Claudia am 17. Januar 2012 —

Internet lokal: Wenn der Nachbar dich googelt

„Sie sind ja im Internet ziemlich aktiv?“ lächelt mein Mitmieter aus dem ersten Stock mich fragend an, als er sein Paket abholt. In „meinem“ Mietshaus bin ich Anlaufstelle für alle Paketdienste dieser Welt, denn ich arbeite zuhause und bin fast immer erreichbar.

Es ist das erste Mal, dass mich jemand aus dem Haus auf meine Web-Aktivitäten anspricht. Auf der Suche nach „Urban Gardening“ fand der Nachbar mein Gartenblog und stöberte wohl weiter. „Sogar Urgestein!“, meinte er noch – und ich forderte ihn auf, mir doch mal eine Mail zu schicken. Falls mal was in Sachen Haus zu besprechen ist…

Während der kommerzielle StartUp-Sektor sich in den letzten zwei Jahren massiv bemüht, der Welt mit allerlei nützlichen (?) Anwendungen das lokale Web zu erschließen, schreitet die real nutzbare Vernetzung von immer mehr Individuen ganz von selber voran. Je mehr Menschen auf irgend eine Art mit ihrem realen Namen im Netz vertreten sind, desto wahrscheinlicher wird auch der Kurzschluss zwischen virtuellem und physischem Raum – etwas, auf das wir psychisch noch nicht wirklich vorbereitet sind.

Als ich mit einem Freund darüber sprach, der ebenfalls gerne Pakete für Andere annimmt, berichtete er, dass er die Adressaten schon mal googelt und per Mail auffordert, das Päckchen abzuholen, wenn sie zu lange auf sich warten lassen. Auch ich hab‘ das schon versucht und fand so beiläufig heraus, was die Gewerbetreibenden im Erdgeschoss so machen. Und sicher werd‘ ich bald mal schauen, wer „Jan“ aus dem ersten Stock ist – netzmäßig betrachtet.

Virtueller Raum und „reales Leben“ werden eins

Was für ein Konfliktpotenzial da lauert, sei hier mal mittels einiger Punkte skizziert, die mir jemand (anonym!) als Begründung fürs „anonyme Bloggen“ ins Gartenblog schrieb:

  • Es gibt immer wieder Menschen, die auch mit den harmlosesten Meinungen zu einem Thema nicht einverstanden sind. Ich möchte z.B. nicht im Supermarkt oder Hausflur von meinen Nachbarn auf meine Meinung zum Thema XY angesprochen werden!
  • Man bloggt vielleicht auch mal über sensible,umstrittene Themen (nicht: intime…).
    Dann darf man sich bspw. beim nächsten Firmengrillabend rechtfertigen, warum man als Vegetarier gegen Fleischessen ist bzw. wie um Gottes Willen einem dabei schlecht werden kann. Das kann das Verhältnis zum Chef schon belasten.
  • Man schreibt vielleicht etwas, dass sich in einem Jahr als politisch inkorrekte Meinung oder als überholt (Fachwissen) herausstellt und muss sich dann noch lange danach dafür rechtfertigen,auch, wenn man inzwischen selbst eine andere Meinung hat.
  • Vielleicht hat man ein Hobby, über das man im RL mit wenigen Menschen reden kann und bloggt deshalb darüber. Das Hobby passt aber nicht so richtig zum Beruf und dem eigenen “Image” (Beispiel: Besitzer eines Bikeshops und als “harter Kerl” bekannt, kocht gern Marmelade und Chutneys ein und möchte Rezepte austauschen – das finden die Menschen in seiner Umgebung und potentielle Kunden aber eher lächerlich!).

Bye bye Anonymität, hallo Transparenz!

In Berlin passiert es immer wieder, dass ein Verstorbener erst Wochen später in seiner Wohnung gefunden wird. Dann sind alle empört über eine solche Vereinsamung, über die fehlenden Kontakte innerhalb des Hauses, über die städtische Anonymität insgesamt. Aber: gerade diese Anonymität ist es, die viele vom Land weg und in die Stadt treibt. Hier herrscht eben (bisher) keine ständige soziale Kontrolle, sondern „leben und leben lassen“. Ignoranz ist auch gnädig und entlastet von den Forderungen „normalen Miteinanders“, die gegenüber so vielen gar nicht zu erfüllen wären, beim besten Willen nicht! Man begegnet täglich vielen Menschen, die man nicht kennt und die einen in der Regel auch nicht kümmern. Im Haus reicht ein Nicken, wenn man sich begegnet – mehr wird nur selten gewollt.

All das wird sich vermutlich ändern. Auch wer „anonym bloggt“, ist oft genug über andere Kanäle findbar oder beteiligt sich an sozialen Netzen, die mehr denn je den Klarnamen als Identität nahe legen oder gar fordern. Und viele WOLLEN sich auch gar nicht verbergen, sondern ganz im Gegenteil mir ihrer ganzen Person Authentizität leben: so bin ich, so denke ich, das mache ich – wer sich daran stört, darf einen Kommentar hinterlassen!

Was aber, wenn der Kommentar plötzlich im eigenen Treppenhaus kommt?

Eine neue Netikette für Reality 2.0?

In nicht allzu ferner Zukunft wird immer spürbarer werden, wie die stadttypische Anonymität wegbröckelt. Jeder googelt jeden, der – warum auch immer – gerade Aufmerksamkeit auf sich zieht. Man wird oft nicht mehr wissen, was man sich beim Kennenlernen erzählen soll, weil das Gegenüber ja schon einiges weiß – aber was? Menschen, die früher gerne ganztags aus dem Fenster schauten, um zu beobachten, was die Nachbarn und Passanten machen, werden das netzgestützte Stalken für sich entdecken. Und im Hausflur begegnet man vielleicht dem Nachbarn, der neuerdings über seinen Krebs bloggt – soll / darf / kann man ihn drauf ansprechen? Wär das ein Übergriff oder genau richtig?

Wir werden neue Regeln brauchen für den sich abzeichnenden Zusammenfall der bisher zumindest gefühlt hübsch abgegrenzten Sphären „Internet“ und „reales Leben“. Wir sind das Netz – aber wie wird es sein, wenn dessen Transparenz unseren Alltag umgreift?

***
Zu den schönen und nützlichen Seiten dieser Entwicklung siehe auch:

Stell dir vor, es gäbe ein soziales lokales Netz…

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Diskussion

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9 Kommentare zu „Internet lokal: Wenn der Nachbar dich googelt“.

  1. Hallo Claudia, Deinem Artikel kann ich voll beistimmen!!! Ich bin gerade selber in so einer Übergangsphase zur Transparenz. Zufälligerweise gestern hatte ich mir eine Domain mit meinem „echten“ Namen geholt, um damit künftig zu bloggen. Damit bin ich ja voll im Transparent-Trend?! ;-)

    Früher war das Netz für mich ein Ort des anonymen Abtauchens. Inzwischen gehe ich lieber draußen spazieren, wenn ich meine Ruhe haben will…

  2. @Heiko: so gehts mir heut auch – dieses Eintauchen in eine „ganz andere, freie, neue Welt“, fernab aller sonstigen Verstrickungen war schon was ganz Tolles. Eine für die Nachkommenden nicht mehr erlebbare (und auch gar nicht wirklich vorstellbare) Erfahrung. Lange vorbei…

  3. Ich verstehe nicht so ganz wo das Problem ist. Wenn ich unter meinem Namen etwas veröffentliche, ist das so als würde ich ein Plakat mit meinen Statements an der Hauswand herunter lassen. Alle können es lesen, auch meine Nachbarn. Alles was ich auf dieses Plakat schreiben würde, kann ich auch ins Netz stellen und wenn man mich darauf anspricht auch persönlich vertreten.
    Ich würde allerdings bei weitem nicht alles was mich bewegt an der Hauswand herab lassen.

  4. Für Dörfler ist das vermutlich einfacher, da ist man an ständige Öffentlichkeit gewöhnt. Ich blogge exaktgenau so viel, wie ich auch auf den Schützenfest an der Theke erzählen würde. Das geht ganz automatisch, beim filtern muss ich nicht mal nachdenken. Und wenn ein Nachbar/Bekannter etwas bloggt, dann interpretiere ich das so, als hätte er es auf den Schützenfest an der Theke erzählt – er muss also damit rechnen darauf angesprochen zu werden.

    Ich glaube also nicht, dass wir neue Regeln brauchen. Blogger müssen einfach wissen, dass in Blogs genau die selben Filter eingeschaltet sein sollten, wie im „richtigen Leben“ ;-)

  5. Wie immer anregender Stoff von Claudia. Und wie immer bei diesem Thema pflege ich meine eigene Sicht, wobei ich klar zwischen Anonymität und Pseudonym unterscheide, was nicht das Gleiche ist.

    Für die vier Punkte vom anonymen Blogger habe ich viel Verständnis, aber sie stammen nicht von mir – bin ich doch mit Namen unterwegs :-) Es ist ja bei mir auch nicht schwer das Pseudonym aufzudecken, wenn es einen interessiert und unter seelenverwandten im Netz mache ich ja auch ohne Spiele das Visier auf, wenn dem Wunsch nicht etwas entgegensteht. Auch bei Prime Online Medien, würde ich mich ohne Zögern mit Realnamen anmelden, wenn dies die Zulassungsvoraussetzung für Pseudonym-Gebrauch wäre. Nicht jedoch bei Google.

    Die Aussage das Netz schafft Transparenz stimmt nur sehr begrenzt, und dies rein rechnerisch. Selbst die inzwischen 800 Mio. (?) Facebook Nutzer sind nur ein Teil der Menschheit und Blogger sind zahlenmässig doch eher eine exotische Minderheit. Also da fliesst noch viel Wasser den Rhein hinunter, bevor diese erblickte Transparenz tatsächlich klare Konturen annimmt.

    Wenn ich auf Facebook Einträge meiner „friends“ ansehe könnte ich über Zeit gesehen schon zu sich kumulierenden Erkenntnissen kommen, aber ich habe gar keine Zeit ständig diese Einträge im Einzelnen zu lesen. Anders gesagt man muss Aufwand betreiben und wie ich gerade erst gelesen habe sind sowohl bei Facebook als auch bei Twitter ein horrender Anteil von Karteileichen zu beobachten.

    Dann habe ich schon Leute aus professionellen Gründen gegoogelt um feststellen zu müssen, wenn man „nur“ Vor- und Nachnamen hat, kann es sehr aufwändig und auch unmöglich sein, rasch an relevante Informationen zu kommen. Es gibt unwahrscheinlich viele Leute mit identischen Namen.

    Fazit: Die Transparenz ist noch weit weg und meine Überzeugung zur Nutzung von einem Pseudonym ist ungebrochen und zwar weil Google und Facebook in einer Art Daten sammeln und ohne Erlaubnis Geld damit machen. Ein Vorgehen ohne Limit und Kontrolle, also jenseits der roten Linie, was ich philosophisch als „moralisch kriminell“ bezeichne.

  6. Das ist so eine Art Quadratur des Kreises: Man will offen sein, über alles im Netz schreiben, „was einen bewegt“ (Zitat Claudia) und dennoch sollen es nicht alle lesen. Schon garnicht der Nachbar oder der Chef.
    Vielleicht bin ich da merkwürdig, aber auch im privaten Nichtnetz-Umgang äussere ich nicht alles, durchaus mit dem Gedanken, es könnte weitergetragen werden und an falscher Stelle wieder „rauskommen“.
    Wenn jemand unbedingt im Netz frei lesbar (all) seine Gedanken „zu Papier“ bringen will, dann doch eher wie es Relax-Senf betreibt.
    Nur kann jetzt Claudia nicht zurück, wenn sie es überhaupt wollte, denn sie hat ja gleich so offen angefangen – und einen Riesenberg an Veröffentlichungen hinterlassen.

    Wie ist es eigentlich mit „öffentlichen“ Personen, etwa Stars, Politikern, Schauspielern ect? Deren Wirken „im Realleben“ ist ja zuweilen ständig im Fokus. Wie würde ich mich fühlen, wenn jede Äusserung, jeder Auftritt, jedwede Handlung Teil der Öffentlichkeit werden könnte und kann?
    Natürlich ist man im kleinen Kreis ständig irgendwie „transparent“ und man schert sich darum nicht, aber wie ist es, wenn der Kreis beliebig groß wird?

  7. @alle, insbesondere @Gerhard: damit keine Missverständnisse aufkommen: um mich hab‘ ich keine Sorgen.

    Ich finde auch nicht, dass ich in meinen „vielen Veröffentlichungen“ mit besonders schützenswerten, persönlich-intimen Details aus meinem Leben um mich geworfen hätte! Es gibt vieles, über das ich nicht schreibe, insbesondere nicht über Dinge aus dem Leben der Menschen, die mit mir in Kontakt stehen. (Wenn sich sowas doch mal in einem Artikel findet, hab‘ ich es vorher abgesprochen) Auch stelle ich natürlich nicht gleich meine Schattenseiten aus (erst, wenn ich einen Vorteil drin erkanne, über den ich AUCH schreiben kann… lach…).

    Für mich entwickelt sich das Leben meist an dem entlang, was ich denke und begehre, im Guten wie im Schlechten. Und dazu gehörte eben nie eine übliche „Karriere“ mit Status, Sicherheiten und Zwängen. Nie war ich bereit, das richtige Leben aufs Wochenende oder den Urlaub zu schieben, sondern blieb immer auf der Suche nach dem, was mir Freude macht.

    Und fand es auch – immer mal wieder neu. „Schreiben, was mich bewegt“ war stets ein wichtiger Teil davon. Quasi die Herzblutqualität, die ich einer Arbeit/Aufgabe hinzufügen kann.

    So komme ich nie in die Gefahr, mich in ein Leben zu verstricken, in dem ich nicht mehr schreiben dürfte/könnte/sollte/wollte, was mich bewegt.

    Und hab‘ dann natürlich leicht reden… – wobei ich es aber nicht bewenden lassen will. Das wäre ignorant, ja überheblich.

  8. Ich habe über die google-Suche anonym bloggen hierher gefunden. Erst zu dem älteren Beitrag auf dem wilden Gartenblog und schließlich hierher. Während dort noch Entrüstung über anonyme Blogger geäußert wird, ist der Beitrag hier deutlich nachdenklicher. Doch jetzt ist es zu spät für Bedenken – ist der eigene Name erst einmal im Netz, gibt es kein Zurück.
    Manchen Menschen macht das nichts aus. Ich nehme jetzt das Beispiel Garten-Blog allgemein: Wenn eine Hausfrau oder Beamtin mit gesichertem Status unproblematische Dinge über ihre Balkonblumen oder den Gemüsegarten bloggt, muss sie sich nicht um Anonymität scheren. Sie schreibt ja nichts, über das sie sich nicht ebenso mit Bekannten oder Fremden unterhalten würde.

    Aber nicht alle Beispiele sind so harmlos. Die meisten Menschen verdienen ihr Geld als Angestellte oder sind von Kunden abhängig. Im Extremfall kann schon ein falscher Satz ewig Probleme verursachen. Gut vorstellbares Beispiel: Student bloggt über Auslandsaufenthalt, äußert unbedacht leichte Kritik an Studium oder Arbeitsbedingungen und zeigt Interesse an alkohol-begleiteten Freizeitaktivitäten. Hinterher düfte es schwer werden, den Aufenthalt als extrem nützlich im Lebenslauf zu verkaufen.
    Das Beispiel ist eigentlich auch harmlos, es zerstört keine Existenzen, aber es kann doch Probleme verursachen, die man mit dem Weglassen von zwei Wörtern (Vor + Nachname) einfach nicht hätte.

    Natürlich kann man jetzt sagen: Bloggt nur über Sachen, die ihr jedem Fremden auf der Straße und eurem (auch zukünftigen) Arbeitgeber erzählen würdet. Aber das wollen nicht alle und das würde das Internet auch langweilig machen.

    Der Hauptgrund für mich, nicht zu bloggen, ist genau die rechtliche Situation in Deutschland. Anonymes Bloggen ist rechtlich eigentlich nicht zulässig, und auf die Gefahr einer Abmahnung will ich es nicht ankommen lassen. Außerdem ist mein Name nicht Max Schmidt, sondern relativ selten. Trotzdem können mich meine Nachbarn googeln: Mein Arbeitgeber hat eine Informationsseite über die Mitarbeiter, mit Lebenslauf und mehr. Selbst google ich meine Nachbarn nicht, bisher. Aber ich frage mich manchmal, ob sie es tun. Es steht nichts über mich, was ich verbergen müsste – aber der Gedanke gefällt mir trotzdem nicht.

  9. @Anonym: aber sieh auch die andere Seite! Für mich ist es z.B. bedauerlich, dass du so anonym daher kommst. Und schon ein nicht in DE (und übrigens völlig legal!) auf Blogger.com gehostetes Blog, das du unter einem (gleich bleibenden) Pseudonym führst, würde den gefühlten Mangel vermeiden: dass du „anonym“ nichts als eine punktuelle Meinung bist, kein Mensch, den man potenziell kontakten kann – eher Literatur als Wirklichkeit.

    Dein Kommentar ist gleichwohl inspirierend, vielleicht mal wieder einen ermunternden/entspannenden Artikel zu schreiben – für alle, die sich durch solche Ängste und Bedenken immer noch davon abhalten lassen, als Person im Netz überhaupt in Erscheinung zu treten.