Claudia am 11. August 1999 —

Gottesgabe, Tag 28, Sonnenfinsternis, deprimierte Stimmung

Da wird sich also heute die Sonne verfinstern! Wie seltsam, was für eine Dimension der Rummel um das Naturereignis mittlerweile angenommen hat: Schlangen vor den Optikerläden, ausgebuchte Züge und Hotels, Rückrufaktionen wegen fehlerhafter Brillen, intensive Berichterstattung in den Medien. Warum diese allgemeine Erregung?

Ich vermute, es ist das tiefe Bedürfnis nach nicht vom Menschen steuerbaren Ereignissen und nach Einzigartigkeit – beides Dinge, die in unserer hochzivilisierten, verwalteten, digitalisierten Welt selten geworden sind, bzw. selten zu sein scheinen. Alles Bemühen geht in die Richtung, die Dinge in den Griff zu bekommen, sie berechnebar und nutzbar zu machen – doch die Erfolge machen nicht richtig glücklich.

Gestern war ich recht deprimiert. Der Arbeitsanfall hat derzeit Ausmaße angenommen, daß ich öfter mal die Lust an allem verliere. Es ist ja verrückt: Da verdiene ich Geld genug, um hier in einer wunderschönen Wohnung in ruhiger, ländlicher Umgebung zu wohnen und habe einfach keine Zeit, auch nur rauszugehen und irgend etwas damit anzufangen.

Wenn es SO aussieht, dann trete ich ganz von selbst in eine Art Streik (nie lange, aber immerhin!), arbeite erst recht nichts, hänge herum, tu was anderes, das mich ablenkt und halte mir vor Augen, daß die Welt keineswegs einfällt, wenn die Webseite X drei Tage später online geht. Es ist das Schlimmste, den STELLENWERT der eigenen Tätigkeit angesichts des Ganzen aus den Augen zu verlieren, dann geht man im Streß unter und sieht kein Land mehr.

Das Land mache mich depressiv, meint mein Lebensgefährte, die Schwere der Erde schlage auf mein Städtergemüt, das schnell wechselnde Reize für sein Wohlbefinden benötige, insbesondere für den Spaß an der Arbeit.

Und tatsächlich: als wir dann spontan nach Schwerin fuhren und ein wenig durch die Altstadt bummelten, wurde ich sehr viel fröhlicher. Deckte mich mit Lesestoff ein, wandelte durch die Kunstwelt der Schloßpark-Mall, saß auf dem Schloßplatz in einem Café, wo das ganze Ambiente mich stark an Siena erinnerte und war wieder putzmunter.

Aber dort wohnen möchte ich nicht, obwohl Schwerin eine wirklich hübsche Stadt ist. Anscheinend muß ich einmal pro Woche Stadtluft schnuppern, um psychisch-geistig nicht zu verkümmern, gut, zu wissen. Doch ist es ja gerade das Ereignis, der Kontrast, das Besondere, das Nicht-Alltägliche an einem Stadtbesuch, das die belebende Wirkung ausmacht – und das kann ich hier, 9 km vor Schwerin, 35 km vor Wismar, 43 km vor Lübeck, 100 km vor Hamburg und 200 km vor Berlin wirklich einfach haben!

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