Claudia am 30. Juli 1999 —

Gottesgabe, Tag 16: Zu wenig Zeit, zu viele Aufträge

Ich muß mir darüber klar werden, wie und wohin es beruflich weitergeht. Auf den ersten Blick bin ich erfolgreich – Webdesign- und Konzeptioning-Aufträge kommen „von selbst“, und zwar mehr, als ich leisten kann. Fast blicke ich mit Sehnsucht zurück in die Zeit, als dies nur eine Möglichkeit unter mehreren war und ich in meinen privaten Seiten völlig aufging. Das Cyberzine Missing Link, die Experimente mit Glück, dazwischen mal eine Art CD-Rom-Kunst wie Orkus oder Seiten zum Thema Mensch&Technik wie IMD-RE und [Internet][Computer][Man], die Versuche, das Zusammenwirken mehrerer in Webgesprächen interessant zu moderieren – ach, was waren das unbeschwerte Zeiten!

Heute treibt mich das Problem vieler Freiberufler um: Zu wenig Zeit! Nicht nur zu wenig Zeit, um wie früher viele eigene Projekte zu entwickeln, sondern auch zu wenig Zeit, um die Aufträge locker und stressfrei abzuarbeiten. Dafür kann ich jetzt immerhin in einem Schloß leben, mitten auf dem Land und in einer Lebensqualität, wie sie über Einfamilienhäuser weit hinaus geht (wo gibt es schon eine soooo große Wiese, einen Wald mit alten Bäumen und Gestaltungsspielraum noch und noch?).

Doch momentan komm ich kaum raus. Die Endphase einer Buchpräsentation gestaltet sich hektisch und unvorhergesehen aufwendig. Und zugunsten dieser relativ kleinen Sache schiebe ich ein Auftragsvolumen vor mir her, das mir das nächste halbe Jahr finanziert. Kaum ist einen Moment Ruhe, trifft die Anfrage eines alten Auftraggebers aus der Umweltszene ein: „Wann kannst du das Energie-Projekt zeitlich eintakten?“

Tja, das zeitliche Eintakten ist momentan echt aus dem Lot! Lange war es so, daß ich zu jeder Anfrage „Ja“ sagen konnte, ohne Gefahr zu laufen, mich zu übernehmen. Denn meist stellte sich heraus, daß sich aus drei Anfragen und Vorgesprächen maximal ein Auftrag konkretisierte – jetzt ist das anders. Wer sich bei mir meldet, will wirklich was von mir – und die „alten“ Auftraggeber bleiben am Ball und generieren ein Projekt nach dem anderen.

Bezüglich der Web-Arbeit treibt mich auch schon länger der Gedanke um, dabei nicht stehen zu bleiben. Vielleicht macht es mir ja irgendwann keinen Spaß mehr, immer wieder neue Webprojekte für andere zu gestalten. Genauso, wie man nicht endlos Lust hat, neue Gärten anzulegen – man will auch mal einen wachsen sehen und Früchte ernten.

Das ist die Frage nach dem eigenen kommerziellen Projekt. Seit einigen Monaten entwickle ich – zu sporadisch, immer, wenn Zeit bleibt – einen Schulungsbereich. NetKnowHow wird gebraucht, das erlebe ich täglich dringlicher. Und Anfänger sind heute meist damit überfordert, sich die Infos aus dem Netz selbst zusammen zu suchen und eigenständig zu lernen. Es gibt sie zwar noch, die engagierten Autodidakten – aber die Masse der ins Netz strömenden Neulinge hat weder Zeit noch Lust, so tief einzusteigen.

So sitze ich also vor einem Berg Arbeit und manchmal ist mir alles zu viel. Dann geh‘ ich raus, leg mich auf die Wiese und schaue in den Himmel. Oder laufe ein Stück eine der drei Alleen entlang, die aus dem Dorf hinaus führen, schaue in den unverstellten Horizont, wo vereinzelte Megamaschinen brummend die Ernte einsammeln. Und binnen Minuten stellt sich die innere Distanz wieder her, aus der herauszufallen zum Schlimmsten gehört, was ich im Leben kenne.

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