Claudia am 04. November 1999 —

Zahn um Zahn

Wir sterben nicht von jetzt auf gleich, sondern Stück für Stück. Wenn es „nur“ ein Zahn ist, der vorzeitig verlustig geht, denkt normalerweise niemand ans Sterben, höchstens ans Ersatzteil und seine Kosten. Vielleicht ist es der November, der mich so denken läßt, draußen hängt dicker Morgennebel und macht die Welt fast unsichtbar – irgendwann wird sie ganz verschwinden, genau wie der Zahn!
Die immense GEWALT, die mein Zahnarzt aufwenden mußte, um das seiner Ansicht nach überflüssige, ja schädliche Kauwerkzeug zu entfernen, hat mir die Materialität, das Beharren, die mechanisch-biologische Kraft gezeigt, mit der „der Körper“ in der Welt steht. Das ist leicht zu vergessen in einem sitzenden Leben vor dem Monitor, im Umgang mit Software, wo alles mit einem Mausklick getan ist.

Ich würde mich weniger vor dem Prozeß des Sterbens fürchten, gäbe es die Möglichkeit, zu jedem Zeitpunkt in diesem sicher gewaltätigen und schmerzhaften Prozeß den finalen Mausklick zur Verfügung zu haben. Vielleicht gelingt es meiner Generation noch, bevor es ernst wird, dieses Menschenrecht auf ein selbstbestimmtes Ableben durchzusetzen!

Träume vom Zahnverlust

Das Philosophieren mit den Zähnen hat noch andere Aspekte: Zähne sind nicht nur zum Kauen da, sondern sie sind WAFFEN. Wer schon einmal den berühmten Traum hatte, in dem die Zähne samt und sonders ausfallen, im Mund zerbröckeln, der weiß, daß sie physische Entsprechungen der Kraft sind. Ich hatte diesen Traum einige Male, so bis Mitte dreissig, und es war ein furchtbarer Schrecken: ein Gefühl des Verlustes sämtlicher Fähigkeiten sich zu behaupten, absolute Wehrlosigkeit, Angst.

Typischerweise traten diese Träume zu einer Zeit auf, in der ich nach außen einen recht kämpferischen Lebensstil pflegte, allerlei Machtpositionen besetzt hatte und sie zu verteidigen wußte. Ich war „effektiv“ für die jeweilige Sache, aber innerlich litt ich in jeder Auseinandersetzung wie ein Schwein. Es durfte ja in meinem Weltbild keine „Feinde“ geben, ich war auf KONSENS gepolt, sehnte mich nach Harmonie und Einträchtigkeit. Wo das nicht zu finden war, lernte ich, mich durchzusetzen – allerdings mit Bauchschmerzen und fürchterlichen Träumen vom Zahn-GAU.

Gegen Ende dieser Lebensphase fiel mir auf, daß ich auf einmal die Zeit nicht mehr „seit damals“ rechnete, sondern „bis dahin“. Nicht mehr die Jahre seit dem Studium, seit dem Umzug nach Berlin, seit den Kindertagen stand mir im Bewußtsein, sondern die Zeit, die mir voraussichtlich noch blieb. Dieses etwas unheimliche Umdenken leitete eine Krise ein, die ein paar Jahre dauerte und mir zeigte, wie machtlos ich bin. Daß die Welt sich nicht darum schert, was ich über sie DENKE, und mehr noch: daß das GUT SO ist.

Als ich aus dem Tunnel dieser Krise am anderen Ende wieder auftauchte, war nichts mehr, wie es vorher war. Plötzlich wußte ich, was Freiheit ist: nicht immer gewinnen müssen, sondern auch verlieren können. Nicht stets besser sein wollen, recht haben um jeden Preis, schneller, höher weiter, VORWÄRTS kommen müssen, sondern endlich mal die Augen aufmachen und die Schönheit der Welt sehen. Eine Schönheit, die geworden ist und weiter besteht, ohne daß ich meinen Senf dazu geben müßte!

Seither kann ich wählen, ob ich in irgend einer Sache kämpfen will oder nicht. Zeigt sich jemand als Feind, muß ich nicht automatisch zurückschlagen – hab‘ aber auch keine „mentalen Probleme“, das zu tun, wenn ich mich dazu entscheide.
Es wundert nicht, daß ich heute vergleichsweise sehr sehr friedlich lebe. Und die Zähne fallen nicht mehr in Träumen aus, sondern mein Zahnarzt tut seinen Job.

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