Claudia am 06. Juni 2000 —

The Medium is the Message

…sprach dereinst Marshal McLuhan und gab damit Denkerinnen und Denkern jede Menge Stoff, an dem entlang sie sich aufreiben und unzählige „Papers“ verfassen konnten. Dass das Medium die Botschaft sei, sie nicht etwa nur transportiere, widerspricht dem gesunden Menschenverstand so dramatisch, dass es einfach GENIAL sein muss.

Ich will McLuhan jetzt nicht diskutieren, bewahre! Neulich hab‘ ich mir die Domain „medienverdrossen.de“ gesichert, auf die ich auch „medientheorie.de“ zeigen lassen werde – das ist Statement genug. Doch mir fällt mehr und mehr auf, dass McLuhan noch in einem ganz anderen Sinne Recht hat, an den er womöglich garnicht dachte: Die Wahl des Mediums, in dem ich mit einem anderen kommuniziere, sagt etwas aus über den Charakter der Botschaft und den Zustand der Beziehung.

Email stoppt Telefon

Wie bei allen Netizens ist E-Mail mein Standard-Kanal. Niemals vorher war es möglich, derart einfach und bequem unzählige Kontakte zu anderen zu haben – das bedeutet nicht unbedingt VIELE FREUNDE, sondern einfach, von vielen Menschen zu wissen, Menschen aus den unterschiedlichsten Bereichen, zu denen man jenseits dieses Mediums kaum je Kontakt bekommen hätte. Damit verbunden ist eine gewaltige Erhöhung des Wirkungsgrades, den ein einzelnes Individuum entfalten kann: binnen 20 Minuten kommuniziere ich eine Botschaft an ca. 3000 Menschen (ein paar Mailinglisten und Webboards) – und wenn ich das über Jahre ab und an tue in je unterschiedlichen Angelegenheiten, kommt schon was zusammen – und es bleibt etwas hängen: Mein Name in Verbindung mit diesen & jenen Inhalten. So demokratisiert das Internet die Macht der „großen Sender“, die es nur kleinen Eliten gestatteten, sich beliebig über die Medien zu vermitteln.

E-Mail in dieser ausgereizten Form bedeutet jedoch, das Telefon weitestgehend verstummen zu lassen. Wer gewohnt ist, Kommunikation ON DEMAND abzuwickeln, nur in selbstbestimmten Arbeitspausen sich den Botschaften Anderer zuzuwenden, empfindet unangekündigte Telefonate zunehmend als Angriff. (Das gilt NICHT für liebe Freunde, die können mich JEDERZEIT anrufen, ich freu‘ mich!) Das Telefon ist ein Angriff auf die Zeitsouverainität, die mir dank des Netzes zugewachsen ist und die ich mittlerweile brauche, wie die Luft zum atmen.

Zweifelhafte Anrufe, Herrschaftsgesten

Und so wirkt es zunehmend als Herrschaftsgeste, wenn mich jemand anruft, der weiß oder wissen müßte, dass ich in der Regel maile. Leute aus den Bürowelten der alten Medien tun das besonders gern: sofern sie nicht selbst voll und ganz im Netz arbeiten, telefonnieren sie immer noch den halben Tag und vernachlässigen ihre Mailbox. Oft sind es Wischi-Waschi-Gespräche, von denen man hinterher kaum sagen kann, wozu genau sie eigentlich geführt wurden („Ich wollte mich mal mit Ihnen in Verbindung setzen….“). Oder es sind leicht durchschaubare Manipulationsversuche: da versucht jemand, mich auf der emotionalen Ebene weich zu klopfen, damit ich Dinge zusage, die ich definitiv nicht will. Aber sie haben schlechte Karten: Wer die Klarheit von E-Mail gewohnt ist, läßt sich nicht so einfach belabern (gern schicke ich gleich ein Mailprotokoll des Telefonats hinterher, damit der andere keine Gelegenheit hat, den Gesprächsinhalt beliebig zu interpretieren).

Herrschaftsgesten pur kommen von Fernseh-Schaffenden: Sie LASSEN MAILEN. Seit ich online bin, bekam ich bestimmt schon etwa 10 mal eine Mail des Inhalts, ich möge mich umgehend mit XYZ in Verbindung setzen, der „brauche einen Dreh“, bzw. wolle mich in Sendung X bringen. Sofortiger Anruf unter der Nummer….erbeten, Termin in drei Tagen. Ihnen ist die Unverschämtheit ihres Auftretens kaum bewußt, wenigstens unterstelle ich das nicht. Sie gehen einfach davon aus, dass jedermensch nix anderes im Sinn hätte, als eilfertig hinzustürzen, wenn DAS FERNSEHEN ruft. Tja, das sind Gewohnheiten, die ein altes Massenmedium schafft – aber sie werden noch merken, dass sie nicht mehr das „Leitmedium“ darstellen. Mit mir gab es jedenfalls bisher keinen „Dreh“ und ich seh auch nicht ein, wofür das gut sein sollte.

Während Mail zum Standard aller Gespräche geworden ist und das Telefon allenfalls als Plauderkanal für Freunde dient, bietet die Briefpost nur noch eine einzige Qualität: Rechtsverbindlichkeit. Jenseits unverlangter Werbung und ritueller Glückwunschkarten ist die Post vom Transport alltäglicher Botschaften gänzlich befreit. Fax, Telefon und Mail haben ihr den Garaus gemacht. Sie hält sich noch für kurze Zeit am Leben mit eben dieser Restfunktion, die Marshal McLuhans Statement neu illustriert: Was immer ich dir per Briefpost schreibe, es ist vor allem eines: rechtsverbindlich! Insofern ist Briefpost eine Aussage darüber, welchen Zustand die Beziehung angenommen hat. Zwar kann auch ein intensiver Mailwechsel und eine Reihe von Faxen vor Gericht Beweiskraft haben, doch nichts ist so klar, einfach und definitiv unangreifbar wie ein Statement per Einschreiben/Rückschein.

Real Life Charismatiker

Die virtualisierte Welt ist in vieler Hinsicht gnadenlos. Das spüren nicht nur die „Information Poor“, sondern vor allem Menschen, die es bisher gewohnt waren, durch AUFTRETEN zu glänzen. Magier des Wortes, die vor jeder Gruppe brillieren, indem sie Luftnummern an die Wände projizieren und dazu den schamanischen Tanz vom erfolgreichen Kriegszug tanzen. Nicht weit entfernt von evangelikalen Predigern vermögen Sie es, im „Real Life“ die Menschen in ihren Bann zu ziehen. Auf der psychischen Klaviatur zwischen mitreissender Begeisterung und emotionaler Erpressung sind sie Virtuosen, allein darauf beruht ihre Macht, nicht etwa auf irgend welchen spezifischen Fähigkeiten. Sie leben nicht in der Realität, sondern in ihren sprunghaften Vorstellungen – und mit aller Power versuchen sie, andere in diese Vorstellungen hineinzuziehen, auf dass eine Realität entstehe, die sie in der Regel nicht selber auszubaden gedenken (man delegiert…). Sie tanzen längst einen neuen Tanz, während ihre Subalternen graue Haare bekommen im sinnlosen Bemühen, die Luftnummern von gestern auf dem Boden der Tatsachen anzulanden.

Doch DIESE Macht brökelt. In einer Kultur, die sich unausweichlich vernetzt, deren Individuen nicht mehr ständig in „Besprechungen“ herumhängen (mir fällt da immer das „Warzen besprechen“ ein), sondern coole, kurze, inhaltlich prägnante Mails austauschen, sehen die Magier alt aus. Der Kaiser hat keine neuen Kleider, der Kaiser ist NACKT!

Sich erfolgreich in „Virtual World“ bewegen, setzt paradoxerweise voraus, einen klaren Blick auf die Wirklichkeit zu pflegen. Insbesondere auf die Veränderungen, die sich mit der Vernetzung ergeben: Jede beeindruckende Behauptung läßt sich sofort verifizieren – man kann ja schnell mal ein paar Kompetente anmailen. Klarheit, Wahrheit und Kürze ist angesagt. Luftnummern platzen täglich schneller. Der Marketingjargon mit seinen wolkig-größenwahnsinnigen Formulierungen ist ein sterbendes Genre, wie es das Cluetrain-Manifest so schmissig erklärt. Seit kurzem ist das sogar den Börsianern klar geworden, die wieder auf Zahlen und Fakten schauen und nicht auf wilde Zukunftsvisionen.

„Fantasie“ ist etwas viel zu Schönes, um im Hype ums goldene Kalb verbrannt zu werden. Laßt uns Kunst machen und spielen, Leben ist JETZT.

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