Thema: Weltgeschehen

Claudia am 18. Juni 2002 — Kommentare deaktiviert für Menschen, nicht Automaten!

Menschen, nicht Automaten!

Insgesamt sind es vielleicht so ein paar hundert Leute, die ich „aus den Anfängen“ kenne. Wie anders ihr Blick auf das Netz doch ist, verglichen mit der Sicht derjenigen, die erst in den letzten zwei Jahren eingestiegen sind! Und immer noch ist es ausgesprochen spannend, zu beobachten, wie das „soziale Neuland“ Unsicherheiten hervorruft, die im „Real Life“ lange schon unter irgendwelche Decken und Teppiche gekehrt wurden.

Missbrauche Menschen nicht als Dienstleistungsautomaten!

Wie kommt zum Beispiel einer, der mich nie zuvor angeschrieben hat, auf die Idee, mir eine Latte Fachfragen vorlegen zu dürfen, weil er offensichtlich zu faul ist, seine Klausur selber auszurecherchieren? (Was versteht man unter dem EVA-Prinzip? Wie viele Zeichen passen auf eine Diskette? Wieviel wäre das in Seiten ausgedrückt? Was versteht man unter Proprietär? usw. usf.). „Wäre nett, wenn Sie mir helfen können“, schreibt er immerhin dazu. Aber WARUM ich meine Zeit opfern sollte, um ihm unbekannterweise Lernarbeit zu ersparen, sagt er mir nicht. Frisch-fröhlich hab‘ ich ihm angeboten, seine Anfrage zu meinem üblichen Stundensatz zu bearbeiten – und dann natürlich nie mehr von ihm gehört!

Vielleicht hat er ja in einem alten Buch oder Artikel gelesen, man solle ruhig fragen. Wer eine Website habe, wolle auch angesprochen werden, die Netizens seien eine fröhliche Schar und ausgesprochen hilfsbereit. Tja, es war aber immer schon ein Missverständnis, dass das bedeutet, einfach andere Leute die eigene Arbeit machen zu lassen. Eigene Bemühungen dürfen dem Um-Hilfe-bitten schon voraus gehen – und DIESE Fragen hätten sich binnen Minuten von Google beantworten lassen.
Merke, Neuling: Missbrauche niemals Menschen als Automaten! Auch wenn beide im Netz ganz ähnlich ‚rüber kommen‘, nämlich durch Texte und Bilder, Zeichen und Symbole, so gibt es da doch noch riesige Unterschiede!

In der Pfeil nach draussenSelf-HTML-Louge diskutieren sie gerade den Stellenwert eines Webforums: ist es eher eine lockere Zusammenkunft, bei der man auch mal ganz wischi waschi ins Unreine plaudern kann? Oder haben diejenigen Recht, die so ein Forum mit preußischer Korrektheit bearbeiten, ihre jeweiligen Argumente wohl erwägen, jedes Wort sehr überlegt setzen und das auch von Anderen so erwarten?

Und hier, in meinem eigenen Board auf einmal die Frage: Kann man „hier“ über Tod & Sterben reden? So mit ganz unbekannten Leuten? Ich fand es anrührend, wie in diesem Fall derjenige, der eigentlich reden wollte, das Thema dann – sensibel für sich selbst – wieder „begraben“ hat: „Du musst ihnen in die Augen sehen .., Du musst ihnen vertrauen können, und sie dir. Sonst kannst du über so ein Thema nicht reden.“ Gefällt mir gut, es wird einfach viel zuviel daher gequatscht, meist „ohne Rücksicht auf Verluste“, man sieht ja nicht, wie es dem anderen gerade geht.

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Claudia am 23. Mai 2002 — Kommentare deaktiviert für Am Puls der Zeit: Bush-Besuch

Am Puls der Zeit: Bush-Besuch

Vermutlich ist es das Alter: Herr Bush und alle, die in diesen Tagen einen solchen Wirbel um seinen Besuch veranstalten, langweilen mich. Heut‘ will er, so ist zu hören, eine HISTORISCHE Rede im Bundestag halten – ach, ich bin mir fast sicher, dass in dieser Rede kein halber Satz vorkommen wird, den man nicht schon kennt, nicht so oder ähnlich erwartet. Und alle Nachrichtensprecher, Kommentatoren und Reporter auf den Straßen tun ebenfalls ihr bestes, vorgestanzte Sätze und Statements auszutauschen. Demonstranten in karnevalesken Kostümierungen geben brav zu Protokoll, gegen was sie jetzt gerade demonstrieren und wenden sich dann wieder dem fröhlich-bunten Miteinander zu. Trommeln dröhnen, die Leute tanzen, einzelne führen akrobatische Kunststücke vor – man kann nicht unterscheiden, wer hier demonstriert und wer nur flaniert, sagt ein Reporter.

Mir reicht es, alles vom TV aus anzusehen, man sieht sehr viel mehr und wenn ich mich ärgere, kann ich es ausschalten. Schon der Karneval der Kulturen am Sonntag war medial betrachtet sehr viel angenehmer, denn es hat die ganze Zeit geschüttet.

Am Dienstagabend kam alles ein wenig näher – wie immer, wenn die Welt „gewalttätige Ausschreitungen befürchtet“, versammelten sich mehrere hundert junge Menschen auf dem Boxhagener Platz, viele mit Bierflaschen in den Händen. Bald war der Bär los, wieder erklangen die „Bush-Trommeln“, ab und an redete jemand Unverständliches in einen Lautsprecher, gelegentlich raffte man sich zu kurzen Sprechchören auf („Hoch die internationale Solidarität!“). Ich ging runter, wollte mal gucken, die Atmosphäre aus der Nähe schnuppern, aber da die Wannen/Einsatzfahrzeuge sich grad von allen Seiten um den Platz stauten, hab mich lieber wieder verzogen. Zwar werde ich normalerweise (altersbedingt..) von den Polizeibeamten nicht mehr als „Zielgruppe“ wahrgenommen, aber es war verdammt dunkel.

Vieles erinnert mich in diesen Tagen an die 80ger, ich war Ende zwanzig, voll begeistert und hoch engagiert „Häuserkampf“, Anti-Reagan-Demo, TUWAT-Festival – oh, wenn ich anfangen würde, davon zu erzählen, wär ich genau wie der Opa, der immer die Geschichten von „damals im Krieg“ zum besten gab, ob sie einer hören wollte oder nicht.

Anders als der nervende Opa bin ich mir nicht sicher, inwieweit ich überhaupt noch ein Geschehen „richtig“ beurteilen kann. Zwar sehe ich die Ähnlichkeit der äußeren Formen zu „früher“, gleichzeitig nehme ich auch Unterschiede wahr. Alles kommt mir ein wenig unecht vor, als zelebrierten die Menschen weitgehend bewusst hohle Rituale, ein Protest ohne Herz und ohne echte Wut, abgeleistet für die Medienwelt weil es nun mal sein muss, wenn ein amerikanischer Präsident kommt. Dass man versucht, dabei ein Maximum an Spaß und guter Unterhaltung mitzubekommen, versteht sich von selbst. Die Bush-Demo als Event der Spaß-Gesellschaft – von den Berlinern nur mit gebremstem Schaum mitgetragen. Zu komplex sind die Themen, nur wenige formulieren noch klare Feindbilder, der Schatten des 11.Septembers hindert viele daran, in ein schlichtes „Ami go home!“ einzustimmen. Auch die befragten Demonstranten äußern sehr differenzierte Meinungen, so dass praktisch jeder etwas anderes sagt.

Das sind meine Eindrücke – inwieweit sie etwas Objektives beschreiben oder mich nur selber spiegeln, kann ich nicht wissen. Berührt hat mich das Statement eines amerikanischen Journalisten, der sagte, er erlebe die Demos nicht als anti-amerikanisch, dieselben Proteste gäbe es weltweit und auch in den USA selbst. Im übrigen sei es gut, wenn in Deutschland demonstriert werde – erst wenn NICHT mehr demonstriert werde, bekäme er Angst.

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Claudia am 15. Mai 2002 — Kommentare deaktiviert für Die ganz normale Korruption

Die ganz normale Korruption

Schon im Wort selber schwingt Entrüstung mit: KORRUPTE Politiker! Kann man das auch ganz emotionslos sagen? So wie „Baugenehmigung“ oder „Evolutionsvorsprung“? Eher nicht, beim Aussprechen oder Niederschreiben stellt sich im Gegenteil die Gier ein, noch eins drauf zu setzen: Widerlich-korrupte Politiker-Bande! Schamlose Selbstbereicherung! Übelster Spendensumpf! Und je mehr man um Worte ringt, desto größer wird die Entrüstung. Die ansonsten belächelten Schlagzeilen der BILD-Zeitung können jetzt gar nicht groß genug sein, gewaltige Lettern schreien die eigentlich nie richtig neue Wahrheit quer über die Straße: KORRUPTION! Und auf einmal ist das gut so. Weiter → (Die ganz normale Korruption)

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Claudia am 13. Mai 2002 — Kommentare deaktiviert für Die Oder, der vergessene Fluß

Die Oder, der vergessene Fluß

Achtzig Kilometer sind es von Berlin bis zur Oder. Der Kontrast zur Stadt könnte nicht größer sein: eine kilometerbreite Auenlandschaft, aus dem Wasser ragende Weidenwäldchen und Gebüsche, mäandernde Nebenarme, Tümpel, Weiher, Sümpfe und fette Wiesen, alles blüht, summt, duftet und wiegt sich tänzerisch im Wind. Drüben auf der polnischen Seite ein breiter Gürtel wegloses Schilf, dahinter Wälder. Der Blick sucht ganz aus alter Gewohnheit die üblichen Wunden und Schründe megalomaner Menschenarbeit – nichts!

Seeadler kreisen hoch über dem Fluss, elegante Graureiher strecken ihre schmalen Schnäbel in die Luft, Störche stolzieren gemütlich durch den Überfluss, der sich ihnen in den stehenden Wassern anstrengungslos darbietet: Hunderttausende Frösche und Kröten konzertieren lautstark ihre Erregungszustände. Kaum verebbt das Geckern und Quaken in dem einen Weiher, hebt es umso beeindruckender in einem anderen wieder an. Ich muss an Nachrichten denken, wie sie sich wellenförmig über verschiedene Medienkonglomerate immer wieder hochschaukeln – den Fröschen nehme ich die Geilheit nicht übel, die aus ihnen schreit.

Ich spaziere auf dem Damm entlang – ach ja der Damm, das große Werk. Wäre er nicht errichtet worden, würde sich diese Wildnis zwanzig Kilometer in Richtung Berlin erstrecken, den „Oderbruch“ gäbe es nicht. Ein flacher, tief liegender Streifen fetter Erde, für Brandenburg eine Seltenheit. In Abständen hingeduckt altertümliche bäuerliche Anwesen, teils verlassen und verfallen, aber auch lebendige darunter. Wahre Idyllen für das Auge des Städters, Fachwerkhäuser in beige und braun, marode Schuppen, nicht ganz ernst gemeinte Zäune um blühende Gärten – RICHTIGE Gärten, nicht so etwas Aufgeräumtes, Rasenmäher-gepflegtes wie in den stadtnahen Einfamilienhäusern der Pendler.

Und sonst? Nichts. Das hat mich schon immer gewundert, seit ich die Oder das erste Mal sah. Keine Yachten und Tretboote, kein Kanu-Sport, kein Wasserwandern, man muss schon ein paar Stunden warten, bevor mal ein Schiff vorbei kommt – und das ist dann ein kleiner Transporter, keinesfalls ein Ausflugsschiff. Auch kein „Strandleben“ an den Ufern, keine Cafés, nirgends Restaurants oder gar musikbeschallte Biergärten – und, das wundert fast noch mehr – auch kein „Ökotourismus“. Kein Naturlehrpfad ruft mir Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in Erinnerung, kein Infocenter belehrt über die hier noch erhaltene Tier- und Pflanzenwelt und legt rote Listen aus. Mein Gott, wo bin ich hier? Eine richtige Wildnis mit allem Drum und dran eine gute Stunde vor Berlin – und völlig ignoriert!

Der Rhein, dieser voll-betonierte Abwasserkanal, wird immer noch heftig besungen, Elbe, Donau und Spree sind dichterisch und touristisch in aller Munde, die letzten paar Meter ihrer ursprünglichen Auenlandschaften werden mit Klauen und Zähnen als letzte Refugien der Natur geschützt und gepriesen – hier an der Oder erstrecken sich wild-belassene Weiten von Küstrin/Kostrzyn bis ins vielfach verzweigte Mündungsdelta, man könnte tagelang auf dem Damm wandern. Warum tut „man“ es nicht?

Deutsche Geschichte. Oder-Neisse-Grenze. Drüben der Feind – ist es das? Immerhin waren Polen und die DDR „befreundet“ – warum ist dieser Grenzfluss dennoch so sehr Grenze geblieben? Eine Grenze, von der man sich abwendet, als wolle man vergessen, dass es ein „drüben“ gibt?

Ich stehe am äußersten Rand der EU und schaue nach „drüben“. Der Fluss fließt ruhig aber geschwind, hier ist gewiss keine Stelle, an der nachts die Illegalen herüber kommen. Weit und breit kein Bundesgrenzschutz, vielleicht ist es ja nachts anders. „Wenn sie beigetreten sind, schauen wir mal, was auf der anderen Seite ist“, sagt mein Lebensgefährte. Warum eigentlich erst dann? Der Personalausweis reicht, „sie“ nehmen sogar Euro. Was hindert uns, mal eben ‚rüber“ zu gehen?

Ich weiß es nicht, aber ich fühle es auch.

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Claudia am 03. Mai 2002 — Kommentare deaktiviert für Zur Mai-Randale in Berlin

Zur Mai-Randale in Berlin

Es wundert niemanden wirklich, dass auch dieser 1.Mai in Berlin „wie immer“ verlief: Randale in Kreuzberg, kaputte Scheiben, brennende Autos, ein geplünderter Supermarkt und von Stein- und Flaschenwürfen Verletzte auf beiden Seiten. Und: tolle Bilder in der Abendschau: Wie sie auf den Straßen tanzten vor brennender Barrikade, artistische Kleinkünstler, die den Handstand rückwärts im Feuerschein eines „abgefackelten“ Autos vollführen – wow! Die Ästhetik des Ausnahmezustands wird in den Medien genussvoll zelebriert, wie an jedem 1.Mai.

Die Polizei übte sich dieses Jahr in „Deeskalation“. Nur kein martialisches Auftreten, niemanden provozieren, sogar die Veranstalter der „Revolutionären 1.Mai-Demo“ bemerkten anerkennend, dass „es den Bullen diesmal nicht darauf angekommen ist, hier hunderte schwer Verletzter zu haben“. Immerhin verliefen die Demonstrationen selber friedlich, das Konzept war teilweise erfolgreich – auch die Randale im Anschluss ging schneller zu Ende als in anderen Jahren. Trotzdem darf sich die Polizei nun die üblichen Vorwürfe anhören: das Konzept „Deeskalation“ sei gescheitert, von einem „Rückzug des Rechtsstaats“ ist die Rede – als könne irgend eine Strategie, sei sie nun martialisch oder eher zurückhaltend, die Gewaltausbrüche zur Gänze verhindern. ALLE wissen das, aber anstatt dazu etwas zu sagen, erfolgt der übliche politische Schlagabtausch: Ihr seid schuld….

Wer ist denn nun schuld? Oder ist das eine falsche Frage? Heut‘ morgen hat mich mal interessiert, wie eigentlich die Aktivisten von links außen die Ereignisse bewerten. Mal kurz gegoogelt (Autonome + Berlin) und schon der zweite Klick brachte zu Tage, was ich suchte. Das Webzine „Autonome Antifa Berlin“ meldet unter dem Banner „Danach“ nur einen einzigen Satz:

„Wir danke den viele besoffenen, gröhlenden, sinnloskleineAutoszerstörenden, sexistischen, unverantwortlichen, partyeventmachenden, unpolitischen , eigeneLeuteverletzenden Pseudohooligans und Radalekiddies …. für diesen schönen 1.Mai.“

Klare Worte und kein Grund, ihnen nicht zu glauben. Wer die Geschichte gewaltätiger Ausschreitungen in Berlin seit 1968 rekapituliert, wird die Entmischung von Geist und Gewalt bemerken: die Theorie- und Utopie-Lastigkeit der 68er und Spontis vermochte es noch, Gewalt aus der „Systemopposition“ hochintellektuell zu rechtfertigen. Die später sich entwickelnde Anti-Atom und Umweltbewegung hatte schon weit handlichere Gründe für Gewalt „am Rande“ von Demonstrationen, der Kampf gegen die Nato-Nachrüstung basierte gar auf echter existenzieller Panik: Man glaubte allen Ernstes, wenn jetzt die Pershing 2 stationiert werde, gehe sofort der 3.Weltkrieg los. Also: Wo Recht zu Unrecht wird, wird Wiederstand zur Pflicht. Die Hausbesetzerbewegung Anfang der 80ger konnte ebenso auf das Wohlwollen fast der ganzen Stadt setzen, denn die Skandale von Entmietung, Leerstand und Kahlschlagsanierung waren allen sicht- und erlebbar – und doch wurde hier schon sehr deutlich, dass immer auch ein gewisses „Gewaltpotential“ existiert, dass sich hinter Gründen nur verbirgt, sie aber nicht wirklich braucht.

Und heute? Im Vorfeld der Mai-Randale fahndet die Berliner Abendschau offenbar immer nach jemandem, der noch etwas „Rechtfertigendes“ zu den mit Sicherheit kommenden Ereignissen sagt, aber man merkt, dass das immer schwerer wird. Allenfalls finden sich noch Leute, die auf die „Provokationen der Bullen“ verweisen – insofern ist die „Deeskalation“ die einzig wahre Strategie: Nicht, dass sie Gewalt wirklich verhindern könnte, aber sie zerstört die letzten Illusionen über einen vermuteten „Sinn“ dieses Geschehens.

Sinnlose Gewalt also – warum findet sie statt? Und – mangels erkennbarem Sinn ist das fast noch interessanter: warum immer zu einem festen Termin?

Der Innensenator sagte im TV: Wenn man diese Gewalt verhindern will, kann man das nicht allein der Polizei überlassen. Ich weiß nicht, was er konkret meint, aber für mich ist ganz klar: diese Gewalt ist ein Auswuchs unseres gesellschaftlichen Unbewussten. Kaum jemand ist nämlich wirklich entrüstet, auch nicht ein paar Tage nach Erfurt, wo doch so viel von „Innehalten“ die Rede war, von der Notwendigkeit, die Akkzepanz von Gewalt als Teil der Normalität zu bekämpfen.

Während der Randale sind immer viele Schaulustige unterwegs. Erwachsene stehen am Straßenrand und applaudieren den jugendlichen Steinewerfern. Der Apotheker, dem man die Scheibe eingeschmissen hat, meint, er nehme das nicht persönlich. Und wer in der Walpurgisnacht oder am ersten Mai sein Auto in der Kampfzone parkt, muß sowieso unendlich blöde oder arrogant sein, heißt es in der Sendung „Kontraste“. Der weißhaarige Sprecher der Abendschau berichtet vom Verlauf der Ereignisse mit belustigtem Unterton – überhaupt ist der „Programmpunkt Mai-Randale“ ab Januar ein zunehmend häufiges Thema. Die „Unausweichlichkeit“ der sinnleeren Veranstaltung wird zwar beflissen bedauert, aber es gibt interessante Strategiediskussionen und am Tag der Tage natürlich Sondersendungen – und immer wieder Witze über die punktgenaue „Revolution nach Terminkalender“.

Ein lieber Freund, dem das ganze Geschehen wirklich in der Seele weh tut, fragt, warum eigentlich die Justiz nicht schärfer reagiert, z.B. gegenüber den Verhafteten den möglichen Strafrahmen stärker ausschöpft. Auch das ist ein Teil der allgemeinen Akzeptanz dessen, was da so sinnlos sich vollzieht – und ich finde es eigentlich einsichtig, dass nicht versucht wird, mit juristischen Mitteln, mit langen Gefängnisstrafen und all ihren lebenszerstörenden Folgen hier „Prävention“ zu betreiben. Ein bisschen käme mir das vor, als würde das Publikum im Theater die Schauspieler für die Verbrechen in einem Shakespeare-Drama zur Verantwortung ziehen. Das ist vielleicht ein bisschen überspitzt gesagt, aber mein Gefühl geht in die Richtung: diese Randale ist kein Privatzoff einiger Irrer, sondern Ritual einer ganzen Gesellschaft. Ein Ausbruch des Irrationalen, der umso weniger „ausfallen“ kann, je weniger uns rational zur „Lage der Welt“ noch einfällt.

Muss ich das ausführen? Die üblichen Schlagworte ein weiteres Mal aneinander reihen? Ich glaube nicht. Jede Leserin und jeder Leser weiß, was ich meine, wenn es auch jeder für sich etwas anders formulieren würde. Mit Vernunft allein scheint man nirgends mehr viel ausrichten zu können, egal, welches Problemfeld man in den Blick nimmt. Und so sehr wir uns auch dagegen wehren mögen: der Kampf aller gegen alle wird härter, sowohl im Bereich des individuellen Berufslebens als auch im politischen Großraum, wo der Krieg als Mittel der Politik wieder möglich ist.

Das rechtfertigt nicht die rituelle Gewalt auf den Straßen in Kreuzberg. Aber es macht die Wurzeln der Gefühle verständlicher, aus denen die gar nicht so heimliche Akzeptanz der „Mai-Festspiele“ erwächst – die dieses Mal übrigens unter das Motto „Macht verrückt, was Euch verrückt macht!“ gestellt waren.

Etwas Positives zum Schluss? Berlin hat ja nicht nur den Mai-Zoff im Terminkalender: Demnächst findet der „Karneval der Kulturen“ statt, ein wunderbar buntes Multi-Kulti-Festival im Geiste von Frieden und Völkerfreundschaft. Ebenso schön der schwul-lesbische Christopher-Street-Day und im Juli dann der berühmte Mega-Event, die Love-Parade. Das Irrationale hat auch seine hellen Seiten, sogar mit deutlich mehr Terminen. Hoffen wir also auf gutes Wetter!

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Claudia am 28. April 2002 — Kommentare deaktiviert für Amoklauf in Erfurt: Der Tunnelblick verengt sich

Amoklauf in Erfurt: Der Tunnelblick verengt sich

17 Menschen sind tot. Der Amoklauf eines 19-Jährigen, der Lehrer, Schüler und Polizisten des Gymnasiums niedermetzelte, aus dem er kürzlich verwiesen wurde, erschüttert die Republik. Fassungslosigkeit, Entsetzen, hilflose Fragen nach den Gründen. Wer ist schuld? Hätte man das verhindern können? „Er wollte immer auffallen“, sagt eine Mitschülerin. Ein Psychologe spricht vom Realitätsverlust des Täters, vom Tunnelblick, der keine Alternativen mehr zulasse als eben den Griff zur „Pump-Gun“. So jemanden dürfe man eben nicht alleine lassen, wenn man ihn von der Schule werfe.

Kulturkritische Reden werden jetzt wieder gerne geführt, gedruckt, gesendet: Der Werteverlust! Das hohle Leistungsdenken! Nur die Reichen und Schönen, nur Erfolgsmenschen und Medienstars gelten etwas in unserer Welt – kein Wunder, dass diejenigen schon mal ausrasten, die in der sich ausweitenden Kampfzone als Verlierer da stehen. Vom Bundespräsidenten bis zum Hinterbänkler wissen auf einmal alle: Der Wurm ist drin in unserer Gesellschaft, die nur noch dem Mammon huldigt, in der gegenseitige Hilfe, Achtung und Respekt allenfalls noch als Sonntagsreden-Marotte religiöser Würdenträger vorkommen. Habermas, wie recht du hast!

Ein paar Tage noch werden die Medien das Thema durchdeklinieren, dann wird es im Wahlkampf verschwinden: Wie kann Deutschland sich im internationalen Wettbewerb behaupten? Wie muss man das Bildungssystem umbauen, um die Schüler und Studenten in kürzester Zeit fit für den Weltmarkt zu machen? Die Betroffenen in Erfurt bekommen ihre psychosoziale Betreuung, für Großschäden durch Terroranschläge haftet seit heute der Staat, die „unausweichlichen Strukturveränderungen“ im sozialen Netz stehen auf der Tagesordnung, gleich nach der Wahl kommt der „Umbau“. Wir sind bereit für die Zukunft, da kann man nicht meckern.

Wie doch die Worte und Sätze locker dahin fließen! Auf der Ebene psychosozialer und politischer Verallgemeinerungen lassen sich Zeilen schinden ohne Ende, doch es befriedigt mich nicht. Das Klagen und Lästern über die „böse Welt“ ändert nicht nur nichts, sondern vermittelt auch immer den Eindruck, der Autor (und der ebenso entrüstete Leser) habe mit alledem nichts zu tun, sondern säße als unbeteiligter Beobachter auf einem Podest hoch über den Niederungen, in denen die Dummen und die Bösen das furchtbare Schauspiel dieser Welt zelebrieren.

Das Eintauchen in solches Schreiben und Lesen ist zwar entspannend. Man tröstet sich mit der Vorstellung, es besser zu wissen und erhaben zu sein – ganz ohne je darüber nachzudenken, inwiefern man selber Teil des Schreckens ist, der als „das Übel“ so angenehm auf Distanz gehalten wird. Und geht zur Tagesordnung über.
Mitmensch on Demand

Zum Beispiel Erziehung. Gewalt, so berichten Kundige in der Folge der Erfurter Schrecknisse, werde von den Jugendlichen heute öfter im Elternhaus erlebt als in der Schule – und weit häufiger als noch vor zwanzig Jahren. Gleichzeitig berichtet ein Radiosender von den Bemühungen des Gesundheitsministeriums, die um sich greifende Medikamentierung der Grundschulkinder zurück zu fahren. Bereits ein gutes Fünftel wird regelmäßig oder gelegentlich mit dem Beruhigungsmittel Ritalin sediert, das eigentlich nur für krankhaft hyperaktive Kinder entwickelt wurde.

Böse Eltern? Die einen sind so hilflos, dass sie schon mal zuschlagen, wenn der Nachwuchs nervt, die anderen benutzen die Errungenschaften der Pharmaindustrie, und wieder andere sind froh, die Kids in der Obhut zweifelhafter Medien sich selbst überlassen zu können: Videos, Computerspiele, vielleicht auch die pädagogisch wertvolle Hörkassette, Hauptsache, sie geben Ruhe!

Mir scheint, das Aufziehen von Kindern ist eine Sache, zu der heutige Individuen immer weniger in der Lage sind – aber ICH habe gerade kein Recht, mich über das Versagen von Eltern zu erregen, denn persönlich bin ich dem Thema Kind lieber gleich ganz aus dem Weg gegangen. Wer nichts macht, macht auch nichts falsch, da lässt sich’s locker kritisieren!

Besser, ich versuche, das Dilemma nachzufühlen: Was ist das Schreckliche an Kindern und Jugendlichen? Was ist der Kern der Überforderung? Immerhin begegne ich ihnen gelegentlich, erlebe Eltern im Umgang mit ihren Sprösslingen, spüre die Erschöpfung bei Freunden und Kollegen, wenn sie sich stundenlang liebevoll und engagiert den Bedürfnissen von 10-Jährigen fügen. Ich kann mich verabschieden, wenn es mir zuviel wird, sie nicht.

Was ist dieses „zuviel“? Es ist das rücksichtslose Eindringen in unsere Blase der Wahrnehmung. Kinder sind noch nicht so sehr „im eigenen Kopf versponnen“ wie der durchschnittliche Erwachsene, der gelernt hat, die Welt und ihre Anforderungen auf Distanz zu halten und sich den Dingen nach eigenem Plan zu widmen. Das Leben wird immer komplizierter, die Anforderungen an den Intellekt steigen. Ich muss jede Menge Informationen aufnehmen und wesentlich mehr Kontakte auf unterschiedlichsten Ebenen pflegen als es noch vor zwanzig Jahren möglich und üblich war. Der Siegeszug der E-Mail (und der SMS) spricht eine deutliche Sprache: Man brettert nicht mehr einfach so rein in ein anderes Leben, indem man jemanden anruft oder gar aufsucht. Nein, man schiebt seine Botschaft in einen elektronischen Speicher, in die Mailbox oder auf den Anrufbeantworter, damit der Andere nach eigenem Gutdünken darauf Zugriff nehme, wann immer es ihm passt. Mitmensch on demand, alles andere wird zur Überforderung.

Wir tragen Scheuklappen, die Jahr für Jahr dichter werden. Die Individualisierung, diese wunderbare Freiheit, Arbeit, Beziehungen, Wohnort, Werte und Bindungen weitgehend selber wählen zu können, verschärft die Lage noch, denn auf Gemeinsamkeiten aus Herkommen und Tradition, auf irgend welche Selbstverständlichkeiten kann niemand mehr zählen. Statt dessen müssen wir uns informieren (= in verwendbare Form bringen) und kommunizieren, taktieren, planen, verhandeln, Kompromisse schließen. Um überhaupt noch zusammen zu wirken, bedarf es des ständigen Stroms medialer Berieselung und jeder Menge technischer Interfaces, die ihrerseits hohe Anforderungen an die Lernfähigkeit mit sich bringen. Alles zusammen ergibt eine extrem einseitige Belastung des Intellekts, zwingt zur Rationalität, zum berechnenden Denken, das immer eine Zukunft plant und das „Jetzt“ nur als Mittel zum Zweck betrachtet. Gefühle sind dabei eher störend und der Körper wird – wenn überhaupt – mühevoll fit gehalten, damit er im üblichen Sitzleben nicht vorzeitig ausfällt.

Leben aus dem Tunnelblick: Ich nehme nur wahr, was mir nützt und was in meinen Plan passt. Anforderungen von außen sind Störfaktoren, die es zu bekämpfen gilt – gibt es überhaupt noch ein „außen“? In vielen Köpfen offensichtlich nicht. Der Status quo des Tunnelblick-Bewusstseins wird jedoch selber zum Störfaktor mit zunehmender Neigung zum Katastrophischen. Vor einer Berliner Grundschule ist gerade ein Spielgerät zusammengebrochen, einige Kinder brachen sich Arme und Beine: Es war eine Art Karussel auf einem Holzstamm, der im Sandboden steckte. Bei jedem Regen stand lange das Wasser um den Stamm, das hatten viele gesehen und konnten es in die Mikrophone erzählen. Aber nie war jemand auf die Idee gekommen, der Stamm könne durchfaulen, natürlich nicht, niemand hat Zeit, an so etwas zu denken. Und wenn doch, wäre man ja gewiss nicht zuständig!

Vor drei Wochen versuchte ich, in einer sozialen Einrichtung bei mir um die Ecke einen Raum für einen Abend pro Woche zu mieten – und zwar zu einem festen Starttermin. Die Angestellten waren freundlich, sagten zu allem „ja gerne“, hängten sogar meine Ankündigungsplakate auf, auf denen der Termin stand. Und sie sprachen davon, dass sie mir einen Schlüssel machen lassen würden, damit ich in die Räume komme – insgesamt vier Leute sprachen immer wieder davon, waren weiterhin freundlich, schoben sich das Vorhaben gegenseitig zu und verwiesen aufeinander – letztlich aber brachten sie es nicht zustande, auch zu tun, was sie sagten! Ich war nicht mal richtig sauer, so seltsam kamen sie mir vor: wie Zombis in einem Traum, zu denen man einfach nicht durchdringt, egal, wie laut man schreit.

Wieviele Menschen wohl in diesem Zombi-Tum ihr Leben verbringen? Wie oft bin ich selber so? Können uns bald nur noch Amok-Läufer, Selbstmordattentäter und Kamikaze-Piloten für ein paar Augenblicke aus dem täglichen Schlaf aufstören?

Ob dieser Text, in dem ich mir das Ganze für heute von der Seele schreibe, ein wenig wacher macht? Glaub‘ ich nicht, Worte werden maßlos überschätzt. Wir lernen allein durch die Folgen unserer Taten – im Moment tut mir zum Beispiel der Rücken vom langen Sitzen weh, besser, ich mach‘ jetzt Schluss und gehe ein bisschen im Zimmer umher.

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Claudia am 15. April 2002 — Kommentare deaktiviert für Sumpfpegel steigend

Sumpfpegel steigend

Schon den ganzen März über gelingt es mir nicht, etwas über die Welt „da draußen“ zu schreiben. Wenn sich der Blick unvorsichtig vom Detail abwendet und diese seltsame Gesellschaft im Niedergang ins Auge fasst, wird mir so schlecht, dass der Schreibimpuls gleich wieder verschwindet. Es verschlägt mir die Sprache, stumm stiere ich auf den blinkenden Cursor und schließe dann das Schreibprogramm. Nicht lästern, nicht jammern, weder spöttische Kolumnen, noch tief entrüstete Tiraden, keine Relativierungen und Distanzierungen, uberhaupt kein Zuschütten fremder Gehirne mit noch mehr überflussigem Ballast – das ist die letzte Zärtlichkeit fürs große Ganze, die ich derzeit zustande bringe.

Manchmal kommt mir dann der verrückte Gedanke, mich völlig abzuwenden, nicht nur, was das Schreiben angeht. Warum interessiert mich das alles uberhaupt noch? Es zwingt mich ja keiner, die täglichen Widerlichkeiten fortlaufend zur Kenntnis zu nehmen. Die Ausbreitung des Sumpfes aus Korruption, Betrug und hemmungsloser Gier, die Ausplunderung sozialer Netze, die gut-gelaunte Beraubung wehrloser Noch-Steuerzahler – all dem kann ich sowieso nichts entgegen setzen – warum also uberhaupt noch hinsehen?

Manche meinen (und schreiben das sogar in ihre Webtagebücher), es gehe uns zu lange schon zu gut. Mal wieder ein Krieg wäre gar nicht so schlecht, er würde die Menschen aufwecken, das tagliche Lügen und Betrugen auf einen Schlag beenden – Wahrheit unter Stahlgewittern? Mir gruselt!

In Berlin ist das Hauen & Stechen im Kampf um die Zuwendungen der unter Schuldenbergen versinkenden öffentlichen Hände gerade besonders extrem. Jede Abendschau bringt die neuesten Sparbeschlüsse, dann die heftigen Proteste der Betroffenen, routiniert veranstaltete Demonstrationen, das tägliche „Nein“ der Gewerkschaften zu jeglichen Kurzungen; dazu immer neue kriminelle Aktivitäten von Ärzten, Apothekern und Sozialamtsmitarbeitern, die sich locker aus den Kassen und Steuertöpfen bedienen, in die wir alle einzahlen. Kontrolle findet nicht statt, wer sollte die denn ausüben, wie sollte man das finanzieren und organisieren???

Die Software ist schuld, sagt man im Sozialamt, die kontrolliert die Abbuchungen der Sachbearbeiter nicht, was will man da machen? Ärzte rechnen Unsummen über die Behandlung unzähliger „Patienten“ ab, die niemals bei ihnen in der Praxis waren, ganze Kartelle fliegen auf, die sich die „Kärtchen-Daten“ massenweise gegenseitig weiter reichen, die Staatsanwaltschaft ist überlastet und wird sowieso nur zufällig findig. und jeder Politiker und Funktionär, der in diesen Tagen einem Mikrofon zu nahe tritt, ist tief entrüstet! Böse Ärzte! Hey, ich erinnere mich noch sehr gut, dass das einzige Mittel, das diese Betrügereien effektiv verhindern könnte (nämlich den Patienten Rechnungen zu schreiben, wenn sie in der Praxis waren), zu Zeiten Andrea Fischers nicht beschlossen werden konnte: angeblich wurde man sich nicht einig, wer das Porto zahlt! auch aus der Speicherung verschriebener Medikamente auf der Mitgliedskarte ist nichts geworden, aus Datenschutzgründen, wie es heißt, doch faktisch wird hier einfach ein Freiraum zum unkontrollierten absahnen verteidigt – MIT Hilfe der Politiker.

Der Bäcker um die Ecke hat dicht gemacht, das Nichts breitet sich aus, zumindest in Gestalt leerer Laden. Gegenüber der Turkey wollte seinen Getränkestützpunkt verkaufen, muss aber nun doch weiter machen, denn er wird nicht aus dem 10-Jahresvertrag entlassen, wenn der Käufer nicht MEHR Miete zahlt – dabei berappt der arme schon seit Jahren einen total überteuerten „Nach-der-Wende-Preis“. Nicht weit davon sitzt eine nette Frau die letzten Monate ihres Jahresvertrags in ihrem Secondhand-Laden ab, sie hat ein Existenzgründerverfahren hinter sich, aber keine Kunden – leicht absehbar in dieser Nebenstraße ohne Laufpublikum, da muss ich kein professioneller Berater sein, um das zu bemerken. Keine Bankgesellschaft hilft solchen Menschen, sie können niemanden bestechen und haben das Pech, nicht von öffentlichen Mitteln, sondern vom Endverbraucher zu leben. Der macht sich rar zur Zeit, behält sein Geld bei sich, guckt Abendschau und beobachtet das „sozial ausgewogene Sparen“. Nicht sparen müssen die Glücklichen, an die die Manager der Bankgesellschaft diese tollen Immobilienfonds mit der für 23 Jahre zugesicherten Rendite verteilt haben – obwohl die Immobilien bereits leer standen. Berlin hat das jetzt für die nächsten 23 Jahre im Haushalt, na klar! und die Verantwortlichen beziehen noch über Jahre ihre Pensionen und Abfindungen in Millionenhöhe, da kann man auch nichts dran andern, Vertrag ist Vertrag.

Ach, jetzt hab‘ ich mich ja doch hinreißen lassen, im Sumpf zu wühlen! Zur Zärtlichkeit durch Schweigen hat es heute leider nicht gereicht. Gibt es vielleicht was Positives, so für den Schluss? Das mit öffentlichen Mitteln aufwendig restaurierte Altberliner Klohäuschen am Boxhagener Platz soll Ende März wieder eröffnet werden, lese ich im Wochenblatt. Ob man das glauben soll? Es war schon letztes Jahr fertig, doch nach wenigen Tagen ereignete sich ein Wasserrohrbruch, das „aus“ für die Anlage – wer sollte denn auch die Reparatur bezahlen???? Bis zum Wintereinbruch beschwerten sich die Anwohner fortlaufend über den Gestank – es ist ja nicht so, dass die Leute sich hier NICHT erleichtern, nur weil das Klohäuschen dicht hat! Nichts hat geholfen – aber JETZT, inmitten der schlimmsten Sparmaßnahmen, soll das „Café Achteck“ wieder öffnen? Vielleicht ein Zeichen des kommenden Aufschwungs…

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Claudia am 15. April 2002 — Kommentare deaktiviert für Worte, Taten – meditieren?

Worte, Taten – meditieren?

„Wissen, Wollen, Wagen, Schweigen“ – der uralte Merkspruch aus der abendländischen Magie kommt mir gelegentlich in den Sinn, wenn ich darüber nachdenke, wieviele Vorhaben und kreative Ideen einfach versacken, anstatt realisiert zu werden. Das liegt nicht allein an Trägheit, mangelnder Energie oder an den Schwierigkeiten, die plötzlich auftreten. Das letzte Stündlein einer angedachten Veränderung schlägt oft schon dann, wenn man darüber redet, gar darüber schreibt und das veröffentlicht.
Ich liebe Fernsehdokumentationen über naturnah lebende Völker, zum Beispiel über die Nomaden in Kasachstan und Sibirien. Der Kontrast zu unserem Leben könnte nicht größer sein, und immer wieder wundere ich mich, wie sie es aushalten, von morgens bis abends für das bloße überleben hart zu arbeiten – allenfalls noch für ein einziges großes Fest im Jahr. So etwas wie „Freizeit“ ist ihnen unbekannt und mir scheint, deshalb reden sie kaum darüber, was sie jetzt tun sollten, warum sie es tun und was daran anders vielleicht besser wäre. Veränderungen entstehen – wenn überhaupt – aus Notwendigkeit, nicht aus endlosen „Besprechungen“.

Freie Zeit – zwanghaft folgenlos?

Die „Freizeitkultur“ ist ein schwarzes Loch, ein als luxuriöse Errungenschaft gepflegtes Grab sämtlicher Veränderungsimpulse. Klar, in der Freizeit führt man zweckfreie Gespräche, erhält Anstöße für manches umdenken, es entstehen neue Wünsche und Meinungen – aber dann ist sie wieder ‚rum, die Freizeit, und der arbeitsalltag hat seine eigenen Gesetze. Es ist unendlich mühsam, eine erwünschte und rundum „besprochene“ Veränderung tatsächlich im Leben zu verwirklichen. Das geht mir immer wieder so, in kleinen und größeren Dingen. als ob ein Tabu über der freien Zeit läge: hier hat alles Platz, die Welt der Möglichkeiten kann sich schrankenlos entfalten, nur folgenlos muss es bleiben, sonst wär‘ es doch keine FREI-Zeit!
Ich treffe einen Bekannten, wir erzählen, was wir so machen und was wir von der Welt in diesem und jenem Punkt denken. Schon bald sind wir dabei angekommen, über Ideen, Vorhaben und „Probleme“ zu sprechen, die Gedanken fliegen, die Stimmung ist gut, ein Gefühl von aufbruch mag sich einstellen. Dann ist die Zeit vorbei, man verabschiedet sich und widmet sich wieder dem alltag, ganz wie gehabt. Wer kennt das nicht?

Oder ich hab‘ gerade ein Stück notwendige Arbeit hinter mich gebracht, nichts Zwingendes liegt an – was jetzt? Eine innere Stimme sagt: Jetzt hast du so anstrengend gearbeitet, du kannst doch nicht einfach so weiter machen! Abspannen ist angesagt – ich leg mich dann aufs Bett und lese einen literarischen Krimi, blättere in der ZEIT, guck mir Weltspiegel und Nachrichtensendungen an – und meine innere To-Do-Liste bleibt unabgearbeitet.

Die innere Liste

Diese To-Do-Liste füllt sich von ganz alleine und bildet sozusagen einen Arbeitsplan für die freie Zeit: Ich sollte 5 Kilo abnehmen, sollte öfter ins Fitness-Center gehen, endlich wieder aufhören zu rauchen und weit mehr trinken (Wasser!). Ich sollte mir ein Ehrenamt suchen und einen neuen Draht finden, aktiv am politischen Leben teil zu nehmen. Ich sollte meditieren, mir wieder mal ein anderes Sitzmöbel zulegen, mich mehr weiter bilden und meine diversen Projekt-Ideen konsequent umsetzen… ich sollte, ja. aber ich machs nicht, bzw. nur gelegentlich und mit Mühe, nicht „im Fluß“ des ganz normalen Lebens.

„Es muss ein Ruck durch Deutschland gehen!“, wird gerade hier überall plakatiert. Mir scheint, nicht nur ich kämpfe mit seltsamen Formen von Stagnation. Ein Mehr an Kommunikation ist dabei vielleicht gerade kontraproduktiv. Wir können uns nicht von oben oder außen sagen lassen, wie wir „rucken“ sollen! Gerade diese innere Ausrichtung auf die Stimmungen eines „man“, seien es plakatierende Verbände, die Beschwörungen der Obrigkeit, die in den Medien veröffentlichten Meinungen oder die Bedenken und Interessen konkreter Gruppen und Individuen, mit denen wir interagieren: es lähmt eher. Es füllt vielleicht die innere To-Do-Liste weiter auf, doch die ist letztlich nur eine Bürde, die mich behindert, das zu tun, was NOT-wendig ist, und das zu sehen, was WIRKLICH ist.

Die Liste zusammenstreichen

Vor etwa einem Jahr hab ich es gewagt, das „Du solltest meditieren!“ von meiner inneren Liste ersatzlos zu streichen. Natürlich hat mir das niemand aufzwingen wollen, die innere Liste ist ja eine Sammlung ureigenster Ansprüche, Vorstellungen und Wünsche. Wie viele meiner Generation las ich lebenslang immer wieder Bücher über Meditation, kam gelegentlich in Kontakt mit Gruppen, die Meditation üben, hatte faszinierte Phasen, in denen ich ernsthaft versuchte, täglich zu „sitzen“ – und nicht zuletzt gehört es untrennbar zum Yoga, den ich seit mehr als 10 Jahren praktiziere, in unterschiedlicher Intensität. Die letzen 20 Minuten einer Yogastunde sitzen wir still in der Runde – und das ist gut so, der Körper ist durch die übungen ruhig geworden, ein schönes Loslassen, kein Problem.

Anders das „engagierte Meditieren“, diese fruchtlosen Versuche, durch Selbstdisziplin im rituellen „Sitzen“ irgend etwas zu erreichen. Immer wieder andere Meditationsweisen: den Gedankenfluß beobachten, Bilder imaginieren, Worte, Sprüche, Töne, Empfindungen als Focus benutzen, es gibt ja so vieles! Sich dabei immer ein bißchen komisch vorkommen: Meditation ist das Gegenteil von „etwas erreichen wollen“ – warum um Himmels Willen mach‘ ich das also?

Genug davon, das liegt weit hinter mir. Nur stand es noch ziemlich lange auf der inneren To-Do-Liste: „Du sollst meditieren, vielleicht nicht jetzt, vielleicht später, aber irgendwann ganz bestimmt!“ Immer wollte ich jedoch andere Dinge lieber tun, und eines schönen Tages kam mir der Gedanke: Sitzen? Den Teufel werd‘ ich tun! Ich werde mich setzen, wenn alles getan ist, was ich lieber tue, keine Sekunde vorher!

Ich vergaß Meditation. Sogar wenn sie mir in einem Buch begegnete oder in einem Gespräch, kam der Ich-sollte-Gedanke nicht mehr auf. Schließlich denke ich auch sonst nicht bei allem, was ich sehe, dass ich das auch brauche.

Tatsächlich interessiere ich mich für ganz andere Dinge. Zum Beispiel ist es ungeheuer spannend, zu beobachten, wie während des Sitzens vor dem Monitor unzählige Impulse von außen und innen um meine Aufmerksamkeit kämpfen. Ich arbeite mit ca. acht offenen Programmen, zappe vom Schreiben eines Textes zum Bearbeiten eines Bildes hin zum Coding einer Website – alles immer wieder unterbrochen vom Lesen der hereinkommenden E-Mails. Ich „besuche“ 12 verschiedene Mailinglisten, zwar nur punktuell, aber wenn ich in eine „reinlese“, dann entführt das meinen Geist wieder in eine ganz neue Richtung. Im Laufe eines Tages bin ich bestimmt mit 50 verschiedenen Themen befaßt und arbeite an fünf bis zehn aufgaben, unterbrochen von unüberschaubar vielen freiwilligen und unfreiwilligen Ablenkungen. Die Zerstreuungsmaschinerie, der ich mich so fortlaufend aussetze, ist beispiellos, nie da gewesen und es ist ein Wunder, dass ich überhaupt noch irgend etwas zustande bringe.

Und wie das dann weiterläuft, wenn ich den Monitor mal verlasse! Viele Themen hallen nach, der Geist ist noch immer „im Summs“, aber es entspannt sich ein klein wenig, man spürt den Versuch, eine Ordnung hinein zu bringen, etwas will neue Prioritäten setzen. Wer? Was? Ich schau doch nur zu! Die innere To-Do-Liste bringt sich in Erinnerung, andrerseits ist da auch diese geistige Müdigkeit, die mich dazu veranlasst – einfach mal so zum abspannen – die Aufmerksamkeit auf eine Körperempfindung zu focussieren, den Atem zum Beispiel. auf dem Laufband im Fitnesscenter geht das recht gut, im Liegen ziehe ich das Strömen und Gribbeln in den Muskeln vor. Oh, wie entpannend! als würde man das Hirn in klares Quellwasser und reine Luft tauchen! Doch gleich sind sie wieder da, die planenden und berechnenden Gedanken, ein Stück weit folge ich ihnen, dann fällt mir wieder ein: Ich MUSS ja nicht, gönne mir ja gerade eine PAUSE, – kehre also zum Atem zurück, genieße die zunehmende Verlangsamung dieses hektischen Hin und Hers. Und plötzlich: ein Augenblick ohne Denken, ohne alles, ohne MICH. Eine Lücke in alledem – was war das? Wie könnte ich diese Lücke nochmal erzeugen, wieder erleben, genauer betrachten? Aber WER sollte da WAS betrachten, wenn da doch „gar nichts“ war???
Sehr seltsam, aber doch interessant. Was so alles vorkommt in einer kleinen Pause! Jetzt liege ich manchmal ein wenig länger, bevor ich zur Zeitung greife – und nach diesem Artikel geh ich aufs Laufband. Gottlob muß ich ja nicht „sitzen“, brauch‘ nicht zu meditieren…

Vielleicht wär‘ es eine gute Idee, auch den anderen Kram von der Liste zu streichen?

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