Claudia am 22. Juli 1999 —

Gottesgabe, Tag 8

Eine Woche Gottesgabe! Als ordentlicher Bürger fahre ich jetzt zum Anmelden AUFS AMT nach Lützow. Fünf Kilometer gewundene Landstraße, teils durch wunderschöne mecklenburgische Baum-Alleen. Einige Straßen sind noch immer Kopfstein-gepflastert, der Aufschwung Ost hat zumindest hier noch nicht alles glatt gemacht. Rechts und links riesige gelbe Felder, reifer Weizen, ein paar Windräder, die der Landschaft etwas künstlerisches geben.

Ich fahre langsam, denn es gibt keinen Grund, sich zu beeilen. Sowieso bin ich nach 20 Jahren Berlin keine geübte Autofahrerin und mir sehr bewußt, daß ich mit dem Lenkrad den schnellen Tod in Händen halte. Einen langsamen Laster überholen und dabei Gas-gebend auf ein entgegenkommendes Auto zufahren, treibt mir den Schweiß auf die Stirn! Also vermeide ich es, soweit möglich – auf diesen kleine Straßen kein Problem, es kommt sowieso nur selten ein Auto.

Auf der Behörde: ich hab‘ zwar die Abmeldung dabei, aber nicht den Mietvertrag! Die Sachbearbeiterin sagt mit entschuldigendem Lächeln: „Den muß ich aber einsehen!“ Dann füllt sie das Anmeldeformular aus, klebt einen Aufkleber mit der neuen Adresse auf meinen Ausweis, ich unterschreibe. „Ich verlaß mich drauf, daß Sie den Vertrag noch vorbeibringen“, meint sie und entläßt mich als korrekt umgemeldete Neu-Mecklenburgerin. Ja, gibts denn das?

In Berlin nicht. Da hätte man mich mißgelaunt angemuffelt, was mir denn einfiele, ohne Nachweis des aktuellen Woihnsitzes überhaupt zu erscheinen! Da könne ja jeder kommen….

Es ist auffällig, wie freundlich die Leute hier sind – im Laden, in der Tankstelle, im Amt. Kein mühsam aufgesetztes Call-Center-Lächeln, weil man ja heute „kunden-orientiert“ sein will. Nein, ganz normale gut gelaunte Menschen, die ihren Job machen und dabei offenbar Spaß haben, sich zumindest nicht krampfhaft nach Mallorca oder ins Wochenende wünschen!

Mehr und mehr bemerke ich, was uns in den Städten verloren gegangen ist: die Achtung vor dem anderen, die Freude am Mitmenschen. Wo täglich Tausende vorbeistapfen, sich in U-Bahnen ballen, auf Straßen, Plätzen und in Kaufhäusern einander anrempeln, alle eingesponnen in ihrem aktuellen „Um-Zu“, möglichst wenig nach links und rechts schauend, kann diese Freude garnicht mehr aufkommen. Da muß jemand schon etwas leisten, etwas versprechen, aus dem einen oder anderen Grund zum „Objekt der Begierde“ werden, bevor ein beide Seiten beglückender Kontakt zustande kommt. Allermeist ist der Andere Störung, Konkurrent, potentielle Gefahr, Hindernis – in der Stadt ist Ignoranz Überlebenstechnik.

Hier dagegen grüßt man sich, auch unbekannterweise. Nur weil da ein MENSCH entgegenkommt! Einfach, weil er auch da ist und es GEGEN DAS GEFÜHL gerichtet wäre, still wegschauend aneinander vorbeizugehen.

In der Stadt ist dieses grundsätzliche Gefühl nicht anders: Es verletzt, einen anderen nicht zu bemerken, bzw. nicht von ihm wahr-genommen zu werden. Aber in den Menschenmassen der Metropolen müssen wir über dieses Gefühl hinweggehen, lernen, es nicht mehr zu bemerken. Und wir lernen schnell, passen uns an, vergessen, daß da überhaupt etwas war…. ein weiterer Stein in der Mauer, die alles ausschließt, was nicht Verstand, Berechnung, Ziel und Zweck ist.

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