Claudia am 11. Mai 1999 —

Bye bye Berlin Chamissoplatz!

Dieses ruhige Leben in Berlin/Chamissoplatz neigt sich also dem Ende zu. Wir haben den Mietvertrag für die Wohnung in Gottesgabe und werden im Juli umziehen. Was das alles mit sich bringt! Die ganzen Ummeldungen, Nachsendungen, der Behördenkram, neuer Ausweis, andere Nummerschilder, ein neuer Zahnarzt – meine Güte, nach 20 Jahren Berlin werde ich Mecklenburgerin!

Das „reale“ Leben wird sich in vielem ändern: auf Vorrat einkaufen, da es im Dorf keinen Laden gibt. Viel mehr mit dem Auto fahren, das ich hier in Berlin praktisch nicht benutze. Nur eine überschaubare Gruppe von Leuten, die man im Alltag zu Gesicht bekommt – und nicht die anonymen Massen der Großstadt.

Ich freue mich auf die Veränderung, das Ganze hat etwas von „großem Abenteuer“, mit dem ich nicht mehr gerechnet habe. Und es ergibt sich wie von selbst….

Ohne das „Angeschlossen-Sein“ über das Netz würde ich dieses Abenteuer nicht unternehmen. Mal ganz abgesehen davon, daß mich das Netz finanziell von meiner räumlichen Umgebung unabhängig macht, so bietet es auch ein stabiles virtuelles Umfeld, daß sich eben nicht ändert, bzw. auf gewohnte Weise dauernd ändert – egal, in welches Hintertupfingen ich den Fuß setze. Wenn ich einlogge, ficht mich der reale Nachbar nicht mehr an – das Netz ist die Großstadt, die ich immer bei mir habe, bzw. die mich hat, von der ich ein Teil bin, indem ich angeschlossen bin.

Über die Drähte strecke ich schon jetzt meine Fühler in das neue Gebiet aus, surfe gezielt nach Nordost und lasse über Tracerlock die Begriffe „Mecklenburg“ und „Schwerin“ beobachten. Täglich bekomme ich so Mails über neue Webseiten, die in Suchmaschinen angemeldet werden und diese Worte enthalten – virtual Schwerin kenn ich dadurch schon, hab‘ auch bereits Leute angemailt und Antwort bekommen. Netizens sind nirgendwo ohne Kontakte…:-)

Als neue Heimat im Cyberspace hab‘ ich die Domain Schloss-Gottesgabe.de angemeldet – dort werde ich alles, was mit dem neuen Domizil zu tun hat, sammeln, zeigen und berichten. Und Gottesgabe ist nicht nur ein neuer Wohnsitz, der den Vorteil hat, daß man Garten, Wald und Wiese um sich hat, anstatt eine Reihe von Gründerzeitfassaden. Gottesgabe ist auch eine Chance, ein Problem, wie man früher gesagt hätte. Es ist das typische Problem: keine Infrastruktur, keine Läden, keine Arbeitsplätze. Und mitten drin steht nun Schloss Gottesgabe, wunderbar modernisiert – wer aber zieht dorthin, kann sich das erlauben? Eine Pendlerexistenz zum Beispiel ist nicht besonders attraktiv und auch nicht sehr stabil. Die Mieter im Haus fluktuieren, kein Wunder! Das Dorf der Alteingesessenen hat nach der Wende seine sämtlichen Gemeinschaftsräume durch die (unabwendbare) Privatisierung des Schlosses verloren. Dort sitzen nun – „wir“, die Zugezogenen, mehrheitlich Wessis….

Und die sitzen da nicht einfach und lassen es sich wohl ergehen, sondern sind umtriebig: Wolfgang, unser Freund und ‚Vermieter in Spe, zieht mit Zehra und den Kids zum August ebenfalls ins Schloß. Sie entwickeln das bereits genehmigte und beblante Baugebiet 1: ein Gelände mit einer Unmenge steinerner Stallgebäude der früheren LPG gehörte zum mitverkauften Gelände. Dort müssen die Altlasten, die ganzen Ruinen abgerissen werden und ein Wohngebiet mit 65 Häusern soll entstehen. Häuser, die einschließlich Grundstück unter DM 200.000,- kosten. Auf der anderen Dorfseite gibt es noch einen Bebauungsplan 2 – wer da baut, weiß ich nicht, doch werden dadurch noch einmal Häuser dazukommen. Vielleicht reicht es ja eines Tages wieder für einen Laden?

Das kann nicht alles sein, denk ich mir. Auf dem Land werden die früheren Strukturen nicht wiederzubeleben sein. Aber vielleicht könnte eine neue Qualität entstehen, wenn mehr Networker zuziehen würden? Leute, die nicht pendeln müssen, weil sie ihre STADT bei sich haben….

Mal sehen, erstmal „muß gebaut werden“, was ich garnicht schlecht finde, denn als jahrzehntelange Bewohnerin eines Sanierungsgebiets fühle ich mich geradezu komisch, wenn nirgends ein Gerüst in Sicht ist…:-)

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