedes ein echtes Kunstwerk! Es ist mühsam, so einen Stapel großformatiger Bilder, es sind gewiss über 150, eins ums andere zu zeigen und umgedreht abzulegen. Auch deshalb bin ich ausgesprochen kaufbereit, sollte eines darunter sein, dass mich „anspricht“.

Das Schreien der Bilder

Die Bilder sprechen mich tatsächlich fast alle an. Allerdings nicht so, wie ich minütlich von der Wand gegenüber angesprochen werden will, muss ich mit Bedauern feststellen. Die allermeisten dieser wunderbaren Werke der grafischen Kunst stellen in Frage, klagen an, verunsichern oder machen Angst, vermitteln das Gefühl von Ohnmacht und Wut, stimmen aggressiv oder verzweifelt, erheben Forderungen oder machen sich abgründig über etwas lustig. Manche spielen mit dem Ekel, andere mit Gewalt, manche auf verstören-wollende Art mit Sex, wieder andere bleiben so cool, dass man die Wand gleich weiß lassen könnte – oder schwarz.

Ich kaufe schließlich eines, das mir besonders ausdrucksstark erscheint, wohl wissend, dass ich es vermutlich nicht aufhängen werde. Ein schwarzer Vogel im Flug, gemalte Silouette – in ihn hinein rast ein roter Vogel mit riesigem Schnabel und durchdringendem Blick, der das Zentrum des Bildes darstellt. Es macht agressiv, keine Frage. Und damit ist es ein Fehlkauf, einzig dem Verkäufer zuliebe geschehen.

Mit meiner Rolle unterm Arm mach‘ ich mich auf den Heimweg. Immerhin weiß ich jetzt, was ich suchte und nicht fand: Bilder, die etwas feiern und heiligen, nicht angreifen oder in Frage stellen. Bilder der Freude und Dankbarkeit, Bilder des Staunens und Bewunderns – Bilder der Liebe, kurz gesagt.

Gibt es solche Bilder? Ganz bestimmt gibt es sie, der Fundus der Bilder der Menschheit ist riesig. Ich erinnere mich spontan an einige Nähnadeln im Heuhaufen, die mir schon begegnet sind, Landschaften, Frauen, Paare in tantrischer Vereinigung, Götterbilder, erotische Szenen, die über das Erotische hinaus in eine andere Dimension weisen, auch abstrakte Kompositionen mit intensivem Gefühlswert. Es gibt sie im Fundus käuflicher Bilder, wenn man Titel und Autor kennt, doch sicher auch „ohne Titel“ auf vielen Festplatten und in Schubladen, wo alles verbleibt, bzw. verschwindet, von dem man vermutet, es sei unverwertbar. Oder mit dem man sich nicht an die ÖÖffentlichkeit wagt, warum auch immer.

Der Geist, der stets verneint

Ich verstehe, warum es so wenige solcher „Bilder der Liebe“ gibt. Zum einen stehen mir gewisse „spirituelle Kompositionen“ aus dem Eso-Markt vor Augen, die zeigen, wie schnell etwas, das mit aller Kraft harmonisch, schön und auf jeden Fall „positiv“ sein will, zum Kitsch gerät. Und mir fällt die Werbung ein. Dort gibt es eigentlich alles, was fehlt – nur dass es eben nicht um das Gute, Schöne und Wahre, sondern um die Güte und Schönheit der Ware geht. Nicht um Liebe, sondern ums Haben- und Jemand-Sein-wollen.

Es ist kaum möglich, den kritischen Geist mit all seiner Zersetzungskraft einfach zu überspringen und zu naiven Darstellungen aus voraufgeklärten Zeiten zurück zu kehren. Die dunklen Seiten der Welt können und sollen nicht geleugnet werden, doch kann ein „anprangern“ oder beweinen nicht einziger Inhalt eines „Bildes der Liebe“ sein. Noch viel weniger das „reine Spiel mit der Wahrnehmung“, das in der Kunst den Inhalt zeitweise abgelöst hat.

Ich hoffe trotzdem, auf meiner Suche nach dem Content für die blanken Wände noch fündig zu werden, hab‘ ja auch noch kaum geforscht. Wer mir Tipps geben will oder Bilder zeigen, ist herzlich eingeladen, ins Forum zu posten oder zu mailen.

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Claudia am 20. April 2003 — Kommentare deaktiviert für Vom Fühlen

Vom Fühlen

Ein Leser schrieb mir, das Gehirn „brauche Wissen, um für meine Zufriedenheit zu arbeiten“. Er bezog sich auf den Artikel „Vater UND Mutter ehren“ und meinte wohl damit: Hätte ich gewusst, warum mein Vater war, wie er war, hätte ich ihn als Kind nicht so gehasst, wäre weniger einsam gewesen und zufriedener.

Dieser Irrtum über den Nutzen des Wissens ist weit verbreitet. Kein Wunder in einer Gesellschaft, die sich „Informationsgesellschaft“ nennt. Tatsache ist: Ich wusste immer, warum mein Vater war, wie er war, denn sobald ich denken konnte, erzählte er seine Geschichte. Nicht nur einmal, sondern immer wieder. Doch ich konnte und wollte in frühen Jahren nicht „verstehen“ – wobei „verstehen“ schon ein Stück in die Irre führt: ich wollte nicht VERZEIHEN, war völlig außerstande dazu, denn er trampelte bei jeder Gelegenheit auf meinen Gefühlen herum. Ich litt und er war der Feind Nr.1 – so einfach, so üblich.

Erst, als ich später mit mir selbst und der Welt besser zurecht kam, als ich tat, was ich tun wollte und damit auch Erfolge hatte, hinter denen ich stehen konnte: erst da änderte sich das Verhältnis. Mein Hass verschwand, zunächst zugunsten einer gewissen Neutralität: weder Hass noch Liebe. Für die Liebe musste ich erst „werden wie er“, am eigenen Leib erleben, dass ich nicht die tolle Person bin, die ich mir ausmalte, sondern genauso eine Schreckschraube, die für Andere (und sich selbst) zum Horror werden kann. Aber das ist eine andere Geschichte.

Anders denken?

Wissen allein bringt wenig. Denken macht nicht glücklich, obwohl das Denken durchaus Anteil daran hat, wie ich die Welt erlebe. Manche Menschen denken sich in den Keller, Tag für Tag. Sie erwarten immer das Übelste, sind misstrauisch und filtern so die Informationen heraus, die zu ihrem Elend passen. Manche benötigen nicht einmal Input von außen, sondern spinnen sich selbst zusammen, worunter sie dann leiden.

Die Lehrer des „positiven Denkens“ versuchen, an dieser Stelle anzusetzen: Denk positiv, dann geht’s dir gut! Das klappt allerdings – wenn überhaupt – nur für kurze Zeit. Zu sehr sind wir üblicherweise mit dem Denken identifiziert: Wo, wenn nicht im „denken über die Welt“ spüren wir uns so sehr als erste Person: Ich denke SO, also bin ich „ich“! Dieses Denken dann mittels einer „Übung“ zu kanalisieren und zu domestizieren, kann gar nicht funktionieren. Immer wieder meldet sich das „alte Denken“ doch zu Wort, sieht Schatten, wo nun Licht gesehen werden soll, meldet Zweifel an beim morgendlichen Blick in den Spiegel, wogegen das „Jeden Tag geht es mir besser und besser“ nicht wirklich hilft, ja, es wird schnell lächerlich.

Auch Meditation wird gelegentlich als alternative Umgangsweise mit dem Denken empfohlen und praktiziert: Einfach da sitzen und die Gedanken Gedanken sein lassen. Wer das Kopfkino einfach nur beobachtet, stellt fest, wie automatisch es abläuft, wie schnell die Gedanken vom Hundertsten ins Tausendste kommen, wie gering der Bezug zur Realität ist, und vor allem, dass es eine WAHL gibt: sitze ich dem Gedanken auf, identifiziere ich mich mit dem Problem und entwickle es grübelnd weiter – ODER bleibe ich einfach sitzen und sehe zu, was als nächstes vorbei kommt.

Das kann durchaus eine gewisse Entspannung bringen, Einsicht in die Mechanismen des Denkens, ein teilweise Lösung der starken Bindung an Gedanken. Allerdings: sobald ich nicht „nur sitze“, sondern wieder tätig im Leben stehe, handeln und entscheiden muss, ist es nicht mehr damit getan, die Gedanken ziehen zu lassen. Die Meditationsübung gibt mir im besten Fall die Gewissheit, mich jederzeit „heraus ziehen“ zu können, doch was ich tun, wonach ich mich richten soll, solange ich „mitten drin“ stehe, sagt sie mir nicht.

Mehr?

Was also? Gibt s nur die Möglichkeit, sich mit dem abzufinden, was nun mal ist? Immer wieder auf dieselben Weisen im Elend kreisen, im festen Rahmen eigener Konditionierungen und gesellschaftlicher Traditionen? Immer mal wieder Ausbruchs- und Therapieversuche, eine neue Lehre, ein neues Gedankengebäude, ein neuer Partner? Und immer die Ahnung: es muss MEHR geben als das!

Ja, es gibt dieses MEHR. Aber es ist nicht machbar, es kann nicht gejagt, errungen oder erübt werden. Es ist immer da, nur wollen wir es nicht sehen, es nicht hören, uns nicht nach ihm richten. Wir wollen tun, was wir für richtig halten, was sich sinnvoll begründen lässt – und nicht das, was anliegt, nicht das, was getan werden will.

Was könnte das sein? Ich weiß, es klingt verdammt hermetisch, doch ist es auch kein „Geheimnis“, nur weil es sich im Rahmen des logischen Denkens nicht darstellen lässt. Denken ist nicht unser einziges Potenzial, wir können auch fühlen, spüren, empfinden, intuieren. Obwohl offiziell das Denken die erste Stellung einnimmt („animal rationale“) und die Gefühle einen schlechten bis kitschigen Ruf haben, bestimmen sie doch untergründig unser Denken – immer schon. Ja, den ganzen Zirkus um die Rationalität kann man als einziges Bemühen beschreiben, das Gefühlsleben zu domestizieren. Es soll mit (ge-)rechten Dingen zu gehen nicht nach persönlicher Willkür. Wer an der Welt mitbauen will, muss seine Beiträge wissenschaftlich begründen, sonst kann er in die Unterhaltungsindustrie gehen. Wer Verträge schließt, soll sich ins Kleingedruckte vertiefen, wo genau ausgeführt ist, was „sich vertragen“ im Einzelnen hier heißt – und nicht etwa auf Gefühle achten! Die Welt ist so kompliziert geworden, dass nur Rationalität noch den Schimmer einer Chance bietet, die Massen mit ihren 10.000 Dingen und Bedürfnissen halbwegs friedlich zu organisieren – also muss auch der Einzelne ein hohes Maß an Rationalität aufbieten, um sein (möglichst komfortables) Durchkommen zu bewerkstelligen.

How-To ist nicht alles

Alles nachvollziehbar, es gab keinen anderen Weg. Doch leider sind wir auf diesem Weg in Trance gesunken, haben uns selbst vergessen und das „HowTo“ zum „Um-Zu“ werden lassen. Das mit all diesen Umtrieben so aufwändig geschützte individuelle Privatleben hat kaum mehr originäre Inhalte und immer mehr Leute fragen sich zu Recht: Wozu die ganze Äktschn? Wofür dieses hohe Maß an Anstrengung und Selbstverleugnung?

Uns wird vermittelt, das bloße Erhalten des Bestehenden wäre schon jedes Opfer wert. Wenn wir – immer noch im Luxus schwimmend, verglichen mit der Mehrheit auf diesem Planeten – nicht weiter und mehr als bisher strampelten, dann würde das alles in Teilen oder ganz zusammen brechen und DAS bekäme uns sehr sehr schlecht!

Stimmt das? Das ist die Frage. Die Antwort findet jeder nur entlang an sich selbst (oder eben nicht). Nicht etwa in Zeitungen und Büchern, in Comedy- und Talkshows, auf Kongressen oder in Besprechungen – und auch nicht auf einer Website. Nur, wenn ich mich selber ansehe, weiß ich, was mir schlecht bekommt und was mir gut tut. Damit bin ich wirklich ganz alleine.

Wechsel der Blickrichtung

Also bleibt nichts übrig, als mich dem zuzuwenden. Was tut mir gut? Was macht mich wirklich glücklich? Was kann ich gerade noch ertragen, ohne zu leiden? Wovon ist mein Wohlbefinden wirklich abhängig: eher vom Kontostand oder mehr vom Wetter? Wieviel Beschränkungen und Unfreiheit bin ich bereit hinzunehmen, um bestimmte Dinge zu erreichen: materiellen Komfort, soziale Anerkennung, sichere und heimelige Beziehungen, Sex? Lohnt das Erlebte und Erreichte weiterhin ungebrochenen, möglicherweise gesteigerten Einsatz? Brauch ich dieses und Jenes wirklich – zum Beispiel, um mich sicher zu fühlen?

Ich war immer gegen Versicherungspolicen, hatte selber nie welche und hab‘ mich gern lustig gemacht über Leute, die Unsummen pro Jahr bezahlen, für den Fall, dass ein unwahrscheinliches Unglück eintritt. Mittlerweile hab‘ ich die idealistische Arroganz der sowieso mittellosen Jugend hinter mir gelassen, aber trotzdem mit den Versicherungen nicht angefangen. Weil da einfach nichts ist, was soviel wert wäre, dass der Verlust nicht locker verschmerzt werden könnte: Es gibt nichts zu holen, also brauch ich keine Diebstahlversicherung. Ich streite mich nicht um Kleingedrucktes, also spar ich mir den Rechtsschutz. Ich vertraue darauf, Geld zu verdienen, wenn ich es wirklich brauche, deshalb sind mir Sparverträge und Vermögensanlagen fremd. Für den Fall der Notlage hab‘ ich ein paar gute Freunde, die bei Bedarf weit mehr Geld mobilisieren könnten als ich, ohne darunter besonders zu leiden – ob sie es im Fall des Falles für mich täten, kann ich nicht wissen, wohl aber darauf vertrauen.. Für die Basics bin ich Mitglied in einem sozialen Netz, für dessen Verteidigung ich eintrete: Sozialhilfe für alle, die es brauchen. Mehr nicht, denn ich bin es gewohnt, jedes Mehr selbst zu erarbeiten. Klar hatte ich auch Zeiten, in denen ich den Luxus eines Arbeitslosengeldes nach BAT 2A Vollzeit genießen konnte – es war schon gut, aber nicht unverzichtbar, ganz gewiss nicht Bedingung meines Glücks oder Unglücks in den jeweiligen Zeiten.

All diese Einsichten bewegen sich nun noch auf der materiellen und sozialen, also psycho-mentalen Ebene. Um wirklich beurteilen zu können, was mir gut tut, muss ich tiefer steigen, herunter auf die psychophysische und physische Ebene: Was fühlt sich gut an? Was spüre ich gern? Was tut mir weh? Wovor habe ich Angst? Wie hängen diese Empfindungen oder die Angst vor ihnen mit meinem sonstigen Fühlen und Denken zusammen?

Der Körper, Freude und Schmerz

Freude ist nichts Abstraktes, zum Beispiel. Freude spürt man im Brustraum und um sie zu fühlen, muss er beweglich genug sein, um mehr oder weniger tiefes Atmen zu gestatten – im Fall der Freude ein Mehr. Die Zwischenrippenmuskulatur darf also nicht zum unflexiblen Panzer erstarrt sein, die Lungen müssen das volle Atmen kennen/können, nicht nur in den unteren zwei Dritteln (wie sie von Rauchern fast ausschließlich genutzt werden). Ich behaupte nicht, dass ein entsprechend flexibler Brustraum bereits die Freude garantiert, aber umgekehrt gilt eben: unterm Brustpanzer hat die Freude schlechte Karten, bzw. ist nur ein im tiefsten nicht befriedigendes Gedankenspiel.

Warum aber wenden sich so wenige ganz konkret den Umständen des eigenen Wohlbefindens zu? Eines der größten Hindernisse liegt aus meiner Sicht auf dieser körperlichen Ebene, bzw. deren psychischer Integration ins Selbstempfinden. Dort – wie auch überall sonst – gehen wir dem Schmerz aus dem Weg und suchen das Wohlgefühl. Ja, auf keiner anderen Ebene wirkt das so natürlich und selbstverständlich. Überall sonst machen wir womöglich Kompromisse und zahlen mit seelischen Schmerzen, aber physisch gesehen ist uns jedes Mittel Recht, dem Schmerz nicht begegnen zu müssen.

Das macht nicht nur jeder für sich allein so, dass wird auch von klein auf eingelernt bzw. anerzogen. Jedes Kind verbrennt sich mal die Finger, spürt den Schmerz und lernt: DA sollte ich besser nicht hinfassen! Soweit ist alles ganz natürlich, denn Schmerz hat eine informatorische Funktion und dient der Orientierung in der Körperwelt. Dann aber gerät das Kind schnell in die Fänge der „Niemals-Schmerzen“-Kultur: Überall soll es aufpassen, an seine Verletzlichkeit denken und sich entsprechend verhalten. Lustvolles muss unterlassen werden, um möglichen Gefahren auszuweichen. Um jedes trotzdem eingehandelte Wehwehchen wird ein großer Aufstand gemacht und bald schon gibt’s gegen alles eine Pille oder Spritze: Fieber, Husten, Halsweh, Kopfschmerzen, Zahnweh, Bauchweh, Menstruationsbeschwerden – später dann vielleicht auch gegen Nervosität, gegen Angst, Schlaffheit und schlechten Schlaf. Und dann vielleicht noch gegen Falten, Übergewicht und Erektionsprobleme. Es endet beim alten Menschen, der seine zehn bis zwölf verschiedenen Tabletten täglich braucht, nur um „eingestellt“ zu bleiben. Von außen eingestellt, das Wort trifft es gut!

Sich einstimmen

Können wir uns denn nicht selber auf das Leben einstellen? Von innen, statt von außen? Uns einfach weiter entlang an unseren Empfindungen von Schmerz und Lust in ihren tausend Gestalten orientieren, wenn wir durch die Ebenen unterwegs sind? Warum den Blick abwenden und „das Physische“ Experten überlassen, die aufgesucht werden, wenn etwas nicht zu stimmen scheint? Warum sich nicht gleich auf das einstimmen, was da so alles los ist, Angenehmes wie Unangenehmes?

Dies zu tun, bedeutet, den Schmerz anzusehen. Egal, wo er auftritt. Ihn immer wieder ansehen, sich versuchsweise anders verhalten und dann fragen: Ist er immer noch da? Hat er sich verändert? Oder einfach mal abwarten: Wie lange bleibt das so? Verändert sich mein Empfinden, je länger ich hinschaue?

Ich erinnere mich, als Kind eher ein forscherisches Interesse am Schmerz gehabt zu haben. Wieviel halte ich aus? Wann muss ich „Stopp!“ sagen? Es gab Kinderspiele der härteren Art, um das auszutesten. Das war spannend und aufregend, niemand hat geklagt oder sich beschwert, solange keine Erwachsenen anwesend waren. Auch das aufgeschürfte und schnell heilende Knie bosselten sich viele selber wieder auf, um mal zu fühlen, wie das so ist. Noch mit meinen ersten Liebespartnern probierte ich (außerhalb jeglichen erotischen Tuns) aus, wer den sich verstärkenden Biss des Anderen in die Handkante länger erträgt.

Doch bald schon verliert sich dieses ganz unbelastete Interesse in den Fängen der Niemals-Schmerzen-Kultur und an seine Stelle tritt Angst und Abwehr. Da Angst und Abwehr unangenehm sind, verschwindet im Zuge des Heranwachsens die Wahrnehmung der physischen Ebene mit all ihren schlecht oder gar nicht kontrollierbaren Empfindungen dann fast ganz. Nur wenn etwas mal richtig weh tut, wird es noch bemerkt und schnellstens beseitigt. Das erfolgsorientierte, rechnende Denken tritt an Stelle der Empfindungen und Gefühle, der Mensch ist vernünftig geworden, kann problemlos kratzende, schwitzige Kunststoff-Klamotten tragen und hat Versicherungen. Schließlich driften pro Tag zehn E-Mails herein, die den auf der Suche nach lustvollem Sex befindlichen Männern raten, Pillen und Pumpen einzusetzen, um „die richtige Größe“ zu erlangen. Als wäre es das!

Fühlend navigieren

Es ist Zeit, zum Ausgangspunkt zurückzukehren. Das Fühlen, nicht das Denken, ist der Wegweiser zu jenem MEHR, das wir im Innersten ersehnen, wenn wir uns fragen: „Wozu das alles?“ oder „Was soll ich tun?“. Um aber fühlend und spürend zu navigieren, muss ich mir das Fühlen erst wieder zurück erobern, in all seinen vielfältigen Formen. Dazu gehört zuvorderst die Wahrnehmung der physischen Ebene, inklusive ihrer groben Aspekte, also einschließlich Feind Nr.1: Schmerz.

Das Üben dieser umfassenden Wahrnehmung, das Nicht-mehr-Ausweichen vor dem, was vielleicht ängstigt, bringt vielfältige Einsichten: ich spüre und sehe, WIE ich mich krank oder unglücklich mache, in dieser oder jener Hinsicht. Es bleibt auch nicht auf der groben Ebene stehen, sondern entfaltet sich in alle Lebensbereiche, immer besser spüre ich, was gut tut und was nicht, was jetzt „das Richtige“ ist – aber nur, wenn ich auch auf die Stimme höre, den Weisungen folge, die „von innen“ kommen: zunächst vom Körper, doch bald schon von anderen Ebenen. Jede einzelne Seelenverbiegung erzeugt ihren ganz spezifischen „Schmerz“, den ich ganz genau bemerken und mich also fragen kann: Steht es dafür? Muss das sein? Will ich das wirklich? Oder verzichte ich nicht besser auf das Zu-Erreichende und entscheide mich gleich für „weiter wohl fühlen“, hier und jetzt?

Mit diesem Wohl-Fühlen ist NICHT das Wohlgefühl als „Wellness“ gemeint, sondern das „im Einklang“ sein. Sich nicht passend machen wollen, wo es nicht von selber passt, sondern darauf lauschen, was ist, und tun, was anliegt. Was getan werden will. Zur Not auch ohne es mittels logischen Denkens begründen und kommunizieren zu können – also tatsächlich im Vertrauen auf etwas Unsagbares. Sich dem immer weniger denkend, abwehrend und absichernd entgegen zu stellen, sondern mehr und mehr darauf zu „hören“, macht das ganze Leben wieder zu dem faszinierenden Abenteuer, das es – eigentlich – immer schon war.

Mein Yoga-Lehrer, den ich nach zwölf Jahren im Dezember letzten Jahres während einer übungsstunde Türen knallend verlassen habe, sprach manchmal vom „Hören des tonlosen Tons“, während wir da lagen und auf den Atem achten sollten. Ich lauschte ins Nichts und hörte leider auch nichts, allenfalls ein Rauschen, wenn der Atem durch die Teer-verengten Brustbereiche strich.

Ob er DAS gemeint hat? Das, auf das zu hören, einzig glücklich macht?

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Claudia am 03. April 2003 — 1 Kommentar

Vater UND Mutter ehren

Viele Lehren hat mir mein Vater mit auf den Weg gegeben. Zumindest hat er sich nach Kräften bemüht, mir etwas aus seiner Lebenserfahrung zu vermitteln, manchmal regelrecht einzutrichtern. Aus dem Stand fallen mir jede Menge Sprüche ein:

  • Kind, denk an deine Rente!
  • Schlag doch zurück, wenn du angegriffen wirst!
  • Männer sind Schweine und wollen immer nur das eine.
  • Vergiss den Gummi nicht!
  • Geld regiert die Welt.
  • Wer sich für andere engagiert, wird ausgenutzt.
  • Lass dir nichts gefallen!
  • Beschwer dich an der richtigen Stelle!
  • Um sein Recht muss man kämpfen!
  • Nichts ist umsonst!

„Niemals Aktien! Wenn, dann nur festverzinsliche Wertpapiere“, sagte er noch auf dem Sterbebett, als ich mir gerade überlegte, vielleicht doch ein paar Internet-Werte zu erstehen.

Bald war ich froh, es nicht getan zu haben. Nicht, weil ER das gesagt hatte, sondern weil mir Geldspekulationen zutiefst fremd sind. Diese Fremdheit ist allerdings auch schon eine Folge seiner „Geld-regiert-die-Welt“-Indoktrination. Diese, wie auch die meisten seiner anderen „Weisheiten“, hab‘ ich nie geglaubt, sondern immer auf Verdacht erst mal das Gegenteil für wahr gehalten. So ein Idiot konnte einfach nicht recht haben: Als cholerischer Quartalsalkoholiker war er in meiner Kindheit und Jugend der Terrorist der Familie, der Hass-Gegner schlechthin. Mein erstes Ziel im Leben war, aus seinem Machtbereich endlich zu entkommen und ich setzte es sofort um, sobald die Gesetzeslage es gestattete.

Wie sehr ich da bereits „Vatertochter“ war, wie weit mein Innenleben und meine Haltung zur Welt durch ihn, bzw. den Widerstand gegen ihn geformt worden war, realisierte ich erst viel später. Aber das ist eine andere Geschichte. Entgegen allen Erwartungen eine mit Happy End: Noch bevor er starb, liebte ich ihn. In aller Freiheit. Und half ihm per Telefon, seine „Beschwerden an den Bundeskanzler“ auf seiner Festplatte wieder zu finden, von deren Dasein und Struktur er keinerlei Vorstellung hatte.

Ohne viele Worte

Meine Mutter sagte nicht viel. Wie auch, ER redete ja immer und erzählte, wie es in der Welt zugeht und was man davon zu halten hat. Sie tat ihr bestes, um uns drei Schwestern vor seinen hässlichsten Seiten zu beschützen. Allerdings war ihre Macht beschränkt: War er besoffen genug, dass es ihm egal war, was sie von ihm dachte, weckte er uns nachts um drei auf, wollte uns mit halben Brathähnchen beglücken und gemeinsam noch einen drauf machen. Er wurde dann stinksauer, wenn das nicht so abging, wie er es sich wünschte – und wir zitterten vor Angst angesichts seiner Unberechenbarkeit. Auch, wenn er uns nicht aus den Betten holte, sondern nur durch die Wohnung polterte, laut singend: „Auf auf Matrosen, streckt eure müden Leiber! Die ganze Pier steht voller nackter Weiber!“, grübelten wir nicht über den Sinn dieses uns unverständlichen Liedes, sondern hofften nur inständig, er möge nicht ins Kinderzimmer kommen, nicht schon wieder.

Meine Mutter sagte also nicht viel. Ich liebte sie (und liebe sie heute noch), ohne Frage. Sie wirkte nicht durch Worte, sondern durch ihr Handeln, ihr Da-Sein und So-Sein. „Als Frau“ konnte sie mir allerdings kein Vorbild sein: So einen Kotzbrocken wie meinen Vater jahrzehntelang ertragen? Ich konnte es nicht verstehen und war mir ganz sicher, so etwas nie, nie, niemals im Leben auch nur ansatzweise in Betracht zu ziehen. Neben der Liebe war da also ein Vorwurf, einer der mir als „Vorwurf“ gar nicht bewusst wurde. Dass es damals in den 50ern und frühen 60gern noch keine „allein erziehenden Mütter“ gab und sie einfach keine Alternative für sich und uns sah, konnte ich als Kind nicht begreifen. Ich sah nur ihre Machtlosigkeit, manchmal auch ihre Verachtung, wenn ER gerade mal wieder „neben dran“ war. Eine schweigende Verachtung ohne für mich sichtbare Konsequenzen. Meine Welt war nicht in Ordnung.

Vaters Sprüche, selbst wenn ich sie mir mal anhörte, waren leider wenig hilfreich in Situationen, in denen es mir richtig dreckig ging. Die Angst vor der Kinderbande im Hof, später die Schwierigkeiten, in den pubertären Peer-Groups akzeptiert zu werden, bei alledem konnte er mir mit seinen Wehr-dich-doch-Sprüchen nicht helfen, ja, er machte es noch schlimmer, denn ich fühlte mich einmal mehr als unfähige Versagerin: ängstlich, schwach, und doch so begierig, dazu zu gehören.

Einsamkeit

Es gab niemanden, an dem ich mich wirklich orientieren konnte, von dem ich hätte lernen können, wie man sich in der Welt zu Recht findet. Wie ich es anstellen muss, dass „die Anderen“ mich mögen; wie ich mich verhalten sollte, wenn mein Vater besoffen auf mich einredete oder ausrastete, weil ich eine Mathe-Aufgabe nicht erklären konnte (ich war GUT in der Schule, aber für ihn reichte es nie). Was tun, wenn mich die Jungs auf dem Hof in ein Gebüsch schleppten und abtasteten? Was darüber denken? Da ich mit niemandem wirklich reden konnte, versuchte ich es bereitwillig sogar mit „Gott“, der mir als Ansprechpartner im Kommunionsunterricht anempfohlen wurde – ohne Erfolg. Gott antwortete nicht, obwohl ich ihn dringend gebraucht hätte, also gab ich den Glauben auf.

Meine einzige Zuflucht waren Bücher. Über Pipi Langstrumpf, griechische Heldensagen, nordische Märchen, englische Krimis, Karl Mai und andere Abenteuerschinken: ich verschlang die halbe Bibliothek und niemand redete mir rein, was ich da lesen durfte und was nicht. Ich orientierte mich an der „kleinen Dot“ und an Winnetou, liebte Tierbücher über alles, und in der beginnenden Pubertät las ich Geschichten von Mädchen, die nicht ausgehen und sich nicht schminken durften – genau wie ich.

So einsam wie als Kind war ich später niemals mehr. Im nachhinein kann ich sehen, dass mich das in gewisser Weise stark machte: Wenn man das Schlimmste schon hinter sich hat, ist man nicht mehr so sehr erpressbar. Auch, dass mein erwachendes Denkvermögen letztlich ganz allein auf sich selbst gestellt blieb, weil die sich üblicherweise anbietenden Erziehergestalten (Eltern, Großeltern, Lehrer, Pfarrer, „Freunde“) mir kein Vertrauen einflößten oder machtlos waren, hat mich ganz gut auf eine Welt vorbereitet, in der nichts sicher ist.

Wenn ich all das so erzähle, wundert es mich selbst, dass dieser Kindheit ein spannendes Leben folgte, in dem ich mich immer besser zu Recht fand. In dem ich es schaffte, mich niemals lange zu verbiegen, weder in einer Beziehung, noch in einer Arbeit, noch zugunsten einer Religion, einer politischen oder spirituellen Lehre. Natürlich heiratete ich nicht – kein Wunder bei dem Beispiel! Ich probierte alles aus, worauf ich Lust hatte, und ich ging, wenn es nur noch Leiden und Elend war. Klar, ich hatte auch meine selbst geschaffenen Sackgassen, in denen ich recht lange Zeit brauchte, um endlich die Kurve zu kriegen – aber das war schon zu einer Zeit, wo man für sein Gesicht selbst verantwortlich ist.

Wechsel der Blickrichtung

Eine positive Kraft trägt mich durch alle Tiefen. Niemand kann mich „im Kern“ wirklich beschädigen. Woher kommt das? Wem danke ich das? Ich will jetzt nicht darauf hinaus, dass es diesen „Kern“ gar nicht gibt, dass da „nichts“ ist, wenn man die Zwiebel des „Ich“ immer weiter schält und immer neu erkennt: auch diese Schale bin nicht ICH. Diese Erkenntnis selbst ist ja, psychologisch gesehen, auch erstmal eine „Tiefe“. Das verkraften zu können, muss jemand angelegt haben – wie komme ich dazu? Warum fühle ich „innen“ keine Angst?

Was die Welt da „draußen“ angeht, hat mein Vater mich geformt, im Schlechten wie im Guten – ob ich nun seine Lehren ablehnte oder annahm. Und je besser ich mich in der Welt (trotzdem, gegen ihn, anders!) zu Recht fand, desto friedlicher wurde unser Verhältnis – bis ich sehen konnte, was ihm in seinem Leben durch sein So-und-nicht-anders-Sein alles entgangen war. Geld regiert die Welt? Er war lebenslänglich unglücklich, nicht genug zu haben, raffte sich andrerseits aber auch niemals auf, seinen ÖÖffentlichen-Dienst-Job an den Nagel zu hängen, um welches zu verdienen. BAT 4b, der Karrieregipfel. Man darf niemandem vertrauen? Er hatte keine wirklichen Freunde. Ebenso verhielt es sich mit seinen anderen Weisheiten: er zementierte damit sein eigenes Unglück, seine Mangelsituationen, seine Unzufriedenheit. Auf einmal spürte ich Mitgefühl, freute mich, dass es ihm in seinen letzten Jahren nicht schlecht ging, als er mit dem Wohnmobil und seiner zweiten und dann dritten Frau durch Europa kurvte. Ja, auf einmal konnte ich auch sehen, was ich alles von ihm gelernt hatte – weder waren es nur Worte, noch war alles nur Schrott. Das „Lass dir nichts gefallen, beschwer dich an der richtigen Stelle! Um sein Recht muss man kämpfen!“ hab ich auf meine Weise schon gebrauchen können – und manches mehr.

All das ist jedoch nur „außen“. Um mit dem Außen konstruktiv umzugehen, muss etwas von innen dazu kommen. Etwas, das bleibt, wenn die ganze Welt in 1000 Stücke zerspringt. Es ist mir unmöglich, dafür Worte zu finden, ich glaube, es ist nicht „sagbar“, man kann es nur fühlen.

Um es fühlen zu können, braucht es aber einen Hinweis. Jemanden, der die Aufmerksamkeit in die richtige Richtung lenkt: nach innen. Und das möglichst nicht erst mit 40 in der Selbsterfahrungsgruppe oder beim Meditationskurs, sondern früher. Sehr viel früher.

Spät, aber nicht zu spät

Erst jetzt kann die Vatertochter, die ich immer gewesen bin, sehen, dass DAS von meiner Mutter kommt. Sie, die Machtlose, hat nicht viel gesagt. Sie war liebevolle Zuflucht, konnte aber „da draußen“ nicht helfen. Und doch: ETWAS hat sie gesagt, immer, wenn es mir dreckig ging, wenn ich Angst vor den Anderen hatte und wenn ich nicht wusste, was tun: „Kümmer‘ dich nicht um die Anderen, mach, was du für richtig hältst!“. Egal, um was es ging, niemals hat sie versucht, mir etwas vorzugeben, sondern mich immer darauf hingewiesen, ich solle „nach mir selber gehen“. Für sie war es kein Problem, dass ich das Jura-Studium abbrach – vielleicht machte sie sich Sorgen, sicher. Aber nie hätte sie mir gesagt, es sei falsch! Ich war ja „nach mir selber“ gegangen.

So komme ich erst spät dazu, meiner Mutter zu danken. Sie hat darauf verzichtet, mir konkrete Vorstellungen über das richtige Leben einzupflanzen und statt dessen dem „ich selbst“ eine Chance gegeben. Hat so einen Samen in meine Kinderseele gesät für die Zeit, wenn „die Welt“ und die Kämpfe da draußen nicht mehr das spannendste Thema sind. Und mir doch auch Vertrauen vermittelt, in diesen Kämpfen nicht zu verzweifeln.

Das ist keine Leistung, mag man vielleicht denken. SO hat sie vermutlich nicht groß darüber nachgedacht, es war kein wohl kalkuliertes „Erziehungshandeln“. Sie war einfach selber so, sie kannte es nicht anders.

So ist das Vater-Denken: Nur bewusste Leistung zählt, für das bloße Dasein und So-Sein darf man keine Liebe erwarten. Dieses Denken treibt die Liebe aus der Welt aus und ersetzt sie durch Bonuspunkte.

Ich bin froh, dass ich es heute besser weiß. Dass ich auch anders fühlen kann. Eben dank meiner Mutter, der ich diesen Beitrag aus ganzem Herzen widme.

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Claudia am 03. April 2003 — Kommentare deaktiviert für Allein Sein

Allein Sein

Zwei Monate sind es jetzt schon seit dem Umzug an den Rudolfplatz. Zwei Monate alleine wohnen, zum ersten Mal seit vielen vielen Jahren. Ich wusste länger schon, dass es Zeit ist, aufzubrechen, doch als es im Sommer und Herbst 2002 angesichts völlig unterschiedlicher Wohn- und Lebenswünsche dann konkret wurde, hatte ich schon ein bisschen Bammel: Würde ich mich nicht einsam fühlen, wenn diese beiläufige Zweisamkeit Zimmer an Zimmer, das gemütliche Kochen und Essen, das Kaffee-Trinken, Fernsehen, Plaudern nicht mehr die Grundstruktur meines Real Life ausmachen würde? Würde ich vielleicht verwahrlosen, wenn „der Andere“ nicht mehr durch sein bloßes Dasein eine disziplinierende Wirkung ausübte?

Kein Tag in dieser Wohnung hat diese Ängste bestätigt. Es war richtig, mich endlich einmal in einen eigenen Raum zu begeben, wo es nur ganz allein mir selber überlassen ist, was ich darin anfange. Die Zweisamkeit, die hinter mir liegt, war voller gegenseitiger Achtung, Wertschätzung und liebevoller Rücksichtnahme. Nichts, wovor man mit Grauen wegrennt, im Gegenteil! Das Allein-Sein jetzt ist etwas gänzlich anderes, ermöglicht eine völlig neue Lebensweise: Keine Routinen, keine vermuteten Erwartungen, niemand ist da, der aufgrund langjähriger Erfahrung ganz genau weiß, WER ich bin. Also kann ich die Tatsache wieder zur Kenntnis nehmen, dass ICH das NICHT weiß. Und das ist wunderbar! In jedem Moment bemerke ich – wenn ich will – die offene Weite: Was tu ich jetzt? Welchem Impuls folge ich? Welches Dasein wähle ich als Nächstes, welche Rollen und Masken setze ich dazu auf?

Freiheit. Ich spüre große Freiheit. Ganz anders, als etwa Mitte zwanzig, als ich auch schon mal alleine wohnte, doch eigentlich nie allein sein konnte. Meine Wohnung war mir damals nur Absteige, Stauraum, Postadresse – und manchmal liebevoll geschmückte Empfangshalle für einen netten Gast. Mit mir alleine konnte ich nichts anfangen, ja, ich fühlte mich unruhig und getrieben. Es trieb mich zu Gleichaltrigen, man hing gemeinsam in Wohnungen und Kneipen herum, redete viel, hatte zu allem eine Meinung, diskutierte, bis die Köpfe rauchten – dazwischen fanden und zerstritten sich Paare, inszenierten Beziehungsstress, also noch mehr Gesprächsstoff – und dazu Drogen in 1000 Gestalten.

Wir wussten nichts mit uns anzufangen und taten alles, um das nicht zu spüren. Sich ständig unter Leuten aufzuhalten gab uns den Anschein von Halt, Sicherheit, „Jemand-Sein“. „Spontane“ Aktionen wie das nächtlich beschlossene „Komm, wir fahren jetzt nach Paris“ vermittelte den Anschein von Freiheit. Doch das Gefühl der Getriebenheit und Unruhe blieb, auch, wenn man dann in Paris angekommen war.

Heute stelle ich entzückt fest: Nur das Ankommen bei sich selbst ist ein wirkliches Ankommen. Kein naher oder ferner Ort, kein noch so liebevoller anderer Mensch, kein tolles Gedankengebäude und keine „Leistung in der Welt“ kann das Loch stopfen, die Leere füllen, die Getriebenheit beenden, die Suche stoppen. Nur eine Umwendung der Blickrichtung ist nötig: nach „innen“, statt nach „außen“ – die Anführungszeichen geben einen Hinweis darauf, was für eine riesige Abenteuerlandschaft des Unerforschlichen sich hier auftut.

Und wie im Märchen wandert man ganz alleine, trifft Zauberer, Feen, freundliche und feindliche Geister und Gottheiten. Lernt – wie im Märchen – die Macht kennen, die darin liegt, dem Unbekannten Namen zu geben. Oder – und das ist fast noch spannender in meinem Alter – die bekannten Namen von allem und jedem wieder weg zu nehmen. Die Zwiebel des „Life as we know it“ zu schälen, in der Ahnung, dass dieses Beginnen in ein grundstürzendes „Nichts“ führt, vor dem man unsäglich erschrecken würde, wenn es so weit ist. Das Nichts, aus dem die Fülle kommt, die Fülle all der Möglichkeiten, die wir durch unser Denken und Sagen, Tun und Nicht-Tun Wirklichkeit werden lassen.

In diesem Metier gibt es zwei Arten von Gurus, zwischen denen ich lange hin- und hergerissen war: Die einen weisen auf das Nichts hin und geben Tipps, die Zwiebel zu schälen, die anderen auf die Fülle der Möglichkeiten, die unsere Freiheit ausmachen – die Möglichkeit, etwas anderes zu wählen als das gemütliche Elend, in dem man so gerne klagend verharrt.

Damit bin ich durch. Es gibt da keine wahrere Wahrheit, kein richtigeres Verhalten, keine wirklichere Wirklichkeit. Es liegt an meiner Tagesform und Laune, meinen Impulsen im Augenblick, was mich gerade mehr fasziniert: das „schälen“ oder das „kreieren“.

Nichts und niemand auf der Welt hindert mich daran, das eine zu tun und das Andere nicht zu lassen.

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Claudia am 29. März 2003 — Kommentare deaktiviert für Verstummen oder anecken

Verstummen oder anecken

Ilona Duerkop schreibt in ihrem *Kriegstagebuch davon, wie es sie erschüttert, die Menschen zu erleben, die in den Internet-Cafes sitzen und ihre Urlaubsberichte nach Hause mailen – als wäre nichts, als gehe alles seinen normalen Gang.

So ist Krieg. Jede Lebensäußerung wird zum Statement, ganz egal, ob derjenige davon weiß oder es so meint. Wenn die Zugriffszahlen in Kriegszeiten steigen, dann weiß ich: jetzt wollen einige wissen, was Claudia DAZU sagt. Und schon ist sie da, die Schreibblockade: Muss ich jetzt? Soll ich? Und was? Was ganz besonders „Ausgewogenes“, das in dieser emotional aufgeladenen Situation gewiss nicht aneckt?

Solange es so ist, schreib ich dann lieber gar nicht. Bis es von selber kommt, bis ich nach etlichen Tagen der inneren Verarbeitung einen Beitrag zum Krieg schreiben kann, weil er jetzt eben da ist und überall wahrnehmbar. Eindrücke, die zum Ausdruck drängen, einschließlich der durch sie angestoßenen Gedanken – mehr nicht.

Und dann? Ich surfe zur Tagesschau: Wieder 50 Menschen auf einem Marktplatz zerbombt – kann ich da noch davon schreiben, wie ich 7 Kilo abgenommen habe? Über Konsum-Hemmungen, Allein-Leben oder Rauchen? Absurd! Alle Themen, die keinen Kriegsbezug haben, sind tot.

So greift das Verstummen um sich. In einigen Mailinglisten ist die Frequenz der Beiträge schon gegen Null gesunken. Dafür wächst die Zahl der Webseiten zum Krieg: Infos, Links, sorgfältig ausformulierte politische Stellungnahmen. Und Gedichte, Kriegsprosa. Die Personen verschwinden hinter dem Krieg, haben Rüstungen angelegt und zeigen metallisch-glänzende Oberflächen – oder tragen Trauergewänder, durch die kein Licht mehr dringt.

Ich kann das nicht. Will es auch nicht und halte deshalb möglichst Abstand zu den Medien. Die Menschen, die ich in meinem Alltag treffe – hier im „Real Life“ – sind zum Glück ganz ähnlich verfasst: der Krieg ist durchaus Thema, aber nicht das einzige. Auf meine Frage, was es Neues gebe von der Front, berichtete mir ein alter Freund gestern von seinen Problemen mit gewissen Auftraggebern. Ich war ein wenig irritiert – es zeigte mir aber beispielhaft, welch anderes Bild von „den Anderen“ die geschriebene Netzkommunikation vermittelt, verglichen zu den Alltagsbegegnungen offline.

Heute Abend treff‘ ich ein paar Leute aus der seit 1996 bestehenden Netzliteratur-Szene. In einem wunderschönen Thai-Restaurant in Berlin Mitte, wo sich „essbare Skulpturen“ auf den Tellern finden sollen, werden wir vermutlich über den Krieg und seine Wahrnehmung über das Netz sprechen – aber auch von neuen Projekten, von den Technologien, die wir dafür brauchen und von den Schwierigkeiten, im Mainstream der 0815-Portale und Shops nicht unterzugehen. Ich freu mich drauf!

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Claudia am 27. März 2003 — Kommentare deaktiviert für Im Krieg

Im Krieg

Eher zufällig fällt der IRAK-Krieg in die Zeit meiner fast totalen Medienabstinenz. Das Radio, dass ich mir auf dem Flohmarkt dann doch noch gekauft hatte, hat beim zweiten Anschalten den Geist aufgegeben. Der Minifernseher, den ich schon vor einem Monat mehr aus Jux mitgehen ließ, war ebenfalls ein Flop. Die tägliche Berliner Zeitung schaffe ich nicht jeden Tag. Ungelesen stapeln sie sich vor der Tür. Um nicht völlig auf dem Schlauch zu stehen, surfe ich einmal täglich zur Tagesschau, frag auch mal einen Freund, was es Neues gibt „von der Front“.

Soviel Neues ist da nicht. Mir entgeht nichts Wichtiges, mir entgeht nur das Eintauchen in die kollektiven Gefühlsozeane, die sich durch die fortlaufende Kriegsberichterstattung jedem mitteilen, der sich dem aussetzt.

Um die Ecke hängt ein Transparent von einem Balkon, auf dem steht: „Fickt mal richtig, damit Ihr nicht so zornig/deprimiert seid, dass Ihr morden müsst!“. Erinnert irgendwie an: „Make love, not war!“. (Möge die Leserin und der Leser entscheiden, welche Generation die besseren Slogans für sich verbuchen kann.).

Erschüttert…

Ich erlebe Mailinglisten, in denen ist die fortdauernde Klage über den Krieg dominierender Inhalt geworden. Viele zeigen große Wut, Trauer und Betroffenheit, sind sich einig gegen den Krieg (die Frage nach den Saddam-Opfern ist mancherorts schon „not-PC“, von meinem Gefühl her)…

Es geht ihnen schlecht, sie können aber auch nichts machen. Nützt es, tagelang vor der Glotze zu stehen und erschüttert zu sein?

Was fehlt – vielleicht kommt es später – ist eine Rückschau auf die ganze Geschichte: Bis nach dem 11. September, als die USA langsam anfingen, sich auf IRAK einzuschießen, hat niemanden groß interessiert, was dieser Saddam da macht. Auch die Europäer nicht.

Es genügte den Funktionären und Politikern, Sanktionen zu verhängen, die – und das hätte man weit früher thematisieren und ändern (!) müssen, nur das Volk trafen und die Saddam-Clique noch mächtiger machten. Hätte man den Irak wirtschaftlich nicht bis zur Perspektivlosigkeit ausgegrenzt, hätte ein Mittelstand sich entwickeln und stärker werden können, der letztlich zu einem Regimewechsel in der Lage gewesen wäre – meinetwegen auch mit Unterstützung von außen (aber unter eigener Regie).

So dagegen hat das kontraproduktive Vorgehen den Boden bereitet, auf dem die USA dann zu agieren begannen. (Die an der schwächsten Stelle ein Bein auf den Boden bekommen wollen, dort, wo der wesentlich von Saudi Arabien finanzierte Terrorismus herkommt, damit – neben dessen Eindämmung – der Zugang zu den ÖÖlquellen erhalten bleibt)

Was ich auch nicht ganz „stimmig“ finde ist der Hinweis darauf, dass man mit verlängerten Inspektoren-Aktivitäten noch mehr hätte erreichen können. Das kann gut sein, aber wer hat sich denn freiwillig gemeldet und bereit erklärt, den Aufbau und „verlängerten Verbleib“ der Droh-Streitmacht
MITZUBEZAHLEN. die es überhaupt erst ermöglichte, dass Saddam Zugeständnisse machte?

Womit ich keinesfalls die USA rechtfertigen will. Ich meine nur, alle Seiten haben Dreck am Stecken. Da gäbe es für die Zukunft manches zu lernen und zu ändern. Wenn man es ernst meint. Wenn man wirklich eine andere Weltordnung will als diejenige, die gerade aus Amerika aufgeherrscht wird.

Draußen auf dem Platz vor meinem Haus stehen Kreuze für die Toten des Irak-Kriegs – ja, das finde ich gut! Emotional aber stehe ich dem nicht anders gegenüber als all den anderen Toten: aus dem Sudan,
aus Sierra Leone, Tschetschenien und all den vergessenen Kriegen, die Jahrzehnte dauern und tausende Tote fordern, und kein Schwein interessiert sich.

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