Thema: Schreiben & Bloggen

Claudia am 03. November 2001 — Kommentare deaktiviert für Vom Krieg reden

Vom Krieg reden

Seit dem Anschlag auf das WTC hat es im Digidiary nur zwei Beiträge zum Thema gegeben: „Vom Glück mitten im Grauen„, etwa eine Woche danach, und „Der Feind: die eigene Frage“ am 12.Tag der Bombardierung Afghanistans. Das ist wenig, sehr wenig. Warum nur diese extreme Sparsamkeit angesichts von Ereignissen, die die Welt bewegen wie nichts sonst seit dem Fall der Mauer?

Auch in Mailinglisten diskutiere ich nicht, lese nicht einmal mehr mit, wenn diejenigen, die das Wort ergreifen, mit tödlicher Sicherheit aneinander geraten – egal, wie sehr sich der Einzelne bemühen mag, gerade das zu vermeiden. Zum Nachdenken über den Krieg bevorzuge ich wieder traditionelle Medien: die ZEIT, den SPIEGEL, die Berliner Zeitung, selten die TAZ, dazu ARTE und 3SAT – die panisch-hysterischen Brennpunkte in ARD und ZDF hab‘ ich mittlerweile abgewählt.

Ein Grund, mich weitgehend mit eigenen Meinungen zurückzuhalten, ist das, was ich den „inneren Mainstream“ nenne. Wenn ich ehrlich in mich hineinsehe, finde ich dort allermeist genau die Gefühle und Gedanken, die die Demoskopie gerade als „Mehrheitsmeinung“ oder als „wachsenden Trend“ ermittelt. Am Anfang das fassungslose Erschrecken, auf das schnell ein Bedürfnis nach dem wie auch immer zu leistenden „Strike back“ folgte – und dann die wachsende Unzufriedenheit mit dem Krieg, je länger er dauert und je mehr Bilder von zivilen Opfern präsentiert werden, verbunden mit einer immer kritischeren Haltung gegenüber den USA.

Dieses innere Mitschwingen mit dem, was MAN denkt, kann ich nicht mehr ganz ernst nehmen. Nicht, dass ich es im Einzelnen kritisieren könnte, das wäre Schizophrenie, aber in seiner automatenhaften Zwangsläufigkeit ist es mir ausreichend suspekt, um es zumindest nicht als „handlungsleitend“ anzusehen. Es wäre geradezu hirnrissig, für irgendeine aktuelle Position in den Ring zu treten, wenn ich doch weiß, dass diese in einer Woche schon wieder ganz anders aussehen kann, je nach Informationslage und medialem Input. Mehr noch: Es scheint mir ganz unmöglich, angesichts der Komplexität, die das ganze Thema mittlerweile angenommen hat, überhaupt irgend eine Position zu vertreten, von der ich noch glauben könnte, dass sie wahr und richtig, oder auch nur „erfolgversprechend“ sei.

Dass ich bei dieser Erkenntnis stehen bleiben kann, sehe ich als Privileg. Ich darf den Mund halten und außer ein wenig Verwunderung beim einen oder anderen Leser droht mir deshalb nichts. Die Meinungsfreiheit in einem demokratischen Staat umfasst das Recht, zu schweigen, genau wie die Möglichkeit, jeden Schrott zu verzapfen, der einem gerade in den Sinn kommt – bis hin zu Verschwörungstheorien, die davon ausgehen, der CIA hätte das WTC selber in die Luft gejagt, um endlich gegen die Taliban in den Krieg ziehen zu können (=politische Bildung per „Akte X“).

Wir dürfen denken und schreiben, was wir wollen. Das ist gut so und davon wird ja auch weidlich Gebrauch gemacht. Mittlerweile ist der Schrecken und die erste Solidarisierung von der Volksseele gewichen und die meisten Denker & Schreiber kehren zu ihren immer schon geliebten Denkfiguren und Weltsichten zurück, ordnen die Ereignisse säuberlich entsprechend ein und widmen sich dem Geschäft der Meinungsbildung: dem Volk sagen, was gut und richtig ist, und denen da oben beibringen, was sie alles falsch machen. Das intellektuelle „Business as usual“ geht seinen Gang, was wäre auch anderes zu erwarten?

Was mich dabei immer wieder wütend macht, ist die Ignoranz bezüglich der eigenen Position und Privilegierung, die vom anerkannten „Experten“ bis hin zum schlichten Mailinglisten-Autor zu beobachten ist. Die Analysen, Meinungen und Forderungen mögen überdacht und gut gemeint sein, aber wer tut das denn im klaren Bewusstsein, dass dieses „Meinungen vertreten“ etwas ganz anderes ist als das „Handeln müssen“ der politischen Akteure?

Zum einen vermisse ich die Zurückhaltung im Urteilen und Verurteilen, die aus einem solchen Gewahrsein automatisch folgen würde, zum anderen sehe ich ein Bemühen, sich selber immer hübsch auf der sicheren, sauberen Seite zu halten und moralisch möglichst unangreifbare Positionen einzunehmen – wohl wissend, dass Moral alleine im politischen Geschäft nicht ausreicht. Für mich ist damit dann auch das Ende der intellektuellen Redlichkeit erreicht.

Es wird Zeit für ein Beispiel. Eine derzeit wieder gern genommene Simplifizierung allzu komplexer Sachverhalte ist die „Öl-Brille“: Es gehe den USA doch „nur ums Öl“ – der Krieg werde „in Wahrheit“ wegen einer durch Afghanistan zu verlegenden Pipeline geführt, bzw. um eine weitere USA-hörige Öl-Provinz zu errichten. Ich halte diese platte Sicht der Dinge für falsch, angesichts der beispiellosen Geschlagenheit der amerikanischen Bevölkerung, die eine kriegerische Antwort faktisch unausweichlich machte, auch für dumm. Aber das ist nur meine Meinung, darauf will ich jetzt nicht hinaus – sondern darauf, auf welchem Hintergrund dieser Vorwurf von denjenigen, die ihn im Gestus moralischer Empörung erheben, eigentlich formuliert wird.

Als hätten wir alle mit dem Öl nichts zu tun! Da sitzt der Autor in seinem ölzentralbeheizten Altbau in seinen kunststoffbeschichteten Designermöbeln und schreibt seinen Text, erhebt sich dann, fährt mit dem Mittelklassewagen zum Flughafen, steigt dort in den kerosinfressenden Flieger zur nächsten Tagung des Verbandes XY, wo er seine Thesen vorträgt: Der böse Westen, allen voran die USA, halten ihre Hände aufs Öl, unterstützen undemokratische Regime, solange sie nur den Nachschub sichern und leisten dadurch dem Terrorismus Vorschub, weil die aufstrebende Intelligentia in diesen Ländern keine legale Perspektive in der Opposition entwickeln kann.

Tja, daran ist mit Sicherheit viel Wahres! Danach geht’s dann zum Italiener, im kleinen Kreis wird weiter diskutiert, bei Parmaschinken, Chianti und Aqua Pellegrini, die es vor dem letzten Tunnel-Unfall auf ihren transalpinen Brummis gerade noch hergeschafft haben. Salute!

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Claudia am 29. September 2001 — Kommentare deaktiviert für Virtuelle Räume

Virtuelle Räume

Wenn ich zwei Tage kein Diary schreibe, überkommt mich am dritten, spätestens am vierten Tag ein dringliches Bedürfnis, mich hinzusetzen, auf die „leere“ Datei zu starren und in mich hinein zu lauschen, was da jetzt wohl „zum Ausdruck“ drängt. Keinesfalls ist es ein Gefühl der Pflicht, eher eine Sehnsucht, in diesen stillen Raum der Selbstversenkung einzutreten, der sich mir schreibend so leicht eröffnet wie nirgends sonst. Kein Thema ist vorgegeben, keine Form von irgend jemandem verordnet, die Erwartungen der Leser sind so unterschiedlich wie diese selbst und also auch keine Leitlinie, die mich auf bestimmten Spuren halten würde. Volle Freiheit also, und was auf diese Weise entsteht, landet mit einem Mausklick in den unendlichen Weiten, hierjetzt und nicht erst nach Monaten oder halben Jahren wie im Reich gedruckter Worte. Weiter → (Virtuelle Räume)

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Claudia am 24. April 2001 — Kommentare deaktiviert für Ein ganz normaler Morgen

Ein ganz normaler Morgen

Dieser Beitrag entstand auf Einladung und ist auch im Netzliteratur-Blog erschienen.

Der erste Mailabruf gilt meiner „persönlichen Box“ – naja, persönlich stimmt zwar, gleichzeitig ist klinger@snafu.de aber auch meine älteste und bekannteste Adresse. Trotzdem ist das Verhältnis Mail zu SPAM immer noch erträglich, so ungefähr 9:1, und das nach fünf Jahren. Was mal wieder bestätigt, dass Paranoia keine zu erwägende Geisteshaltung ist… Weiter → (Ein ganz normaler Morgen)

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Claudia am 22. April 2001 — Kommentare deaktiviert für Wort zum Sonntag

Wort zum Sonntag

Heute schau‘ ich mal kurz zurück, z.B. ins Jahr 1996: Meine ersten Artikel „über das Internet“ handelten von Philosophie-Seiten im Web, danach berichtete ich über die Ökoszene und als nächstes waren spirituelle Seiten dran. Überall lernte ich nette Leute kennen, vor allem im Reich der Philosophie. Mein Cyberzine Missing Link trug denn auch den Untertitel „Für Philosophie und Webkultur“ und bot Gelegenheit, über Wirklichkeit und Virtualität zu diskutieren. Ich sammelte Antworten auf die Frage „Was ist Philosophie? (heute alles im Museum), es war eine gute Zeit. Weiter → (Wort zum Sonntag)

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Claudia am 02. März 2001 — Kommentare deaktiviert für Die Kindertage des Webs

Die Kindertage des Webs

Wie lange braucht eigentlich heute jemand, der neu ins Netz kommt, bis er oder sie bemerkt, daß es neben den Shopping-, Schnäppchen- und Info-Seiten noch etwas anderes gibt? Vielleicht mach‘ ich dazu mal eine eigene Umfrage, denn selbst in den üblichen Erhebungen zur „Netznutzung“ tauchen fast nur noch kommerzielle Kategorien auf. Douglas Rushkoff schreibt gerade in Telepolis über den Tisch der Freaks und diagnositiziert in den USA das „Wiedererwachen der Do-it-yourself-Kultur nach dem Dot.com-Crash“, und ich hoffe, daß auch hierzulande die NoCommerce-Szenen wieder lebendiger werden. Weiter → (Die Kindertage des Webs)

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Claudia am 28. Februar 2001 — Kommentare deaktiviert für Die Suche nach MEHR

Die Suche nach MEHR

Der PC funktioniert wieder. Es ist tatsächlich der größte anzunehmende Unfall gewesen: Motherboard kaputt! Gestern morgen nach Berlin gefahren, Gerät bei INDAT in der Brandenburgischen Straße abgegeben, vier Stunden später wieder abgeholt. Kosten: schlappe 270 Mark und nur 27,- für die Arbeit! Ich weiß schon, warum ich extra so weit fahre… Weiter → (Die Suche nach MEHR)

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Claudia am 12. Februar 2001 — Kommentare deaktiviert für Webwriting, Big Brother

Webwriting, Big Brother

Endlich ist das Update des Webwriting-Magazins fertig! Es hat doch zwei Wochen länger gedauert, als geplant, bzw. ich bin einfach erst später „in die Gänge gekommen“. Als ich wirklich „drin“ war, erfaßte mich wieder diese Freude der Produktivität, die gleichzeitig gegenüber dem Leben mit all seinen möglichen Problemen und Unsicherheiten ungemein optimistisch stimmt. Weiter → (Webwriting, Big Brother)

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Claudia am 19. Januar 2001 — 5 Kommentare

Nebel, Traum, Dr.Fine, Webdiarys

Unglaublich eintönig verstreichen die Tage, der neblig-trübe Himmel, das kühle Licht des Monitors, tagein tagaus dasselbe. Vormittags ein Besuch bei den Hühnern, Frischfutter verteilen, Scheiße von der Leiter kratzen, sie ein bißchen anstaunen: wie sind sie doch lebendig! Und wie sie mich ansehen – wie das wohl für sie ist?

Heute hat mich ein Traum in ein anderes Dasein katapultiert. Ich weiß nichts, wirklich gar nichts mehr von diesem Traum, außer dass er auf einer ganz anderen Ebene der Lebensenergie spielte: hoch spannend, erotisch, bis hin zu fast religiöser Ekstase. Eine Gefühlserinnerung, sonst nichts.

Ich lese gerade „Dr.Fine“ von Samuel Shem. Es ist die Geschichte eines Psychoanalytikers, der seit seiner Lehranalyse nicht mehr in der Welt, sondern in deren psychoanalytischer Deutung lebt. Es ist zum Schreien komisch, spannend, tragisch, herzergreifend und bildend, also alles, was man heute von einem Unterhaltungsroman wünschen kann. Und es geht – das tun nur ganz wenige – über diese Ebene hinaus, es vermittelt ein „mehr“, ohne dieses mehr zu benennen.

Ich frage mich immer, was es ist, das bei dem einen Autor sofort in die Geschichte hinein zieht, ohne Zögern und Stolpern, ohne „Längen“, aber doch mit genug Stoff, um die Personen lebendig zu machen, so lebendig, dass sie zu Freunden oder Feinden werden und das eigene Leben tendenziell aus dem Bewußtsein verschwindet. Ein geistiges Wunder, das – je älter ich werde – immer seltener geschieht. Und nur dann, wenn der Autor eine für mein Empfinden vollständig flüssige Sprache spricht, funktioniert es.

Update 2019 / Und hier der verdiente Werbelink:

Dr.Fine bei Amazon

Diarys und Öffentlichkeit

In der CT dieser Woche ist ein Artikel über Webdiarys erschienen, der mal ein bißchen MEHR bringt als das blosse Staunen über den Exhibitionismus der Schreibenden. Die Diary-Szene boomt mittlerweile, Hunderttausende schreiben ihre täglichen Eindrücke auf, manche geben tatsächlich Einblicke in intimste Gedanken und Gefühle, berichten über ihr Liebes- und Sexleben, ihre Ängste und Verrücktheiten. Es hat schon ein bißchen was von „Big Brother für Alphabeten“, keine Frage!

Obwohl ich selber die Ebene des totalen sozialen Outings vermeide, lese ich manches dieser Diarys ganz gern und frage mich gelegentlich, ob das nicht doch ein Übergangsphänomen ist: Wenn die Netzkompetenz der breiten Massen weiter wächst, werden viele das Suchen & Finden lernen und spasseshalber die Namen ihrer Freunde, Kollegen, Bekannten und Verwandten recherchieren. (Man glaubt ja gar nicht, was Google.com alles findet!) Und dann wird es immer öfter passieren, dass jemand mit einem selbstentblößenden Tagebuch morgens von seinem Arbeitskollegen wütend empfangen wird, weil er oder sie sich tags zuvor im Web allzu deutlich über den neuesten Streit ausgelassen hat. Damit nicht zu rechnen, ist nicht Mut, sondern Unwissenheit und Naivität, freundlich ausgedrückt. Selbst wer seine Seiten NICHT in den Suchmaschinen anmeldet, wird früher oder später von Robots verdatet, von anderen gelinkt oder die URL wird auch schon mal ganz unwissentlich von Lesern weiter verbreitet. (In meiner Referenzliste mit den automatisch erfaßten Adressen, WOHER die Leser kommen, fand ich schon manche Website, von deren „Öffentlichkeit“ der Verfasser sicher nichts ahnte.)

In jüngeren Jahren hätte ich vielleicht die Ansicht vertreten, dass totale Offenheit überall und zu jeder Zeit – also auch in der Öffentlichkeit – das anzustrebende Ideal sei. Davon bin ich allerdings weggekommen, denn: Was ich ausspreche, gar aufschreibe und in die weite Netzwelt schicke, gewinnt auch ganz ohne Absicht einen gewissen Ewigkeitswert. Schubladen in fremden Köpfen werden errichtet, die so ohne weiteres nicht mehr wegzukriegen sind – auch wenn das Ereignis, das mich gerade bewegt, meine Leiden und Freuden und meine Gedanken darüber morgen schon wieder ganz anderns aussehen mögen. Auf diese Weise baue ich mit an der eigenen Unfreiheit, mache mich erreichbar und definierbar – doch das bin ich nicht!

Diary-Schreiben ist für mich eher eine Form, Distanz zu mir selbst zu gewinnen. Wenn ich an ganz konkreten Dingen leide, die mit meinen Nächsten zusammen hängen, fühle ich natürlich den Impuls, zu schreiben. Doch gerade die Anforderung, Intimität und Privatheit niemals zu verraten, unterstützt mich dabei, das Konkrete auf eine allgemeinere Ebene zu heben. Es bringt mich weg vom Kreisen im eigenen psychischen Sumpf und damit ist der Hauptzweck schon erreicht.

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