Claudia am 27. Juli 1999 —

Gottesgabe, Tag 13: Stadt, Land, Toleranz?

„Du verwirrst mich“, schreibt Jan aus Essen, und weiter:

„Wie, so frage ich mich, kann es Sinn machen, sich aus der Privatsphäre einer großen Menge in eine kleine zu begeben, in der jeder jedem über den Gartenzaun schaut? Hast du Erfahrungen mit der Toleranz auf dem Land gemacht? Alles, was ich bisher vom Land mitbekam, ging gegen mein ungewöhnliches Erscheinungsbild, gegen mein Verhalten (soweit es nicht in Erwartungen passte) und gegen mein Wesen.“

Vor 20 Jahren hätte ich genauso geschrieben und meine wenigen damaligen Erfahrungen waren dem entsprechend: intolerante Dörfler, die den Zugezogenen über den Gartenzaun in die Suppe spucken! Auch Erfahrungen vor ein paar Jahren, mit ausgewanderten Deutschen in der Toskana waren eher noch schlimmer, da ging es mit ganz anderen Kalibern zur Sache, mancher mußte gar um Leib und Leben fürchten, von Idylle keine Spur!

Daß ich heute in ein 150-Seelen-Dorf ziehe, ohne solche Einflüsse wirklich zu fürchten, hat innere und äußere Gründe.

Einmal ist das Ding mit dem „Erscheinungsbild“ heute ein anderes. Ich erinnere mich gut daran, daß ich meine Optik früher als bewußtes Absetzen gegenüber dem Mainstream verstand, Klamotten und Outfit als Botschaft: „Auf Euch hab ich keine Lust. Ich bin ANDERS!“ Mit dem WESEN hat das wenig zu tun, im Gegenteil, es ist allermeist Ausdruck des traditionellen Generationenkonflikts, in dem den Alten und Etablierten gezeigt werden muß, was Sache ist!

Mit den Jahren schleift sich dieser Impuls ab. Je mehr mensch dazu kommt, wirklich ein eigenes Leben zu leben, durch Versuch & Irrtum immer neu herauszufinden, was das „eigene“ denn sein mag (und dabei festzustellen, daß es verdammt wenig wirklich „eigenes“ gibt – wie auch?) – umso unwichtiger wird das bewußt generierte Unterscheiden von anderen. Was wirklich ANDERS ist, braucht keine äußere Stütze, und was NICHT anders ist, erst recht nicht, oder? (Tatsächlich lebe ich klamottenmäßig schon immer, von 1970 bis heute, im Mainstream meiner Generation: Varianten von Jeans und T-Shirt. Und damit fällt man heute nirgendwo auf, nicht in der Stadt und nicht im hinterletzten Dorf).

Die Kleider sind nur Beispiel für vieles, was äußere Unterschiede angeht: Was hängt schon daran, daß ich ein altes Auto fahre, daß ich noch immer keine Schränke mag (jetzt, wo richtig Platz ist, kauf ich mir einen..), daß ich keinen RASEN anlegen und pflegen würde oder daß ich heute lieber früh morgens als nachts arbeite? Das ist alles völlig unbedeutend für andere und für mich ist es nur Ausdruck aktueller Befindlichkeit, jederzeit änderbar, wenn sich die Bedingungen ändern, nichts von „Wesen“.

Und wo nichts ist, kann auch ein Dörfler mit „Erwartungen“ nichts in Schwierigkeiten bringen. „Sie machen das anders? Interessant! Vielleicht probier‘ ich es bei Gelegenheit einmal aus….“.

(Zu den äußeren Umständen vielleicht morgen….)

Diesem Blog per E-Mail folgen…