Thema: Zeitgeist

Claudia am 23. April 2002 — Kommentare deaktiviert für Nachhaltiger Verzicht – wenn Verbraucher streiken

Nachhaltiger Verzicht – wenn Verbraucher streiken

Wenn ich so durch die Berliner Straßen und Parks laufe, bemerke ich normalerweise jedes Blümelein, das den Asphaltdschungel mit seiner Anwesenheit beehrt und freue mich darüber. Eines ist mir auf meinen Wegen durch reale und virtuelle Welten allerdings lange nicht begegnet: das „zarte Pflänzchen des Aufschwungs“, von dem die Politiker so gerne reden. Es muss sehr versteckt vorkommen, vielleicht kennen nur Eingeweihte seine Standorte, Deutschland jedenfalls scheint im Moment nicht dazu zu gehören.

Der Handel vermeldet bis zu 20% Umsatzminus im ersten Quartal, die Entlassungen und Insolvenzen gehen munter weiter, der SPIEGEL fasst zusammen: Die Leute kaufen nur noch das Nötigste und auch beim Nötigsten sparen sie, wo sie können. ALDI, LIDL & Co verzeichnen zweistellige Zuwachsraten.

Auch bei mir ist schon einige Zeit ins Land gegangen, seit ich mir mal etwas kaufte, das nicht unbedingt sein muss. Mein Luxus ist das Fitness-Center und gelegentlich die Sauna. Mir fehlt nichts, ich habe alles, was ich brauche, sogar ein Handy, das ich eigentlich nicht haben wollte, aber schließlich geschenkt bekam. Wie soll so eine Wirtschaft florieren, die auf WACHSTUM angewiesen ist? Sogar mein PC, den ich bisher alle 2,5 Jahre durch einen neuen ersetzte, tut es noch wunderbar. Noch immer erfüllt er meine Bedürfnisse: kein Wunsch nach „mehr Speicher“ oder mehr Geschwindigkeit kommt auf, alles funktioniert blendend – und wer denkt denn noch im Traum daran, einfach mal ein neues „Winword“ zu kaufen? Ein komischer Gedanke aus alten Zeiten, als man noch bei jeder Version glaubte, mit der neuen MEHR machen zu können, im Ergebnis aber auch ein Betriebssystemupdate und einen frischen Computer brauchte. Um dann – im besten Fall – genau das tun zu können, was vorher schon funktionierte! Ha, da haben wir dazu gelernt, zum Elend der Softwareschmieden.

Nun warten alle auf UMTS, auf dass der Austausch sämtlicher Handys und neue Dienste den widerborstigen „Verbraucher“ aus dem Dornröschenschlaf holen möge, die Kids hoffentlich einen Boom anstoßen wie mit SMS – bangen, hoffen, zittern – ob die Hoffnungen berechtigt sind? Eine neue Euphorie, ein Hype wird gebraucht, der nicht nur einer Branche ein kurzes Hoch beschert, sondern viele mitzieht. Ich bin skeptisch, ob UMTS das zaubern kann.

…und sie können es doch!

Die Verbraucher tun derzeit unaufgefordert etwas, was sie nach Einschätzungen der Umwelt-Marketing-Leute überhaupt nicht mögen, wovon sie nicht einmal hören wollen: Sie üben Verzicht. Wer hätte das gedacht!

„Verzicht“ ist lange schon das Unwort der Öko-Branche und der engagierten Umweltschützer. Energieeffizienz, Ressourcenschonung, sinnvolle Wiederverwertung, Qualität und Genuß, technische Innovation, nachhaltiges Wirtschaften – viele neue Begriffe sind in diesem Kontext entstanden, alte bekamen eine neue Bedeutung. „Verzicht“ aber darf man nicht in den Mund nehmen, wenn man vom Volk ernst genommen werden will. Das ist das Credo, das man als Umwelt-Aktivist schnell zu lernen hat, will man nicht als sektiererischer Radikaler im Nichts enden.

Mitte der 90ger konnte ich das hautnah miterleben, als ich zwei Jahre in Sachen Klimaschutz zugange war. Mit arbeitslosen Akademikern im Rahmen von ABM Energiesparkampagnen entwickeln und durchführen – das war die anspruchsvolle Idee, die damals auch umgesetzt werden konnte, weil sich noch genug Geld in den „öffentlichen Händen“ befand. Meine Begeisterung war groß, schnell wurde ich Projektleiterin, kam raus aus ABM, rein in einen tollen BAT 2A-Job – alles wunderbar, und sogar eine Arbeit mit Sinn!

Doch schnell landete ich auf dem Boden der Realität. Da unsere Kampagnen auf Verhaltensänderungen zielten, wurden wir in der „Energie-Szene“ kaum ernst genommen. Dort hatten die Leute das Sagen, die auf „technisches Verunmöglichen von Fehlverhalten“ setzten. Niemand will darauf achten, beim Verlassen des Raumes die Fenster zu schließen, also braucht es Fenster, die sich AUTOMATISCH öffnen und schließen, besser noch eine zentral gesteuerte Klimaanlage, energiesparend, hocheffizient! Schon gar nicht mag der Büromensch Verantwortung für die Beleuchtung und das Regeln der Heizung übernehmen – lasst uns das alles automatisieren! Der Mensch ist unfähig und unwillig, sein Verhalten zu ändern, er braucht ANREIZE und neue Geräte, das spart berechenbar Energie, angeblich auch Geld, belebt nebenbei den Markt und alle sind glücklich.

Das Schlimme: Sie hatten im Grunde recht! Unsere RauspfeilKampagnen motivierten tatsächlich ganze Hausgemeinschaften zu Verhaltensänderungen, jede Menge Energie wurde gespart – aber nur so lange wir da waren und als eine Art „Umwelt-Animateure“ die Motivation aufrecht erhielten. Danach sank das Verhalten zurück in die übliche Ignoranz. Ich begann, einen neuen Menschenhass zu entwickeln, den berufsmäßigen Zynismus der Aktivisten: Verantwortungslose Idioten überall, die nichts anderes kennen, als ihre Fettlebe zu genießen, koste es, was es wolle. Ekelhaft!

Alles Lüge

Wenn so ein Gefühl das Herz vereinnahmt, macht keine Arbeit mehr Spaß. Viele arrangieren sich, machen einfach so weiter und beziehen die eigene Motivation zunehmend aus den persönlichen Benefits, die solche Jobs erlauben. Vielleicht hätte ich das auch gekonnt, wenn wenigstens die Lehre von der technischen Innovation, vom Klimaschutz durch Energieeffizienz, gestimmt hätte. Leider ist sie falsch, eine geschickte Lüge, an der viele zum Zweck der Selbsttäuschung festhalten.

Wenn ich mir nämlich ein neues Gerät zulege, sagen wir mal einen energieeffizienter produzierten PC, dann verbraucht die Herstellung dieses PC trotzdem ein Vielfaches der Energie, die er – verglichen mit dem Weiterlaufen des alten – in seinem ganzen „Leben“ einsparen kann. Und so ist es mit den meisten Dingen: energiesparend und umweltschützend ist das „Nutzen bis es nicht mehr geht“, nicht das ständige Erneuern auf die letzte – meinetwegen hoch energieeffiziente – Version. Und noch jeder Fortschritt in Sachen Energieverbrauch und Schadstoff-Ausstoß bei Autos wurde „aufgezehrt“ durch die VERMEHRUNG des Autoverkehrs, mehr Zweitwagen, mehr Individual-Mobilität, mehr Brummis auf den Straßen.

Jeder wusste das. In kleinen nicht-offiziellen Gruppen kam das auch durchaus zur Sprache: Allein der VERZICHT (auf Waren, Bequemlichkeit und Mobilität) bringt’s. Alles andere ist nicht wirklich problemlösend, höchstens vermindert es ein klein wenig die Geschwindigkeit der Verschlimmerungen. Und Verzicht – Pech für die Natur und unser aller zukünftiges Überleben – ist dem Menschen nun mal nicht beizubringen!

Was ICH kann, können alle – und dann?

In dieser „Meinungslage“ besann ich mich auf mich selbst: Was ICH zustande bringe, können auch andere leisten, egal was „man“ über „die Menschen“ denkt. Ich drückte meine Stromrechnung um 40 Prozent, schaltete die Geräte immer brav aus, kaufte eine Plastikschüssel als Spülschüssel, um nicht immer das Waschbecken mit unnötig viel heißem Wasser vollaufen zu lassen. Ja, ich war ein guter Energiesparer, hoch effizient, solange ich mich mit diesem Job und seinen Themen & Problemen befasste…

Aber auch der aus dem eigenen Verhalten geschöpfte Glaube rettete nicht. Denn bald schon fragte ich mich und meine Mitarbeiter: Wie soll denn unsere Wirtschaft funktionieren, wenn alle so handelten, wie wir es empfehlen müssen, wenn wir die Wahrheit sagen? Verzicht üben, nichts Überflüssiges kaufen, nicht „just for fun“ verreisen und herumfahren? Wenn alle, die auf schöne, hochwertige Dinge stehen, sich einfach mal quer durch den Katalog bei Manufactum eindecken und dann ist Schluß? Diese Sachen sind verdammt „nachhaltig“ – und dann? Was geschieht, wenn die Menschen auf die Mode pfeifen und nicht mehr, nur weil ein Jahr vergangen ist, von spitzen Schuhen auf „quer abgehackt“ umsteigen?

Im BTX führte ich eine private Umfrage unter anonymen Chattern durch: Wieviel Geld könntest du sparen, wenn du nur das Notwendigste kaufen würdest? Die Antworten schwankten zwischen 10 und 90 Prozent, im Mittel waren es 50! Wow, die Hälfte des Konsums ist also reiner Luxus, potenzieller Schonraum für Klima, Natur und Umwelt. Aber: was wird dann aus uns?

Der Präsident der Europäischen Zentralbank schrieb mal in der ZEIT: „Die Deutschen sind Menschen, die das Licht ausschalten, wenn sie einen Raum verlassen. Sie drehen die Dusche ab und seifen sich ein, ohne dass heißes Wasser ins Leere läuft. Das macht sie symphatisch, aber all das bedeutet immer auch ein kleines Stück weniger Wachstum.“

Tja, so sieht’s aus. Meine Rede, mein Denken, mein engagiertestes Wünschen endet im Absurden. DIE GRÜNEN bekamen gestern in Sachsen-Anhalt gerade mal zwei Prozent der Stimmen. Im wirtschaftlichen Ödland mit der höchsten Arbeitslosigkeit denkt niemand über grüne Themen nach. Was aber geschieht, wenn Verzicht tatsächlich um sich greift, sei es auch aus anderen Gründen, das erleben wir gerade. Und kein Vordenker der „Nachhaltigkeit“ meldet sich zu Wort, stellt diese Bezüge her und sagt dazu was Intelligentes!

Was kein Grund zum Lästern ist, mir fällt ja auch nichts ein.

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Claudia am 15. April 2002 — Kommentare deaktiviert für Sumpfpegel steigend

Sumpfpegel steigend

Schon den ganzen März über gelingt es mir nicht, etwas über die Welt „da draußen“ zu schreiben. Wenn sich der Blick unvorsichtig vom Detail abwendet und diese seltsame Gesellschaft im Niedergang ins Auge fasst, wird mir so schlecht, dass der Schreibimpuls gleich wieder verschwindet. Es verschlägt mir die Sprache, stumm stiere ich auf den blinkenden Cursor und schließe dann das Schreibprogramm. Nicht lästern, nicht jammern, weder spöttische Kolumnen, noch tief entrüstete Tiraden, keine Relativierungen und Distanzierungen, uberhaupt kein Zuschütten fremder Gehirne mit noch mehr überflussigem Ballast – das ist die letzte Zärtlichkeit fürs große Ganze, die ich derzeit zustande bringe.

Manchmal kommt mir dann der verrückte Gedanke, mich völlig abzuwenden, nicht nur, was das Schreiben angeht. Warum interessiert mich das alles uberhaupt noch? Es zwingt mich ja keiner, die täglichen Widerlichkeiten fortlaufend zur Kenntnis zu nehmen. Die Ausbreitung des Sumpfes aus Korruption, Betrug und hemmungsloser Gier, die Ausplunderung sozialer Netze, die gut-gelaunte Beraubung wehrloser Noch-Steuerzahler – all dem kann ich sowieso nichts entgegen setzen – warum also uberhaupt noch hinsehen?

Manche meinen (und schreiben das sogar in ihre Webtagebücher), es gehe uns zu lange schon zu gut. Mal wieder ein Krieg wäre gar nicht so schlecht, er würde die Menschen aufwecken, das tagliche Lügen und Betrugen auf einen Schlag beenden – Wahrheit unter Stahlgewittern? Mir gruselt!

In Berlin ist das Hauen & Stechen im Kampf um die Zuwendungen der unter Schuldenbergen versinkenden öffentlichen Hände gerade besonders extrem. Jede Abendschau bringt die neuesten Sparbeschlüsse, dann die heftigen Proteste der Betroffenen, routiniert veranstaltete Demonstrationen, das tägliche „Nein“ der Gewerkschaften zu jeglichen Kurzungen; dazu immer neue kriminelle Aktivitäten von Ärzten, Apothekern und Sozialamtsmitarbeitern, die sich locker aus den Kassen und Steuertöpfen bedienen, in die wir alle einzahlen. Kontrolle findet nicht statt, wer sollte die denn ausüben, wie sollte man das finanzieren und organisieren???

Die Software ist schuld, sagt man im Sozialamt, die kontrolliert die Abbuchungen der Sachbearbeiter nicht, was will man da machen? Ärzte rechnen Unsummen über die Behandlung unzähliger „Patienten“ ab, die niemals bei ihnen in der Praxis waren, ganze Kartelle fliegen auf, die sich die „Kärtchen-Daten“ massenweise gegenseitig weiter reichen, die Staatsanwaltschaft ist überlastet und wird sowieso nur zufällig findig. und jeder Politiker und Funktionär, der in diesen Tagen einem Mikrofon zu nahe tritt, ist tief entrüstet! Böse Ärzte! Hey, ich erinnere mich noch sehr gut, dass das einzige Mittel, das diese Betrügereien effektiv verhindern könnte (nämlich den Patienten Rechnungen zu schreiben, wenn sie in der Praxis waren), zu Zeiten Andrea Fischers nicht beschlossen werden konnte: angeblich wurde man sich nicht einig, wer das Porto zahlt! auch aus der Speicherung verschriebener Medikamente auf der Mitgliedskarte ist nichts geworden, aus Datenschutzgründen, wie es heißt, doch faktisch wird hier einfach ein Freiraum zum unkontrollierten absahnen verteidigt – MIT Hilfe der Politiker.

Der Bäcker um die Ecke hat dicht gemacht, das Nichts breitet sich aus, zumindest in Gestalt leerer Laden. Gegenüber der Turkey wollte seinen Getränkestützpunkt verkaufen, muss aber nun doch weiter machen, denn er wird nicht aus dem 10-Jahresvertrag entlassen, wenn der Käufer nicht MEHR Miete zahlt – dabei berappt der arme schon seit Jahren einen total überteuerten „Nach-der-Wende-Preis“. Nicht weit davon sitzt eine nette Frau die letzten Monate ihres Jahresvertrags in ihrem Secondhand-Laden ab, sie hat ein Existenzgründerverfahren hinter sich, aber keine Kunden – leicht absehbar in dieser Nebenstraße ohne Laufpublikum, da muss ich kein professioneller Berater sein, um das zu bemerken. Keine Bankgesellschaft hilft solchen Menschen, sie können niemanden bestechen und haben das Pech, nicht von öffentlichen Mitteln, sondern vom Endverbraucher zu leben. Der macht sich rar zur Zeit, behält sein Geld bei sich, guckt Abendschau und beobachtet das „sozial ausgewogene Sparen“. Nicht sparen müssen die Glücklichen, an die die Manager der Bankgesellschaft diese tollen Immobilienfonds mit der für 23 Jahre zugesicherten Rendite verteilt haben – obwohl die Immobilien bereits leer standen. Berlin hat das jetzt für die nächsten 23 Jahre im Haushalt, na klar! und die Verantwortlichen beziehen noch über Jahre ihre Pensionen und Abfindungen in Millionenhöhe, da kann man auch nichts dran andern, Vertrag ist Vertrag.

Ach, jetzt hab‘ ich mich ja doch hinreißen lassen, im Sumpf zu wühlen! Zur Zärtlichkeit durch Schweigen hat es heute leider nicht gereicht. Gibt es vielleicht was Positives, so für den Schluss? Das mit öffentlichen Mitteln aufwendig restaurierte Altberliner Klohäuschen am Boxhagener Platz soll Ende März wieder eröffnet werden, lese ich im Wochenblatt. Ob man das glauben soll? Es war schon letztes Jahr fertig, doch nach wenigen Tagen ereignete sich ein Wasserrohrbruch, das „aus“ für die Anlage – wer sollte denn auch die Reparatur bezahlen???? Bis zum Wintereinbruch beschwerten sich die Anwohner fortlaufend über den Gestank – es ist ja nicht so, dass die Leute sich hier NICHT erleichtern, nur weil das Klohäuschen dicht hat! Nichts hat geholfen – aber JETZT, inmitten der schlimmsten Sparmaßnahmen, soll das „Café Achteck“ wieder öffnen? Vielleicht ein Zeichen des kommenden Aufschwungs…

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Claudia am 28. Februar 2002 — Kommentare deaktiviert für Menschen technisch verbessern?

Menschen technisch verbessern?

Die Gen-Debatte ärgert mich. Nicht weil da „Grenzen überschritten“ werden, die uns Gott, die Natur oder sonstwer auferlegt hätte, sondern wegen der verwirrten und verwirrenden Diskussionsweise. Man redet ohne Geschichte, bzw. benutzt die Geschichte allenfalls als Selbstbedienungsladen zur Untermauerung eigenen Wollens & Meinens. Ein gutes Beispiel ist die gerade wieder laufende Auseinandersetzung um die PID (=Selektieren der Embrionen vor dem Einpflanzen in die Gebärmutter). England hat es jetzt in einem Fall erlaubt und alle schreien AUWEIA! Weiter → (Menschen technisch verbessern?)

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Claudia am 27. Januar 2002 — Kommentare deaktiviert für Linke Lähmungen: die Älteren

Linke Lähmungen: die Älteren

Ein berühmter Schriftsteller und ein ebenso berühmter Soziologe im TV-Gespräch über das Elend der Welt. Beide über 60, gelten sie heute als „alt-linke Dinosaurier“, deren archaische Sicht der Dinge man nicht mehr ernst nehmen müsse – so zumindest der Tenor in der heutigen Medienlandschaft. Weiter → (Linke Lähmungen: die Älteren)

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Claudia am 21. Januar 2002 — Kommentare deaktiviert für Intelligenz im TV: Ein Comeback mit Stoiber und Sloterdijk

Intelligenz im TV: Ein Comeback mit Stoiber und Sloterdijk

Fernsehen ist meistens deprimierend. Wenn ich mal zu träge bin, gleich nach dem Tatort-Krimi abzuschalten oder es gar am frühen Abend wage, durch die Kanäle zu zappen, verdirbt mir die beiläufige Menschenverachtung der Programm-Macher punktgenau die Laune. Nichts gegen Spaß und Unterhaltung, ich lache gern, wenn es was zu lachen gibt. Dass aber fast alles wegzensiert wird, was auch nur von Ferne zum Nachdenken und Mitdenken anregt, weil es für den Zuschauer vorgeblich zu mühsam wäre, macht das Medium zum schier unerträglichen Nullmedium. Das mächtigste Kommunikationsmittel des 20sten Jahrhunderts ist zum einflussreichen Kasperltheater geworden, multipliziert primitivste Gefühle, verkleistert das Hirn mit katastrophischen Info-Bits und scheut komplexe Sachverhalte wie der Teufel das Weihwasser. Ich sollte es einfach ignorieren, sag ich mir immer wieder, aber mich nervt die Spiegelfunktion der ganzen Veranstaltung: Weil IHR, die Zuschauer, nun mal solche Idioten seid, die kein anderes Programm sehen mögen, MÜSSEN wir all diesen Fun&Crime-Schrott fabrizieren, selber schuld! Weiter → (Intelligenz im TV: Ein Comeback mit Stoiber und Sloterdijk)

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Claudia am 09. Januar 2002 — Kommentare deaktiviert für Kampfzone

Kampfzone

Gestern abend lief ein Fernsehfilm auf 3SAT, „Schlafende Hunde“, der gut und gern als Illustration zum Roman „Ausweitung der Kampfzone“ von Houellebecq gesehen werden könnte. Ein Konzern plant in einer kleinen Stadt ein riesiges Shopping-Mall-Projekt mit Gastronomie, Wellnesslandschaft und Hotelerie, Gesamtvolumen 140 Millionen. Schauplatz des Films ist die Büroszene des Projektträgers: Wichtige Männer, die laufend Besprechungen haben, viel telefonieren, jede Menge Bestechungsgelder in Geldkoffern hin und herreichen, umgeben von schick gestylten Frauen, die für Häppchen und Getränke sorgen und niedere Organisationsarbeiten erledigen. Jeder kämpft für sich allein, wittert im Anderen den immer zum Tiefschlag bereiten Gegner. Verbissen sägen sie gegenseitig an ihren Stühlen und tricksen sich aus, wobei immer der GANZE Mensch gefordert ist, alle Beziehungen, einschließlich der sexuellen, stehen ganz im Dienst der Intrigen und Karrieren, Freizeit ist fast ganz verschwunden. Weiter → (Kampfzone)

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Claudia am 23. Dezember 2001 — 1 Kommentar

Vom Elend des Sitzens

Morgen werd‘ ich mich ins weihnachtliche Endgetümmel werfen und mir ein Klemmbrett und einen Astronautenkuli zulegen, der auch dann noch schreibt, wenn die Spitze gen Himmel zeigt – so als Weihnachtsgeschenk für mich selbst, das mich hoffentlich zeitweise vom SITZEN befreit!

Mit der Hand schreiben? Vor kurzem noch hätte ich nicht im Traum an sowas Archaisches auch nur zu denken gewagt! Während einer Besprechung Notizen zu machen stellt mich regelmäßig vor das Problem, diese hinterher wieder entziffern zu müssen. Fähigkeiten, die man nicht regelmäßig übt, gehen eben über kurz oder lang verloren und die Handschrift steht seit Einführung der Textverarbeitung unverkennbar auf der Abschussliste.

Aber in der Not frisst der Teufel Fliegen! Ich kann einfach nicht mehr sitzen. Seit Wochen schon merke ich, dass es mich wegzieht vom Monitor – nicht, um „da draußen“ im realen Leben auf Abenteuer auszugehen, sondern weil mir alles weh tut und ich mich nach wenigen Stunden schon wie „gestaucht“ fühle. Trotz Super-Bürostuhl, trotz Yoga, Fitness-Center, Sauna und gelegentlichen Spaziergängen gelingt es nicht mehr, die vielen Stunden vor dem Gerät so auszugleichen, dass ich mich in meiner Körperlichkeit vergessen kann. Schultern, Rücken, Lendenwirbel und Beine meinen schon nach etwa einer Stunde, nun sei es genug.

Was soll ich also tun? Mir einen anderen Job suchen? Ganz unmöglich, alles, was ich gut kann, braucht das Computer-Cockpit als Werkzeug und Kanal zur Welt. In einer Zeit, in der auch die letzten „Problemgruppen“ vom Arbeitsamt in PC-Kurse gezwungen werden, ist das keine Möglichkeit mehr, die man ernsthaft erwägen könnte. Und: es ist ja nicht nur die Brotarbeit, die mich „am Netz“ hält, sondern auch freie Aktivitäten wie dieses Diary, das Schreiben und Gestalten, praktisch aller Selbstausdruck und die Kommunikation mit Menschen an anderen Orten der Welt zwingt mich vors Gerät. Dazwischen das unverzichtbare Forschen, Suchen, Sich-Informieren, Neues lernen – gar nicht mehr vorstellbar ohne Google, ohne Mailinglisten und Web-Communities!

Aber es knirscht im Gebälk der materiellen Seite meines Daseins. Der Körper beschwert sich zu Recht, dass ich ihn einfach „absetze“ und dann „fort“ bin – dort, wohin Leben & Welt mehr und mehr auswandern, wo das Produzieren und Projizieren, das Kommunizieren und alles Steuern der Welt zunehmend stattfindet: im Cyberspace, der nur über ein Interface zu betreten ist, eine Grenzanlage, die das Materielle nicht durchlässt: Sorry, wir Körper müssen draußen bleiben….

Wir sind nicht angepasst an das Leben, das wir führen„, sagt der nette Trainer im Fitnesscenter und schaut zufrieden auf die Kunden, die sich an den Geräten nolens volens in Bewegung versetzen. Neulich wollte ich da mal einfach nur in die Sauna gehen, doch als ich durch den Gerätepark lief, spürte ich die Sehnsucht des Körpers wie eine leise aber dringliche Stimme aus dem Hintergrund: Komm, lass uns ein bisschen turnen… Ein seltsames Erlebnis der Gespaltenheit: WER ist denn hier verdammt nochmal ICH???!

Zersetzung

Vor wenigen Jahrhunderten war das Leben noch Bewegung. Von früh bis spät auf den Beinen, verrichteten die Menschen elend schwere Landarbeit und bewegten sich zu Fuß von Ort zu Ort. Die Industrialisierung hat dieses organisch-naturgesteuerte notwendige und selbstverständliche Bewegt-Sein zerschlagen zugunsten abgezirkelter Bewegungen im Rahmen der mechanischen Maschine. Das Fließband erzeugte ganz neue ungekannte Leiden an Körper und Geist. Der Körper war versklavt an den Takt der Maschine, aber doch immer noch gebraucht, gefragt, am Ball des Geschehens, der Geist litt unter der Monotonie. Heute sind wir – gottlob! – auch von diesem Elend befreit. Roboter und Programme machen die Arbeit in den Fabriken und es braucht nur noch ein paar Aufseher und Knöpfchendrücker, das Ganze am Laufen zu halten, sowie unzählige Brummi-Fahrer, die – sitzend! – die Produkte durchs Land kutschieren.

Wir haben uns vom Leid der körperlichen Anstrengung befreit, uns gemütlich hingesetzt und sind sitzen geblieben. Wir treffen uns zu Sitzungen, erlassen Gesetze und Satzungen, setzen uns auseinander, kämpfen um Besitz und Vorsitz und darum, uns durchzusetzen. Wer nicht funktioniert, wird versetzt oder abgesetzt. Allem können wir uns mehr oder weniger erfolgreich widersetzen, bloß nicht dem Sitzen selbst.

Der Mensch besteht zu über 80 Prozent aus Wasser. Stehende Wasser neigen dazu, in Fäulnis überzugehen. Zersetzung droht – was tun? Ich hab‘ von einem Stuhl gelesen, der durch minimalste Schwingungen das Zellwasser in Bewegung halten soll, aber so richtig durchgesetzt scheint sich das nicht zu haben. „Kleinste Schwingungen“ würden auch nicht mehr ausreichen, um meine Missempfindungen auf dem Stuhl aufzuheben. Seit Jahren guck‘ ich mir hoffnungsvoll an, was die Möbelindustrie so an Alternativen anbietet: den Kniestuhl, den Sitzball, vielfach einstellbare und bewegliche Bürostühle. Seltsamerweise kenne ich niemanden, der wirklich auf Dauer den üblichen Stuhl gegen den Ball tauscht oder sich kniend vor dem Monitor aufhält. (Letzteres würde uns wohl auch allzu deutlich zu Bewusstsein bringen, wie unser Verhältnis zur technischen Welt beschaffen ist).

Nein, ich will nicht mehr sitzen, will stehen, zur Not liegen – aber für diese Haltungen existieren keine erschwinglichen Möbel, die es gestatten würden, Monitor, Tastatur und Maus im Zugriff zu behalten. Noch dazu will ich zwischen diesen Haltungen abwechseln, damit das Leiden am Sitzen nicht nur durch ein anderes abgelöst wird (Krampfadern im Stehen, Wundliegen im Liegen…). Warum erkennt „der Markt“ eigentlich dieses Problem nicht? Weil die Entwerfer und Macher eben auch sitzen, vermutlich unter 40 sind und gar nicht daran denken, dass da was nicht in Ordnung sein könnte.

Also mit der Hand schreiben, im Liegen, im Stehen an einem Pult – nachher abtippen braucht jedenfalls viel weniger Sitzzeit, als wenn ich vor dem Gerät einen Artikel produziere, die meiste Zeit nicht schreibend, sondern in mich hineinlauschend, was für ein Text entstehen will.

Ob das geht? Vielleicht gelingt ja so eine kleine persönliche Revolte gegen den Sitzzwang, doch die Tatsache bleibt, dass der Körper für Wirtschaft und Gesellschaft in vieler Hinsicht überflüssig geworden ist. (Wer „drin“ ist, dessen Körper ist „draussen“) Was geschieht mit Überflüssigem? Wenn es nicht verschwindet, was uns als körper-basierten Wesen nicht möglich ist, bekommt es neue Funktionen: der Körper als Ware und Statussymbol, durchtrainiert, gebräunt und gepflegt, gepierced und tätowiert dient er perfekt gestylt dem Selbstausdruck. Schließlich werden ja perspektivisch auch immer weniger Menschen gebraucht, um die technische Welt zu steuern und zu entwickeln – der Rest muß ja doch eine Beschäftigung haben!

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Claudia am 21. Dezember 2001 — Kommentare deaktiviert für Weihnachtsliebe

Weihnachtsliebe

Pünktlich zum Winteranfang der Schnee! Eine Seltenheit in Berlin, wo sich die vierte Jahreszeit oft genug darauf beschränkt, dunkel, matschig, nass und abstoßend zu erscheinen, auf die Laune zu drücken und die zig Tonnen Hundescheiße auf den Gehwegen feucht zu halten. Ich bin begeistert – im letzten Eintrag hatte ich mir die Schneedecke gewünscht und prompt kommt sie runter, wenn das nicht ein gutes Zeichen ist! :-)

Zu Weihnachten werden die Menschen freundlicher, spenden für die Bedürftigen in aller Welt, kaufen öfter als sonst die Obdachlosenzeitungen und überlegen, wie sie anderen zum Fest eine Freude machen können. Was schenken in einer Welt, in der sich viele alles kaufen können, was sie brauchen? Und: Ist es nicht bloße Konvention, weihnachtlicher „Konsumterror“, dem man am besten ferne bleibt, womöglich gleich auf die Südhalbkugel entfliehend?

Früher dachte ich so, hörte schon mit 19 auf, zu schenken, hüllte mich in meinen Hochmut, lästerte ein wenig mit Gleichgesinnten über „die Massen“ und war froh, wenn die Feste endlich vorbei waren. Kernpunkt der Kritik, sofern wir in den 70gern überhaupt darüber nachdachten, war der Vorwurf der Heuchelei: Das ganze Jahr geht euch die Welt am Arsch vorbei, aber an Weihnachten ist Glaube, Liebe, Hoffnung angesagt – gestützt von nochmal ins Gigantische gesteigerter Völlerei, damit man’s besser erträgt! Oh böse Welt, geh wende dich und dreh dich bitte weg, dass ICH dich nicht mehr seh…

Welch‘ jugendliche Arroganz, denk‘ ich mir heute. Es ist ja ein Leichtes, sämtliche Konventionen in Grund und Boden zu kritisieren, die bösen oder banalen Motive dahinter zu entlarven und das immer auch Eigennützige hinter allen „guten Taten“ dingfest zu machen – aber dann? Folgt aus der Kritik eine bessere Praxis? In der Regel nicht – wofür man sich auch noch eine lange Zeit ganz unschuldig fühlt, je nachdem, wie lange es gelingt, von sich selber abzusehen, bzw. sich immer nur als Opfer der Verhältnisse zu betrachten.

In einer der vielen Internet-Umfragen der letzten Zeit (Quelle vergessen) wurde unter anderem nach dem ehrenamtlichen sozialen Engagement der Teilnehmer gefragt. Null Prozent konnten diese Frage bejahen! Das hat mich schon erschüttert, ich hätte zumindest eine kleine Minderheit an ehrenamtlichen Helfern erwartet, auch unter Web-Surfern, die ja demoskopisch mehr und mehr einem Querschnitt durch die Gesellschaft entsprechen dürften. Bevor ich mich über sowas dann aber richtig aufrege, fällt mir ein, daß ich die Frage auch selber mit „Nein“ beantwortet hätte – möcht‘ ich trotzdem weiter lästern? Vom Welthass zum Selbsthass fortschreiten? Wem würde das nützen?

In meiner Generation ist das Helfen in Verruf geraten, in vieler Hinsicht. Erstmal politisch betrachtet als „Symptomkuriererei“ am verhaßten „System“, später dann als psychologisch-hilfloses Dilettantentum, wo man besser professionelle Kräfte wirken lassen sollte: Therapie für alle! Das finale Totschlagsargument gibt sich dann spirituell und heißt: Man kann Anderen nicht wirklich helfen, allenfalls hilft man sich selbst. Selbstveränderung kann nicht von außen kommen, Einsicht ist nicht vermittelbar, jeder findet auf dem eigenen Weg das vor, was er verursacht hat – wer wären wir, jemanden davor „erretten“ zu wollen? Selbst wenn es funktionieren würde, würden wir dadurch nicht nur eine Entwicklung verzögern? Schließlich tritt Bewußtsein vor allem mitten im Leiden auf, wem es gut geht, der verfällt dem großen Schlaf…

Es ist vorbei mit der christlichen Nächstenliebe, zu Tode kritisiert im Abendland, Ersatz nicht in Sicht. Einige versuchen, das Licht aus dem Osten zu importieren, zum Beispiel die „Meta-Meditation zur Entwicklung liebender Güte für alle Wesen“ aus dem tibetischen Buddhismus. Ich weiß nicht, ob das wirklich etwas an der eingefleischten Ignoranz, in der wir gewöhnlich leben, ändert. Mir kommen die tibetisch-buddhistischen Gemeinden vor wie die katholische Kirche in zeitgemäßer Fassung: wieder mystischer, prunk- und geheimnisvoller, ohne Gott, aber mit „grüner Tara“ – für mich funktioniert es so nicht, ich würde dann eher das Original nehmen, wenn ich mir von organisierter Religion noch etwas erhoffte.

Sich also abfinden mit der Kälte in der Welt? Sich in den warmen Whirl-Pool setzen und vierhändig ayurvedisch massieren lassen, wenn es sich zu ungemütlich anfühlt? Weihnachten zeigt Jahr für Jahr einen Restbestand an Unzufriedenheit: der Wellness-Gedanke ist doch ein wenig dünn als Erbe ehemaliger Groß-Werte wie Liebe, Güte und Solidarität. Läßt er sich vielleicht erweitern? Soweit, daß zum EIGENEN Wohlfühlen auch das Wohl des Anderen gehört? Und OHNE dass man dem anderen mit jedweder Zuwendung gleich eine Forderung mitliefert: Du sollst dich nach meinen Vorstellungen ändern, sonst… ?

Schreibend läßt sich das nicht feststellen, man muß es ausexperimentieren. Und deshalb mach‘ ich an dieser Stelle besser Schluß.

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