Claudia am 28. Juli 1999 —

Gottesgabe, Tag 14: Land, Stadt, Erwartungen

So ist das Leben: Gestern noch hatte ich in dieses Diary den Satz geschrieben: „Nie würde ich einen Rasen anlegen und pflegen..“ und kaum zwei Stunden später hat mich mein Lebensgefährte überzeugt, daß der meterbreite Beetstreifen direkt ums Haus am besten mit Rasen zu bepflanzen sei, aufgelockert durch einige wenige markante Pflanzen, die so viel besser in ihrer Gestalt zur Geltung kämen, als inmitten eines wildes Gestrüpps aus Ackerschachtelhalmen und anderem Spontangrün.

Und wo er recht hat, hat er recht: schon jetzt sehen die großen Farne inmitten der umgegrabenen und begradigten Erde sehr viel besser aus. So ein bißchen ZEN-mäßig (…bis die Hunde drübertoben – der Rasen ist also unverzichtbar! :-)

Wenn ich so durchs Dorf wandere, bietet sich das in Deutschland West wie Ost bekannte Bild: wunderschön gepflegte Häuser, blühende Gärten, Springbrunnen, Gartenskulpturen (praktisch KEINE Gartenzwerge!) und hie und da Gemüse- und Salatanpflanzungen. Gegeneinander sind die jeweiligen Areale durch Hecken und Zäune abgegrenzt, oft wacht ein Hund über das Anwesen (darüber kann ich nicht mehr spotten, seit unser Auto fast geklaut worden wäre, weil es am Ortsrand stand, völlig außerhalb sozialer Kontrolle).

Das Schloß fällt heraus aus dieser ganzen Anlage. Es bildet den Abschluß des Dorfes nach Norden hin, weder links noch rechts noch dahinter gibt es Anlieger, die direkten Einblick in den Schloßbereich hätten. Wir wohnen sozusagen „außerhalb“, wenn auch der Platz vor dem Schloß früher funktional ein zentraler Dorfplatz war.

Nachbarschaftliche Konflikte könnten also – schon räumlich bedingt- nur zwischen den Mietern im Schloß auftreten, die allesamt „Zugezogene“ sind und insofern im selben Boot sitzen. Die Wohnsituation ist ja recht ungewöhnlich: ein riesiges Arreal aus Wald, Wiese, potentiellen Gärten, alles ohne Abgrenzung von „Mein“ und „Dein“, und nur wenige Mietparteien, die – anders als in der Großstadt – nicht automatisch in der Anonymität der grossen Masse versinken. Doch bin ich optimistisch: mein Focus ist die Arbeit übers Netz, nicht irgendeine konkrete Gestaltung im Schloßbereich. Soll doch jeder machen, was er/sie mag – auf meiner Website bin ich schließlich Königin, das reicht mir völlig aus! :-)

Werten & Vergleichen?

Wenn ich in diesen ersten Wochen auf dem Land die Schönheiten preise, die Luft lobe, die Natur begeistert schildere, so will ich damit nicht die Vorteile und Wunderwerke der Stadt heruntermachen. Lange 45 Jahre lang waren Städte für mich der einzig mögliche Aufenthaltsort, an dem man leben kann. Der Lärm, die dicke Luft, die oft mißlaunig oder agressiv wirkenden Menschenmassen, nicht einmal die deutschlandweit bekannte Miesepetrigkeit der Berliner konnte daran etwas ändern.

Es ist nicht besser auf dem Land, es ist anders. Jedem Vorteil, der gegenüber der Stadt herausragt, steht auch ein Nachteil zur Seite. Zum Beispiel die „gute Luft“: Gestern fuhr ich zum Einkaufen ins Nachbardorf und auf zwei Kilometern stank es ganz erbärmlich nach Schweinescheiße! (Offenbar ist jetzt die Zeit, wo sich die Bauern nach dem Abernten der Felder der Gülle entledigen). Wo in der Stadt das Elend in vielen Gesichtern, die Ignoranz, die Einsamkeit, das Konkurrieren um jeden Preis unübersehbar ist, tritt auf dem Land dasselbe in Erscheinung, jedoch zuvorderst im Reich der „Natur“, der Pflanzen und Tiere, die vom Städter gern romantisiert werden. Da herrscht der Kampf aller gegen alle, ganz unverstellt, und man macht sich zwangsläufig Gedanken, inwieweit sich Menschen eigentlich davon unterscheiden.

Ich bin nicht hierher gezogen, um ein Paradies zu finden, erwarte nichts dergleichen. Es war nicht einmal ein Entschluß im üblichen Sinn, es hat sich locker ergeben. (Ohne die Einladung unserer Freunde, denen das Schloß gehört, wären wir nicht gegangen). Doch seit Jahren fühle ich ein immer stärkeres Bedürfnis, den Elementen näher zu sein, nicht nur „zu Besuch“, als sporadischer Tourist. Und je weniger ich von anderen, den Mitmenschen, der Gesellschaft, vom Sozialen allgemein erwartete, desto spürbarer ist dieses Bedürfnis. Auf die Frage: „Was würdest du bedauern, wenn du jetzt stirbst?“ kam die Antwort täglich klarer: Daß ich nicht inmitten von Wiesen und Wäldern, unter Sonne, Regen und Wind gelebt, sondern meine Tage fast ausschließlich in Häuserschluchten verbracht habe!

Der jährliche Exodus von Millionen an irgendwelche Strände dieser Welt kommt aus dem gleichen Bedürfnis. Wenn ich im Wald stehe und einen alten Baum ansehe, die Rinde anfasse, dann ist in mir eine Resonanz, die ich kaum in Worte fassen kann. Etwas in mir IST dieser Baum, etwas in mir IST die Wespe, die herumfliegt.

Ich erkläre es mir als Erbe der Urzeit, als Gedächtnis der Zellen, als Erinnerung an alle Entwicklungsstadien, die wir seit der Amöbe, ja seit dem Sternenstaub des Urknalls durchgemacht haben, bevor wir erreichten, was wir heute sind: PC-User, die sich wesentlich über Zeichen und Bilder mit der Welt in Beziehung setzen.

Diesem Blog per E-Mail folgen…