„Das ist der stockendste Dialog meiner ganzen Netzzeit“, tippte ich in einem Anflug schlechter Laune in die Tasten. Wieder hatte mich mein neuer Bekannter frustriert: erst eine lange, interessierte und engagierte Mail, auf die ich binnen 24 Stunden in entsprechender Form geantwortet hatte – und dann wieder tagelang nichts! Dieses punktuell intensive, zeitlich unberechenbare Mailverhalten macht es mir schwer, zur Person am anderen Ende der Drähte eine klare Haltung zu finden: Ist er nun jemand, der Teil meines inneren Kosmos werden will, ein virtueller Freund, der nach einiger Zeit der Kennen-lern-Gespräche vielleicht auch mal vorbei kommt? Oder ist er nur ein sporadisch aufscheinender „Kontakt“, mit dem man sich schreibend eine nette Arbeitspause gönnt, wenn er mal auftaucht, ihn dann aber besser wieder vergisst – bis zum nächsten Mal?
Diese Unklarheit ist es wohl, die mich stört, unabhängig davon, was mich mit ihm verbindet oder auch nicht. Mein Vorwurf ist dennoch ungerecht, denn er war „vom Start weg“ nie anders und tatsächlich hab‘ ich das eigene Mail-Verhalten dem seinen längst angepasst: ich maile auch nur, wenn es mir gerade passt, und wenn mir zu einer seiner Mails nichts einfällt, warte ich ganz entspannt auf die nächste. Als mir das wieder klar wurde und meine allgemeine Stimmung sich gehoben hatte, schickte ich eine Entschuldigung hinterher. Der Arme kann ja nicht wirklich was dafür, dass ich gerade Gründe suchte, um meine Launen an jemandem auszulassen!
Mail- und Chat-Kontakte sind eines der Dauerbrenner-Themen seit es das Internet gibt. Seit einigen Jahren wird „Partnersuche“ breitflächig vermarktet, große Plakatwände locken Singles und Seitensprung-Suchende in entsprechende virtuelle Räume, wo der Märchenprinz oder die Prinzessin vielleicht auf sie wartet. Mir persönlich war diese Art expliziter „Suche“ immer fremd, ich fand Menschen, die mich interessierten und auch solche, in die ich mich verliebte, inmitten des „ganz normalen Lebens“, offline wie online. Meine Arbeit als Webdesignerin und das Betreiben eigener Projekte bringt ganz automatisch jede Menge Kontakte zu Menschen, die ich im physischen Nahraum niemals kennen gelernt hätte – und gelegentlich ist es da durchaus passiert, dass es mal richtig funkte!
Cyberlove – eine Realität?
Nach ersten intensiven Erfahrungen mit solch virtuell-amorösen Gefühlswallungen schrieb ich 1997 im Netzlexikon (Co-Autor Ralph Segert / MIDAS-Verlag) zum zeitgeistigen Stichwort „Cyberlove“:
„Liebe im Cyberspace, Cyber-Liebe. Der schillernde Begriff suggeriert für viele die Hoffnung, im „neuen Land“ Digitalien nun endlich dem Märchenprinzen oder der Traumfrau zu begegnen, die das reale Leben so schnöde verweigert. In den vielen Chats, den Plaudertreffs im Internet, werden die Besucherinnen meist gefragt: „Woher kommst Du? Wie alt bist Du? Wie siehst Du aus?“ Mit Cyberlove hat das wenig zu tun. Der Frager checkt offensichtlich ganz trivial die Aussichten für einen eventuellen F2F-Kontakt, und das mit einem Minimum an sprachlichem Aufwand. Das Internet wird so lediglich als neues Medium zum Kennenlernen genutzt, als eine Form interaktiver Kontaktanzeige. Der Suchende kann dabei allerdings nie sicher sein, ob der Partner wirklich so ist, wie er zu sein vorgibt, bis es zum grundsätzlich erwünschten Treffen im realen Leben kommt. Eine richtige Cyberlove verzichtet dagegen auf das „echte Leben“, tut sie es nicht, ist sie keine mehr. Und sie trifft den Netizen aus heiterem Himmel, wie es sich für Amors Attacken gehört, seien sie auch auf modernstem technischen Niveau. Eine Cyber-Liebe ist nicht Wirklichkeit, sie ist virtuell, sie lebt im Reich der Fantasie, der Tagträume, der lebendigen Literatur. Psychologen nennen es prosaisch „Projektion“, was hier geschieht: Man verliebt sich in das, was man zwischen den Zeilen einer E-Mail zu lesen meint und erschafft sich unbewusst eine Traumgestalt – gut, schön, wahrhaftig und so rundum perfekt, wie sie im wirklichen Leben niemals existieren könnte. Ein intelligenter Cyber-Lover ist sich dessen bewußt und genießt dennoch – oder gerade deshalb – das Herzklopfen beim Abrufen der neuen Mails. Denn auch ein Märchen macht Freude, solange man nicht glaubt, es sei die Wirklichkeit.“
Wie da leicht heraus zu lesen ist, hatten mich meine Erlebnisse belehrt, dass das „virtuelle Miteinander“, das sich per Mail so intensiv und berührend entspinnen kann, nicht nahtlos aufs „reale Leben“ übertragbar ist. Zum Beispiel war ich jeweils ein paar Monate schwer auf zwei wunderbare Männer abgefahren: schreibend erlebte ich eine nie da gewesene Nähe im Geiste. Mit Herzklopfen und Schmetterlingen im Bauch erwartete ich die jeweils nächste Botschaft des fernen Geliebten, lebte wochenlang in einer Art Berauschtheit – um dann eines heftig herbei gesehnten Tages von Angesicht zu Angesicht festzustellen, dass derjenige welcher überhaupt nicht „mein Typ“ war!
Was für eine Enttäuschung! Und zwar eine von einer Gefühlsqualität, die ich bisher nicht kannte: Derjenige, der da vor mir stand, war einfach nicht der, in den ich mich verliebt hatte! Von jetzt auf gleich kam mir das Objekt der Begierde abhanden, das gleichzeitig doch eine lang etablierte wichtige Person meiner Innenwelt gewesen war. Diese innere Vorstellung vom „großen Anderen“ verschwand nicht so schnell und ich fühlte eine besonders verstörende Art Traurigkeit. Wenn jemand gestorben ist, ist es auch sehr traurig, aber eine klare Sache: Tod gehört nun mal zum Leben, für den Umgang damit gibt es Riten und Traditionen. Ganz anders die schreckliche Erkenntnis: der, den ich zu lieben meinte, hat niemals existiert!
Teilwahrheiten und Projektion
Wie kann so etwas passieren? Ich lernte, dass es nahezu natürlich und sogar recht häufig so geschieht: Per Text vermittelt sich nur ein Teil der Informationen über die andere Person – nämlich das, was diese Person von sich zeigen will und das, was so nebenher aus ihrem Kommunikationsstil zu entnehmen ist. (Auch ein Foto ändert daran nichts, denn es ist eine eingefrorene Augenblicksansicht von geringer Aussagekraft: keine Mimik und Gestik, keine Körperhaltung, kein Muskeltonus, keine Ausstrahlung, kein „echtes Leben“, sondern nur ein vielfältig interpretierbares Bild). Lücken und Leerstellen, die die Kommunikation per Email lässt, füllt das eigene Gehirn mit den allerschönsten Wunschvorstellungen: der „große Andere“ wird geboren – nicht im richtigen Leben, aber im Geiste.
Was ich dann erlebte, war der Bruch zwischen der virtuellen Person, die der andere per Mail zu sein schien, und der realen Person, die nun tatsächlich vor mir stand. Das zumindest war die erste Formulierung, die ich zur Beschreibung des Phänomens wählte: dort im Cyberspace die Welt der Täuschung, hier im physischen Miteinander das „reale Leben“. Der Tatsache, dass ich mich selber bereits mehr im virtuellen Raum aufhielt als im sogenannt „Realen“, wird diese Beschreibung allerdings nicht gerecht. Denn es ist ja meist nicht gelogen oder vorgetäuscht, was in den Sphären der Netze erlebt wird, sondern nur ein ANDERER Aspekt der einen Wirklichkeit.
Schaut man genauer auf den erlebten Bruch, wird das schnell klar: meine beiden virtuellen Märchenprinzen zeigten per text-only Eigenschaften, die mir an Männern gut gefallen: aktiv und dynamisch, fähig und kompetent in ihren Metiers, dazu von entwickeltem Selbstbewusstsein, ohne deshalb arrogant oder überheblich zu wirken. Männer, die Bescheid wissen und tun, was sie sagen, geistig souverän und gefühlsmäßig offen – so wirkten sie jedenfalls auf mich. Was fehlte, erfand ich mir dazu, ohne es auch nur zu bemerken. Leibhaftig vor mir stehend, fiel dieses einseitige Bild in sich zusammen: nichts mehr von Souveränität, Spontanität, keinerlei zupackende Eigenschaften, keine Lockerheit im Umgang miteinander. Auf der nonverbalen Ebene spürte ich sofort ihre Unsicherheit gegenüber der Frau in mir, eine gewisse Schüchternheit und Vorsicht, die sich über Körper und Ausstrahlung unmissverständlich vermittelt. Da blieb erst mal nichts übrig von der so erotischen Souveränität, die ich erwartet hatte, und die nicht unwesentliche Voraussetzung meiner Verliebtheit gewesen war.
In beiden Fällen verbrachten wir dennoch eine gute Zeit miteinander. Ich überwand die Irritation des Anfangs und lernte die reale ganze Person kennen, fand schließlich auch die Aspekte wieder, die ich per Mail so geschätzt, aber überinterpretiert hatte: die Kompetenz in ihren jeweiligen Domänen, in der sie tatsächlich geistige Autoritäten waren. Nur hatte das nahezu nichts mit ihrer zwischengeschlechtlichen „Performance“ zu tun, da waren sie eher von der schüchternen Sorte. Und ich war für die Zukunft belehrt, von virtuellen Bekanntschaften in dieser Hinsicht besser nichts zu erwarten – egal, wie wunderbar sie in ihren Texten wirken mögen.
Und alles stimmt…
Es dauerte Jahre, bis ich mich eines schönen Frühlings erneut virtuell verliebte. Diesen Kandidaten hatte ich zwar schon einmal leibhaftig gesehen, doch war er mir nicht im Gedächtnis haften geblieben, ich konnte mich nicht mal an sein Gesicht erinnern, sondern kannte ihn nur vom Foto auf seiner Website. Unsere „Cyberlove“ wurde schnell sehr heftig, gerade das Wissen, dass daraus vermutlich nichts werden würde, dass es sich nur um „erfundene Liebe“ zu beiderseitigem virtuellen Genießen handelte, machte mich frei, sehr intensiv in die Affäre einzusteigen. Ich achtete darauf, ihm meine Sicht der Dinge ständig präsent zu halten, damit auch ER die Sache nicht ernster nahm und dann ebenfalls diesen Bruch erleben würde, der mich so verstört hatte. Und doch riskierte ich, ihn nach einigen Monaten nur Text in einem Hotel zu treffen, als es während einer Reise möglich wurde, noch zwei Tage dran zu hängen. Oh, wie hab ich gebibbert! Nahezu überzeugt, dass ich ihn „real“ nicht erotisch finden würde, war ich dennoch voll des Verlangens, in das wir uns mit unserem ziemlich heißen Mailwechsel hinein geschrieben hatten. Alles kann, nichts muss – klar hatten wir uns auf die zeitgemäße Kontaktformel geeinigt, aber ob die Gefühle das so locker mitmachen würden??
Nun, er kam, sah und siegte! Schloss mich in die Arme, küsste mich heftig und binnen 20 Minuten landeten wir auf dem Hotelbett – das ganze „zuvor“ hatten wir ja schon monatelang per Mail abgehandelt. Was fehlte, war die körperliche Erfüllung, die wir uns dann auch zwei Tage lang ausgiebig gönnten. Es war einfach himmlisch! In diesem Fall gab es keinen Bruch: mein neuer Liebster war genau SO, wie ich ihn per Mail erlebt hatte – das gibt es also auch! Ich war hin und weg und lernte, dass nichts sicher ist und keine Erfahrung wirklich alle Zukunft erfassen kann.
Online und offline – zwei Fenster zur ganzen Wirklichkeit
Mein derzeitiger Liebster ist einer, den ich NICHT direkt per Internet kennen lernte, sondern über einen Netzfreund, der mich in Berlin besuchte. Zwar hat er einen Computer, doch nutzt er das Internet nur als Info-Quelle und nicht dazu, Menschen kennen zu lernen und mit ihnen zu plaudern. Das mailen musste ich ihm erst nahe bringen und so richtig sein Ding ist es bis heute nicht. Dennoch meinte er neulich, nachdem sein PC ein paar Wochen kaputt war, dass ihm meine Botschaften fehlen würden – und das, obwohl wir uns mindestens zweimal die Woche leibhaftig begegnen und ausführlich genießen.
Er hat also gemerkt, dass die virtuelle Dimension ihren eigenen Wert und eigenen Reiz hat: mit mir alleine schreibe ich ihm anders, als wenn ich mit ihm spreche, ich schöpfe aus der Gesamtheit meines geistigen Horizonts und aus dem ganzen Potenzial meiner Gefühle – er steht ja nicht vor mir und beeinflusst mich in jedem Augenblick durch seine nonverbalen und verbalen Reaktionen. Was dann rüber kommt, ist nicht dasselbe wie „von Angesicht“ – und dennoch genauso wahr und real existierend wie das, was wir im physischen Miteinander austauschen.
„Real Life ist auch nur ein Fenster unter mehreren“ hieß einmal ein geflügelter Spruch, der durch die Netze kursierte. Er trifft es auf den Punkt: Das virtuelle und das physische Miteinander sind beides interessante und ergiebige Dimensionen der Wirklichkeit. Probleme damit bekommt man nur, wenn man von einer auf die andere schließt und diesen Erwartungen entsprechend handelt. Der feurige Liebhaber in den Netzen kann „real“ eher schüchtern und zurückhaltend sein – und umgekehrt. Erst beides zusammen zeigt die ganze Person, die ja aus ihrer eigenen Innenwelt und dem, was sich nach außen zeigt, besteht.
Das Innenleben schreibt sich für nicht wenige besser per Mail – ob sie jemals auch von Angesicht ausdrücken werden, was in ihren Köpfen und Herzen lebt, ist zumindest ungewiss.
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18 Kommentare zu „Liebe per Email“.