Claudia am 26. November 2018 —

Klassenkampf von oben: Geht doch backen nachts um halb eins!

Da sitzen sie also zusammen bei Anne Will und diskutieren, wie es mit den zu Recht in Verruf geratenen Hartz4-Sanktionen weiter gehen soll:

  • Jens Spahn (Gesundheitsminister) steht zum derzeitigen System und will höchstens bei 57plus ein wenig moderater werden beim „Fordern“.
  • Lars Klingbeil (SPD-Generalsekretär / Seeheimer Kreis) prophezeit riesige Jobverluste durch Digitalisierung, will aber nur hier und da ein bisschen Bürokratie abbauen, vielleicht in einigen Härtefällen und bei Jugendlichen etwas weniger sanktionieren, ist aber ansonsten mit Spahn („Druck erhalten“) recht einig.
  • Die Abschaffung von Hartz4 fordert Sahra Wagenknecht (Die Linke), die das immer wieder zitierte „Lohnabstandsgebot“ durch höhere Mindestlöhne erreichen will. Dass Menschen gezwungen würden, unterbezahlte Jobs und sogar Leiharbeit anzunehmen, habe zu einem riesigen Niedriglohnsektor geführt. Denn nach Hartz4 sei „zumutbare Arbeit“ – anders als früher – heute „jede Art Arbeit“, ungeachtet der bisherigen Qualifikationen. Der Staat mache sich so mitschuldig an der zunehmenden Tarifflucht und daran, dass viele von ihrem Einkommen nicht mehr Leben können und keine auskömmlichen Renten entstehen.
  • Noch radikaler dann Michael Bohmeyer vom Verein „Mein Grundeinkommen“: Er schwärmt vom motivierenden Schub, den ein bedingungsloses Grundeinkommen für Arbeitende wie Arbeitslose bedeute: Wer sich abgesichert fühle, mache sich daran, in einer selbst gewählten Arbeit oder Selbstständigkeit zwanglos Einkommen zu erwirtschaften.

Dass dann auch noch die als „Frau der Wirtschaft“ geladene Unternehmensberaterin Simone Menne den radikalen Schnitt und eine beherzte Neuorientierung des Sozialsystems verlangt, kommt aber doch etwas überraschend. Anne Will bringt erstmal brav die Dinge auf den Punkt, indem sie ausführt:

„Die Wirtschaft hat massiv davon profitiert, dass Menschen über das alte Hartz4-System gezwungen waren und noch gezwungen sind, jeden Job anzunehmen. Warum sollte man so ein Erfolgsmodell ändern?“

Menne holt dazu etwas weiter aus und spricht über die disruptiven Änderugen, mit denen die Unternehmen sich zunehmend konfrontiert sehen. Die Gesellschaft müsse sich ebenso radikal verändern, wie es von den Unternehmen verlangt werde, denen ganze Geschäftsfelder durch die Digitalisierung wegbrechen. Die Sozialsysteme müssten komplett neu gedacht werden, nicht nur ein wenig am Vorhandenen herumgeklittert. Bildung, und zwar lebenslange Bildung sei extrem wichtig, und weiter:

„Wie schaffen wir es, möglichst viele Menschen in die Erwerbstätigkeit zu bekommen? Auch da bin ich eher ein Freund der Motivation als einer Ausgestaltung von Modellen, die am Missbrauch ausgerichtet sind und alles tun, um den, der missbraucht, gang ganz wasserdicht davon abzuhalten. Wir haben auch Steuerbetrüger, die aus größeren Einkommensschichten…“ (bricht hier ab, Anne Will grinst verständnisinnig, Publikum applaudiert).

Sanktionen in Gefahr? Da sei der Bäckermeister vor!

Angesichts von so viel verständnisvoller Kritik am herrschenden Sanktionsregime zückt Anne Will nun die Wunderwaffe „echtes Leben“. Per Einspieler tritt auf Bäckermeister Schwadtke aus Berlin Friedrichshagen, der nachts um halb eins in der Backstube steht und mit seinen Gesellen den Brotteig in Form bringt. Seit zwei Jahren hat die Backstube Montags geschlossen, weil sich nicht genug Arbeitskräfte finden, um durchzuarbeiten. Schwadtke beklagt, dass die vom Jobcenter vermittelten Arbeitslosen zwar zum halbstündigen Erstgespräch kämen, dann aber nicht mehr. Und klar, er stehe voll hinter den Sanktionen, denn er und seine Leute arbeiteten ja nachts und zahlten auch Steuern. Kann doch nicht funktionieren, wenn die sich da ausruhen…

Anne Will hinterfragt nun bei Sahra Wagenknecht, warum der Bäckermeister eigentlich eine ohne Sanktionsdrohung gezahlte Grundsicherung von 1050 Euro fair finden solle. Wagenknechts Antwort, dass der Bäckerjob als ziemlich harte Arbeit deutlich besser bezahlt gehöre, reicht ihr natürlich nicht. Will streitet jetzt geradezu begeistert dafür, dass das „Backen nachts um halb eins“ doch eine zumutbare Arbeit sei. Und da der Bäckermeister im Publikum anwesend ist, erfahren wir auch noch, dass er übertariflich bezahlt, sogar mehr als 12 Euro, den von der Linken geforderten Mindestlohn.

Tja, was nun? Das können ja wirklich nur böse böse Faulenzer und Sozialschmarotzer sein, die so einen Traumjob nicht mit Kusshand annehmen! Das ist es doch, was hier in die Köpfe gedrückt werden soll, und was Anne Will am best bezahlten Talk-Sendeplatz der Republik höchstens denken, aber nicht so deutlich sagen darf.

Jens Spahn nutzt die Gunst der Stunde und gibt dem Thema einen Dreh, mit dem er der Wagenknecht nochmal so richtig einschenken will. Für wen es denn nicht zumutbar sei, in der Backstube zu arbeiten, will er nun genau wissen (Anne Will BEDANKT sich aus dem Hintergrund bei ihm, dass er das nachfragt!). Und als Sahra antwortet, z.B. für einen Ingenieur sei die Bäckerei nicht das passende Betätigungsfeld, wirft er ihr vor, dass sie Handwerksarbeit offenbar für Akademiker grundsätzlich als „Deklassierung“ betrachte. Ihren Hinweis, auch für ausgebildete Handwerker sei nicht jeder Job zumutbar, man verliere ja auch auf Dauer seine Qualifikation, nimmt er schon gar nicht mehr ernst. Sondern freut sich sichtlich über die vermeintliche Entlarvung eines Akademikerdünkels bei Wagenknecht. Anne Will und Jens Spahn, vereint im Klassenkampf von oben nach unten, assistiert vom Bäckermeister aus Friedrichshagen, der meint, sein Job sei doch wunderbar, denn morgens um 8 liege ja der ganze Tag noch vor einem!

Klassenkampf: Oben wird abgesahnt, unten sanktioniert

Menschen wie Spahn loben ja den „Erfolg“ der Agenda 2010 immer gern über den grünen Klee. Was bei aller Freude über die gestiegene Erwerbsarbeit, die gesunkenen Löhne und den prekären Billiglohnsektor natürlich nie zur Sprache kommt:  wenns knirscht und holpert im Wirtschaftsgebäude Deutschland, sind es nie die Wills und Spahns, die den Gürtel enger schnallen. Sondern es wird unten und in der Mitte gespart, gestrichen, gefordert und alles Erdenkliche zugemutet, was früher indiskutabel war, sogar bei der CDU.

Deshalb wird mir richtig schlecht, wenn ich ihnen bei einem solchen Thema zuhöre. Diese Ignoranz gegenüber den Lebensinteressen ärmerer Menschen, die nicht mal die „Frau aus der Wirtschaft“ teilt, ist an sich schon skandalös, aber hierzulande (immer wieder das Land besonders braver Untertanen).leider so normal. Da kann im Wochentakt ein Mega-Steuerskandal nach dem Anderen auffliegen, nichts macht offenbar so sehr Spass wie das Herumhacken auf Arbeitslosen, von denen einige wenige tatsächlich nicht „kooperieren“, Termine versäumen oder sich gar erdreisten, nicht nachts um halb eins Brötchen backen zu wollen.

Ein Handwerk übrigens, das sich extrem im Umbruch befindet, das seit Jahren schrumpft und ganz gewiss nicht von Zwangsarbeitern gerettet wird! Sondern  – in kleinerem Rahmen – von leidenschaftlichen „neuen Bäckern„, die sich mit viel Kreativität der deutschen Brotkultur widmen, die mittlerweile Weltkulturerbe ist. Aber davon dann ein andermal.

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Diskussion

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4 Kommentare zu „Klassenkampf von oben: Geht doch backen nachts um halb eins!“.

  1. »Also ich bekomme ja nur gleich nur nervösen Hautausschlag, sobald der Name „Jens Spahn“ fällt. Der Typ erregt meinen Ekel, ich kann nicht anders. Sein Auftreten ist peinlich, seine Ansichten anbiedernd, und sein Charakter so verdorben, dass er in einem moralisch intakten Land keine Chance hätte, irgendeine Position von Bedeutung zu bekleiden.«

    Und dann gibts noch ein paar Streicheleinheiten für dich:
    Claudia Klinger hat es vornehm in die Länge gezogen ausgedrückt :-)

  2. Danke, Stefan, das freut mich jetzt aber sehr!

    Es ist leider nicht nur Spahn, sondern eine recht allgemein verbreitete Haltung derer da „oben“, die darüber befinden, wieviel Sanktionen, oft sinnlose Maßnahmen und sonstige Amtsnervereien die Leute zu ertragen haben.

  3. Ja, ob sie Spahn oder Schäuble oder sonstwie heißen, ist inhaltlich besehen eigentlich egal. Bei Spahn kommt nur noch erschwerend sein ganzes Auftreten hinzu, das einfach peinlich ist, weil es so sehr an einen total von sich selbst eingenommenen Einserschüler erinnert, der immer gleich den Finger hebt und aufgeregt schnippt, bei jeder Frage.

  4. mir fällt nur ganz SponTan ein:
    „hampelmänner“
    gibts auch weibilche Hampelmänner?

    :)
    die Reise ist vorbei, für mich vorerst;
    over 60 fühle mich wie 18 und begreife
    immer noch nicht, dass unser seltsamer globus
    nicht aus der Kurve fliegt und wir nicht
    mit schwersten schleudertraumas in den
    notaufnahmefussballstadien dieser
    reichlich ramponierten Lebenssphäre
    unterschlupf gefunden haben.

    wtf is „anne will“

    i dont know
    i didnt listen.

    hab seit 9.11.2001 kein kontakt mehr zu
    in der gukkibuntikiste flimmernden
    gestaltmimenden nichtexistenzen;

    es sind seit damals viele tonnen wasser die rems
    heruntergeschwemmt worden, aber auch diese
    hat sich nicht am nichtkonsum der labertaschen
    gestört.

    hallo stefan:) held vergangener html tage!
    es tut gut dass es noch leute gibt die trotzalledem
    noch ab und zu bemerkbar online sind:)

    aus einer senkrechten entfernung von ca 225000 metern
    ist das bundesgebiet deutschland, frankreich, oder jedwede
    andere politisch gezogene linie auch heute noch nicht
    mit blossem auge zu erkennen.

    der planet ist rund und nach dem spiel ist vor dem Spiel

    wir sind wohl alle mehr oder weniger auf urlaub hier,
    warum, das konnte bislang meines wissens nach
    noch nciht endgültig abschliessend herausgefunden werden.

    ich hab meinen anteil an verfügbarem spass gehabt hier umgeben von selbstbeweglcihen zewibeinern,
    sitzte nun im cafe der vergänglichkeit und erwarte
    den finalen schuss.

    und ja:
    ich liebe den grossen bruder,
    2+2 ist 5 (oder jedes andere beliebig einfügbares ergebnis)

    wie komme ich darauf?
    9.11.2001.

    wir glauben alles, nehmen alles hin
    und verdauen sogar täglichen medienkonsum.

    mit spontanen, diesmal voellig unsortierten zeichenfolgen
    von der lauen Rems
    in““go