Claudia am 18. September 2001 —

Vom Glück mitten im Grauen (9/11)

„Kaum bist du mal weg, geht die Welt unter“, schreibt mir ein Leser ins Forum, den es interessiert hätte, zum aktuellen Desaster meine laufenden Kommentare zu lesen. Ein anderer fragt nach, ob denn wirklich jeder etwas dazu sagen müsse. Und gerade bekomme ich eine Mail, dass der Initiator des von mir betreuten Forums der 13 aus dem Projekt ausgetreten ist und seine Funktionen niedergelegt hat. Warum? Offenbar wurde in der Diskussion über die schrecklichen Ereignisse zu viel Falsches gesagt, jedenfalls für ihn Unerträgliches. Als nächstes schau ich in die Mailinglisten: 768 Mails, davon viele zum Thema „Amerika wird angegriffen“. Jetzt komme ich wirklich ins Staunen, WAS da so alles diskutiert wird („Passt nun die Prophezeiung des Nostradamus oder nicht?“) und mehr denn je stößt mich das übliche Listengeschehen ab, das geradezu automatenhaft darauf hinausläuft, sich zu streiten bis hin zum „Stellvertreterkrieg“.

Und jetzt, zum Ende einer knappen Woche Netz-Abstinenz, bin also ich dran? Nach all diesen Tagen kommt es mir absolut unmöglich vor, noch irgend etwas RICHTIGES zu sagen, so ein nach allen Seiten rundes Statement mit Sinn – zu diesem Grauen! Das versuch‘ ich also gar nicht erst. Statt dessen empfehle ich Euch Ralph Segerts „Suche nach Zusammenhängen“ im Krit-Journal:

„Wir sammeln aktuelle Links, die helfen, sachlich mit dem Terrorakt gegen die USA umzugehen und über die globalen Folgen und das richtige Handeln nachzudenken. Die Liste wird mehrmals täglich aktualisiert.“

Tolles Engagement in bester Netizen-Tradition! Ein schnell wachsendes „Portal“, an dem viele mitwirken, und vor allem ein Gegengewicht gegen die in großen Teilen widerliche und verantwortungslose Weise, wie traditionelle Medien derzeit die Emotionen der Menschen ausbeuten, verstärken und in ganz bestimmte Richtungen lenken.

Am Tag X hatte ich morgens noch den Beitrag „Schöne Welt“ verfaßt. Nachmittags rief mich ein Freund an und schickte mich mit den Worten vor den Fernseher: „Die Globalisierung hat die USA erreicht, das World-Trade-Center stürzt gerade ein und auch das Pentagon ist getroffen.“

WIE BITTE? Ich spürte Leere im Hirn und ein komischer Lachreiz überkam mich. Will er mich in den April schicken? Mitten im September? Da ich ihn allerdings nicht als geschmacklosen Scherzbold kenne, war ich zumindest irritiert, mußte ihm schließlich glauben und rannte total alarmiert vor die Glotze. Fassungslos sah ich die Bilder, diese berühmten Sequenzen, mittlerweile millionenmal ausgestrahlt und abgedruckt, als wären sie das Logo fürs dritte Jahrtausend. Ich fühlte Entsetzen, Schrecken, doch immer noch war da auch Ungläubigkeit, als wäre ich im falschen Film, als wäre ich mir nicht recht sicher, ob ich wache oder träume. Doch je öfter ich es dann gesehen hatte, je mehr Infos gesendet wurden, umso mehr verschwand der letzte Zweifel: dies war „echt“ und Real Life war gerade dabei, alle Katastrophenfilme dieser Welt bei weitem in den Schatten zu stellen! Fasziniert schaute ich ins Gerät, klebte geradezu an der Glotze.

Wenig später, den ersten Schock knapp hinter mir, bemerkte ich, dass ich bereits dabei war, mich an der Katastrophe zu ergötzen: Faszinierend, diese Szene, in der das Flugzeug in den Tower knallt, beeeindruckend, wie die Türme in sich zusammenstürzen… und schrecklicher noch: Ich will MEHR sehen, mir fehlt der Nahblick auf die Betroffenen, die Sterbenden und Toten, die üblichen Berichte von Passanten, all das, was üblicherweise bei Katastrophen sofort gesendet wird, in diesem Fall aber noch ein paar Stunden auf sich warten läßt (um dann tagelang non stop gesendet und gedruckt zu werden…). Ekelhaft, ja. Aber dieser Selbstekel war ein leises Gefühl am Rande, es dominierte der Schrecken in nicht zu leugnender Vermengung mit Katastropheneuphorie, Angstlust am Ausnahmezustand, ein archaischer Anteil in mir atmete tief durch, fühlte sich befreit vom langweilig-zivilisierten Leben, das wir alle gewöhnlich führen.

Während meiner Kurzreise nach Wiesbaden übte ich dann weitestgehend Medienabstinenz, kümmerte mich zwar darum, zu verfolgen, was geschah, wollte aber nicht das Instrument sein, auf dem die Mächte und Medien nun ihre heißen Suppen zu kochen begannen. Und doch: Ich war dabei, das schreckliche Geschehen blieb überall präsent und ich spürte und fühlte mit, beobachtete auch weiter das eigenartige Gefühlsgemisch, das auf die Angstlust folgte – und wie auch DAS gleich wieder vom medialen und politischen Mainstream aufgenommen und „ausgerichtet“ wurde und noch immer wird.

Es gibt nämlich ein großes GLÜCK mitten im Grauen, eines, das an den Ausnahmezustand gebunden ist: Auf einmal steht die Welt still, das gewöhnliche Geschäft ist tot, das Rattenrennen setzt aus, endlich! Der Mensch da drüben ist plötzlich Mitmensch, Nachbar, Bruder, Schwester, alle sind wir Gefährten im Entsetzen und nicht mehr potentielle Gegner oder einander vollkommen gleichgültig wie sonst. Wo normalerweise jeder ganz in sich versunken seiner Wege geht, um sich her nichts sehend und nichts hörend, stracks von A nach B strebend, um den Erfordernissen des rechnenden Denkens zu entsprechen, eröffnet sich eine andere Dimension. Nichts Fremdes, sondern etwas immer Ersehntes, ein Raum der Gemeinschaft, des spontanen Miteinanders, ein Stück Paradies und echte Heimat, in dem wir die Lizenz zum Miteinander reden nicht erst kaufen müssen. Gefühle nicht mehr voreinander verbergen, sich schwach und weich, geängstigt und traurig zeigen zu können – ohne Angst, vom Anderen deshalb gleich in die Pfanne gehauen zu werden! Das schlägt schnell um in hintergründige Euphorie, Freude, ja, für kurze Zeit sind wir Liebende mit heißen Herzen – und genießen es, genießen unser eigenes Bestes und Menschlichstes, mitten in der Katastrophe.

„Und alle Lust will Ewigkeit…“ – Nietzsche.

Wer möchte nicht gern in diesem Raum der Gemeinschaft möglichst lange bleiben? Wer hat schon Lust, zu den üblichen Alltagsgeschäften überzugehen, zum ganz normalen Kampf ums Dasein, jeder gegen jeden? Zur verwalteten Welt der sperrigen Geräte und langweiligen Formulare, dem zähen Verhandeln im Politikgeschehen, dem Feilschen und Tricksen im Ökonomischen? Jenseits aller rationalen Gründe und Notwendigkeiten WOLLEN wir den Ausnahmezustand halten, ihn verlängern… aber wie?

Was könnte nicht alles sein, wenn wir uns auf diesen Gedanken in aller Aufrichtigkeit einlassen würden? Doch halt, das ist nicht gefragt! Zum Bewußtsein kommen, sich all dieser Gefühle gewahr werden und selber daraus Schlüsse ziehen, Folgerungen für das je eigene Leben – dazu kommt MAN nicht. Man wird zugedröhnt von den Mächten und Medien, die verdammt genau wissen, wie der Ausnahmezustand zu verlängern ist. Die uns den Weg zeigen, wie es zu leisten ist, einander auch weiterhin Freund und Gefährte zu bleiben: Indem wir DEN FEIND erkennen und gemeinsam in den Krieg ziehen!

So einfach! Das hat immer schon geklappt, hat seit Urzeiten funktioniert, ist seit je von den Mächtigen für ihre je spezifischen Interessen angewendet worden. Aus unseren besten und liebevollsten Impulsen und Sehnsüchten wird die Energie gezogen, um das größtmögliche Elend im Äußeren zu veranstalten. Einigkeit macht glücklich, Einigkeit macht stark! Wer skeptisch ist, gar zweifelt, verrät diese unsere freudige Gemeinsamkeit. Seit‘ an Seit‘ müssen wir jetzt mutig zusammen stehen und dem Feind ins kalte Auge blicken: vernichten, ausradieren, und wenn dabei Unschuldige umkommen, so muss es eben hingenommen werden. Wo gehobelt wird….

Müssen wir? Können wir nicht anders? Immer noch nicht?

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Ein Kommentar zu „Vom Glück mitten im Grauen (9/11)“.

  1. […] dem Anschlag auf das WTC hat es im Digidiary nur zwei Beiträge zum Thema gegeben: „Vom Glück mitten im Grauen„, etwa eine Woche danach, und „Der Feind: die eigene Frage“ am 12.Tag der […]