Claudia am 23. November 2011 —

Über Erwartungen – und ein psycho-spirituelles Missverständnis

Der kurze Beitrag über „Hingabe“ aus dem Blog einer Schneiderin inspirierte mich zu einem Kommentar, der mir so ausführlich geriet, dass ich ihn auch hier einstelle:

„Hingabe“ bedeutet nicht, dass man keine Erwartungen, keine Träume und Spekulationen auf die Zukunft mehr haben soll. Auch sie gehören zu „dem, was ist“.

Sie zu leugnen oder krampfhaft zu vermeiden, wäre eine Lüge bzw. im „Vermeidungsfall“ der beste Weg. jegliche Energie zu blockieren, wenn sie sich in Handeln umsetzen will. Im Extremfall können/wagen wir dann gar nichts mehr anzugehen, denn jegliches tätige Streben ist ja mit Erwartungen und Wünschen verbunden. Erwartungslos kann man sich gut sinnlichen Wahrnehmungen und körperlichen Arbeiten hingeben – aber auch nur in einem Umfeld, in dem man z.B. keinen Angriff erwartet.

Aus meiner Erfahrung – und ich hatte auch Zeiten dieses Missverständnisses in Bezug auf Erwartungen – geht es nicht darum, Erwartungen abzulegen oder zu vermeiden, sondern darum, SICH IHRER BEWUSST ZU SEIN – ohne weitere Wertung (eine Bewertung der Erwartungen als „schlecht“ wäre ja auch wieder Bewertung…).

Tut man das, wird man erleben, dass sich in der Folge „von selber“ die Spreu vom Weizen trennt. Eine überzogene Erwartung an den Partner wird im Lichte des Bewusstseins leicht lächerlich wirken, was zur Folge hat, dass jegliche Handlungsenergie schwindet, hier weiter „Druck zu machen“ oder in einer Vorwurfshaltung zu verharren,

Die miesepetrige Vorstellung, dass wir ja doch im Großen nichts ändern und deshalb das demonstrieren, protestieren, engagieren gleich ganz lassen können, wird bei genauerer Betrachtung ihre Motivationshintergründe offenbaren: Faulheit, Trägheit, Gleichgültigkeit, Angst um Besitzstände oder den Ruf, Konfliktscheu etc. usw. Und diese Wahrnehmungen motivieren dann vielleicht, hier und da mal etwas Neues zu wagen, anders zu machen.

Andere Erwartungen und Wünsche werden bewusster Betrachtung stand halten und eher noch gestärkt: Ein Problem, das ich mit dem Partner habe, darf und soll ich ansprechen und zu lösen versuchen. Was wäre sonst Beziehung, wenn das schon „zu viel“ sein sollte?

Ein neues Projekt starten, motiviert von der Hoffnung, es erfolgreich und schön für alle zu machen, was wäre daran falsch? Die Hoffnung nicht zuzulassen, würde die Energie rauben, die erforderliche Arbeit – über die Freude an der Idee und der neuen Erfahrung hinaus – leisten zu können. Schädlich wäre diese Erwartung nur, wäre ich mir nicht stets bewusst, dass es „nur“ eine Erwartung ist. Dieses Bewusstsein schützt davor, die aktuelle Realität aus den Augen zu verlieren, die immer auch andere Entwicklungsmöglichkeiten bereit hält, die den hoffnungsvollen Erwartungen NICHT entsprechen.

Sehen was ist – ja! Dazu gehöre aber auch „ich selbst“ mit allen Erwartungen, Bedenken und Wünschen. Meine Stimmungen und Motive sind genauso Phänomene der Welt wie Sonnenuntergänge und Gewitter – es gibt keinen Grund, sie grundsätzlich anders zu betrachten, bzw. den Bereich „Erwartungen“ aus dem Leben heraus schneiden zu wollen.

Hingabe bedeutet für mich in diesem Kontext: Darauf vertrauen, dass sich der Weg im Licht der Bewusstwerdung zeigt – und dann danach handeln.

Diskussion

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5 Kommentare zu „Über Erwartungen – und ein psycho-spirituelles Missverständnis“.

  1. Ein interessantes Kommentar-Gespräch rund um dieses Thema findet sich mittlerweile unter dem verlinkten Artikel
    http://schneiderin.wordpress.com/2011/11/22/hingabe

    Was jetzt nicht heißen soll, dass hier keiner was hin schreiben darf! :-)

  2. Claudia, Dein Kommentar/Beitrag erinnert mich angenehm an einen Song: „Unterm Asphalt“, gesungen von einer sehr hingebungsvollen Frau, Tamara Danz (†1996). Ich stelle mal einen kleinen Auszug vor:

    Die Handvoll Jahre, die ich leb
    Sind zu kostbar, dass ich sie vergeb‘
    Ich trau‘ meinen Augen und nehm‘ euch beim Wort
    Und wehre mich, eh mir die Hand verdorrt
    Und werde nie fertig sein mit der Welt
    Solang die mich am Leben hält.

    Text m.W. von Werner Karma, http://www.werner-karma.de
    Matthias

    P.S: War gerade auch im Blog der Schneiderin. Interessant, daß sie so irritiert reagierte. Ich jedenfalls mag Deine deutlichen Argumentationslinien, wenn ich das so sagen darf?

  3. @Matthias: danke! Für den Text und das PS.

    „Deutliche Argumentationslinien“ werden bei Männern (und von Männern) als normal empfunden (-> „ein Mann sagt, was er denkt und tut, was er sagt..“), als Frau eckt man damit an. Das hab‘ ich schon öfter bemerkt.

    Als Frau muss man viel „ich“ sagen, „in meiner Sicht“, „aus meiner Erfahrung“ – auch andere Wendungen und Relativierungen sind erwünscht, die allesamt dem Zweck dienen, ein Statement zur Sache weniger „hart“, persönlicher und harmonisierender wirken zu lassen.

    Manchmal vergesse ich das, insbesondere, wenn die klaren Gedanken nur so in die Tasten strömen…

  4. Claudia, ich weiß nicht recht, ob Du die Reaktion von „schneiderin“ als eine Abwehr der „frauenuntypischen“ (?!) Weise des Kommentierens sehen solltest. Mich befremdete auch Dein unmittelbares „Losziehen“ in theoretische Gewässer. Wie wäre es gewesen, hättest Du ein paar erklärende, zum Ausgangsartikel verbindende Worte vorrausgeschickt (oder nachträglich vorne angefügt)?
    Immerhin hat dir „schneiderin“ einen Spiegel hingehalten – das gilt ja gemeinhin auch mal als Gnade und hilft, sich selber zu reflektieren – unabhängig von dem „Wahrheitsgehalt“ der Aussage des Anderen.

  5. @Gerhard: ich wollte und will hier nicht weiter auf die „Schneiderin“ eingehen: das dann noch sehr angenehm verlaufene Gespräch DORT enthält ja meine Einlassungen dazu. Und auch eine Änderung des Tons, na klar! :-)

    HIER hab ich einen ANDEREN Aspekt benannt, einfach weil ich Ähnliches schon öfter erlebte – auch wenn ich mich kürzer fasste und nicht so ausgeufert bin.

    Der Text selbst ist alles andere als „theoretisch“, sondern entspricht in jedem Wort meiner eigenen Erfahrung. Dass er keine lange Vorrede hat und ich lediglich die Inspirationsquelle nannte – tja, das gönn ich mir halt im eigenen Diary. Und DU darfst ruhig kritisieren! :-)

    Das Thema ist mir jedenfalls sehr sehr vertraut. Der bis heute meistgelesene Diary-Beitrag „Vertrauen und Beziehung“ handelt im Grund von nichts Anderem – nur eben angewendet auf ein konkretes Lebensfeld. Er ist allerdings schon etwas älter und seither sehe ich die Dinge wieder etwas anders, gefühlt „vollständiger“.

    Was ich noch nirgends formuliert hatte – bis jetzt, in diesem Text.