Claudia am 08. Juni 2000 —

Zwangsjacke Intellekt

Mit „intellektuell“ meine ich nicht einen gehobenen Bildungsstand oder gar akademische Würden, sondern die Grundprägung, mit der lange schon die Menschen entwickelter Industriestaaten von klein an konditioniert werden: Ursachen und Wirkungen in Beziehung setzen, immer auf Sinn und Zweck schauen, alle Dinge und Handlungen analysieren und begründen – und dies alles in „schlüssigen“ Texten und Reden ausdrücken. Weck‘ mich mitten in der Nacht und frag mich: Warum rauchst du eigentlich noch immer? Schlaftrunken blinzelnd werde ich eine Rede vom Stapel lassen, die dieses verrückte Verhalten vollständig erklärt, ja – bei aller Schädlichkeit – als das einzig Richtige in meiner Situation erscheinen läßt.

Was ist damit erreicht? Natürlich ist ein solcher „denkender Mind“ erforderlich, um in einer technischen Zivilisation steuernd mitzuwirken. Er ist entstanden, um das AUSSEN in den Griff zu bekommen, beginnend mit dem urzeitlichen Jagen & Sammeln bis hin zum Programmieren. Dass die Welt heute nicht weniger katastrophal ist als dereinst, will ich mal beiseite lassen. (Vermutlich bleibt die Summe des Elends immer gleich, lediglich die Erscheinungsweisen ändern sich). Mich interessieren mehr die innerpsychischen Folgen, denn mit ihnen muß ich mich dauernd herumschlagen.

Vernünftig sein

Einen Zusammenhang „verstehen“ scheint die Macht mit sich zu bringen, die Dinge auch zu verändern, sie zu beherrschen. In den meisten alltäglichen Angelegenheiten erleben wir das so, doch wissen wir nicht, wieviel davon uns nur so erscheint, gerade WEIL wir gewohnt sind, so zu denken. Ein Problem, an dem sich Philosophen gerne abarbeiten, mich bewegt etwas anderes: Ohne es je bewußt so beschlossen zu haben, denken wir auch über uns selber so: alles, was ich tue, muss einen Grund haben – und nicht nur irgend einen, sondern einen GUTEN. Sämtliche Handlungen und sogar die Wünsche müssen in ein vertretbares persönliches Wertesystem passen – tun sie das beim besten Willen nicht, dann müssen äußere Bedingungen daran schuld sein, für die ich nichts kann. Ja, ich bin geradezu verpflichtet, gegen diese Bedingungen anzutreten, bzw. zu begründen, warum mir das gerade nicht möglich ist.

Dies ist, kurz gesagt, der NORMALE GLAUBE, in dem wir alle aufwachsen. Er nennt sich auch „vernünftig sein“ oder „erwachsen werden“ und wenn wir in diesem Sinne „fertig“ sind, stecken wir in einer vollkommenen Zwangsjacke. Besonders schwer betroffen sind diejenigen mit einem natürlichen Sprachtalent: Je besser und schneller Sinn & Zweck, Ursache & Grund brilliant formuliert werden können, umso dichter und undurchlässiger gerät die Mauer, die dieses Denken gegen das „aussen“ und den Anderen errichtet. Und auch der Weg nach INNEN, zu dem, was ich bin, ist versperrt.

Warum? Weil ein denkender Mensch nach außen und innen stets die Illusion der Rationalität aufrecht erhalten muß. Eigene Impulse müssen in die aktuellen Zielvorstellungen und Wertesysteme eingepaßt werden – oder Ziele & Werte sind eiligst anzupassen, wobei die Anpassung natürlich sinnvoll begründet werden muß. Von außen dringt kaum etwas herein, bzw. alles wird nur daraufhin betrachtet, ob es dieses anstrengende innere Management in Gefahr bringt. Geradezu automatenhaft wird alles nur abgewehrt, was nicht problemlos den eigenen Status unterstützt, andere Standpunkte und Seinsweisen, anders gelagerte Interessen, ja, der andere Mensch INSGESAMT gerät zum blossen Störfakor, zum potenziellen Feind: bist du nicht mit mir, bist du gegen mich. Und das bedeutet: Ich muß dich beherrschen oder ignorieren, sorry, aber anders gehe ich unter. Das ICH in einer solchen Elendskonfiguration bietet aber auch keinen Halt, da es reine Vorstellung ist, die sich dazu noch laufend verändert.

Tut das gut?

Ein so perfektionierter durchweg intellektueller Mensch hat keine Möglichkeit, aus seiner Zwangsjacke auszusteigen – allenfalls Drogen helfen für kurze Zeit, entfalten dafür aber andere zerstörerische Wirkungen. Hinzu kommt: Es kann ihm auch nicht geholfen werden, denn er ist DICHT gegen außen, jede „vernünftige“ Intervention prallt ab an der lückenlosen Abwehr, solange auch nur ein Rest von Energie zur Verfügung steht.

Von wem rede ich hier eigentlich? Von mir natürlich. Bis zu meinem 36. Lebensjahr führte ich ein über die Maßen anstrengendes Leben in der Zwangsjacke. Zwischen 30 und 36 vermehrten sich allerdings die Wände, gegen die ich mit nachlassender Kraft anrannte. Immer mühsamer wurde es, nach innen und aussen den Schein der „Vernünftigkeit“ zu wahren (interessanterweise waren das meine gesellschaftlich aktivsten Jahre!). Ich hatte mich in ein Netz aus Posten und Positionen, Beziehungen und Macht verstrickt, in dem ich von früh bis tief in die Nacht strampelte, um es aufrecht zu erhalten – dabei hatte ich nicht mehr die geringste Chance, inne zu halten und mich zu fragen: Wozu das alles? Was bringt es mir? Will ich das? Macht das Freude? Tut das gut?

Ich erinnere mich, daß es immer wieder Menschen gab, die mir ganz freundlich gemeint diese Fragen stellten. Keine „Feinde“, sondern ganz unverdächtige Fremde. Doch ich erinnere auch, wie ich sie gar nicht an mich heranließ, wie ich nicht einmal ENTFERNT in Erwägung zog, ihre Fragen ernst zu nehmen. Noch während sie sprachen, war ich innerlich am Konzeptionieren der brillianten Antwort und wartete nur auf eine Lücke in ihrer Rede, meist unterbrach ich sie einfach und legte los.

So verbrauchte ich alle meine Energie über Jahre in einer immer unerträglicher werdenden Mühle, griff „zur Entspannung“ zum Alkohol (eigentlich die langweiligste aller Drogen, die ich kenne) und meine Innen- und Außenwelt entwickelte sich zur ausgewachsenen Hölle. Eine Hölle, die ich natürlich lange „ganz normal“ fand und optimal begründen konnte.

Ich hatte keine Einsicht, keine Erleuchtung und keinen hellen Augenblick, es geschah auch kein Wunder. Sondern ich wurde massiv zerstört, zerstörte mich selbst durch dieses „weiter so“. Etwa drei Jahre verbrachte ich in der ausgewachsenen Hölle bis ich FERTIG war. Und DANN dauerte es noch eine lange Zeit, bis ich das auch ZUGEBEN konnte, erst vor mir selbst, und endlich – der Knackpunkt – auch vor anderen.

Sehen, was ist

Mit Texten kann man angeblich alles sagen. Ich weiß, daß das nicht stimmt. Wenn ich hier hinschreibe, daß ab diesem Moment die Welt eine andere war, dass es „mich“, wie ich gewesen war, ab diesem Zeitpunkt nicht mehr gab, wirft das Fragen auf. Aber ich kann sie nicht beantworten, es geschah einfach so. Alle selbst aufgebürdeten Lasten fielen von mir ab und ich bemerkte mit großem Staunen, daß ich ein frei schwebendes Wesen bin. Zwar mit den Füßen auf der Erde (endlich!), aber FREI. Nichts zwingt mich, weder zu bestimmten Aktivitäten noch zum ständigen Begründen meiner selbst und der Welt. Ich kann das alles einfach hinnehmen, wie es gerade ist: meine wechselnden inneren Impulse und Bedürfnisse ganz genau so wie das Wetter oder die aktuellen politischen und wirtschaftlichen Bedingungen. Alles anzuschauen und zu sehen, WIE es ist, ist sogar viel spannender als zu fragen, WARUM es so ist und darauf zu bestehen, dass es SO nicht sein darf! Vor allem verbraucht es praktisch keine Energie, allenfalls die, die für eine beobachtende Aufmerksamkeit erforderlich ist.

„Alles hinnehmen“ heißt nun nicht, ein bequemerer und stromlinienförmigerer Mensch zu sein. Im Gegenteil: zuvorderst nehme ich mich selber hin, wie ich nun mal bin. Und richte mich danach, brocke mir also keine Dinge ein, die mich zurück in die Zwangsjacke führen könnten, bzw. wehre alles ab, was sich in diese Richtung entwickelt. Das ist sozusagen das oberste Gebot für meinen Seelenfrieden, der mir zum wichtigsten Wert geworden ist. Ich halte mein Leben einfach, strebe für die Zukunft nichts BESTIMMTES an und lege Wert darauf, dass auch „auf dem Papier“ nichts anderes steht als das, was ich auch jenseits der Papierwelt als meine Realität erkenne. Alles andere ist mir zu anstrengend, führt mich zurück in die Hölle.

Zwänge? Drohungen? Gefahren? Es existiert keine größere Gefahr als die, sich wieder zu verstricken, in einem halb schlafenden Zustand in Geleise zu geraten, die nur ins geistig-psychisch-physische Elend führen. Seit 36 bin ich praktisch nicht mehr krank: Rücken- und Knieschmerzen weg, kein Kopf- und Halsweh mehr, Erkältungen nur alle paar Jahre, wenn ich mal mit nassen Haaren ins Freie gehe. Drohpotenziale, die andere Menschen aus ihren Zwangsjacken heraus auffahren mögen, erreichen mich nicht wirklich: kenn‘ ich alles schon, war ja lange genug „auf Null“ und hab‘ es überlebt, sogar mit Gewinn. Ein Gewinn, den niemand wegnehmen kann, denn er besteht gerade darin, nichts FESTES um jeden Preis zu verteidigen. Mitnehmen können wir sowieso nichts.

Wenn es mit den Mitmenschen mal etwas anstrengend wird, finde ich es übrigens angenehm, mich Programmen, Algorithmen und Robots zuzuwenden. Sie müssen nicht rationalisieren, sie SIND reine Rationalität. Wenn man sie laufen läßt und ihre Ergebnisse betrachtet, ihnen dabei automatisch „Sinn“ zuschreibt, wie es nun mal menschlich ist, ergibt das manchen Mitmensch-unabhängigen Lacher! Ich spiel‘ zum Beispiel gern mit Suchmaschinen, gebe Begriffe ein und vergleiche die Trefferzahlen. Net-Rankings können echt Spaß machen.

Hier hab ich z.B. mal mit den beiden Suchverzeichnissen gespielt und verglichen, wieviele Seiten zu prominenten Namen gefunden werden:

Name Altavista,com Fireball.de
Roman Herzog 12.594 5.866
Stefan Raab 4.835 3.866
Stefan Münz 59.030 8.940
Claudia Schiffer 39.305 2.551
Joschka Fischer 15.727 7.343
Gerhard Schröder 31.588 19.368
Angela Merkel 7.162 5.806
Bill Gates 307.684 12.209
Matt Wright 252.036 8.202
Dalai Lama 64.100 2.683
Rumpelstilzchen 2.408 1.153
Teletubbies 43.510 3.400
Lara Croft 40.173 4.194
Kant 79.300 11.463
Nietzsche 58.160 6.946
Heidegger 41.235 2.983
Jürgen Habermas 6.222 1.368
Peter Sloterdijk 1.487 601
Marshall McLuhan 15.491 443
Jean Baudrillard 7.513 350
Bill Clinton 370.454 14.333
Monica Lewinsky 93.135 1.636
Lady Di 10.562 1.255
Esther Dyson 12.159 331
Buddha 200.410 6.936
Jesus 2.649.600 44.898
Hermann Hesse 13.268 3.010
Douglas Adams 30.775 1.532

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