Claudia am 04. Mai 1999 —

Der richtige Zeitpunkt, die Stadt zu verlassen

Nun ist es seit einer Woche sicher, daß ich nach Mecklenburg ins Schloß Gottesgabe ziehe (siehe 26.4.). Seltsamerweise kommt nicht die geringste Wehmut auf, kein Abschiedsschmerz, keine traurigen Gedanken angesichts dessen, was ich alles verlasse. Als ich innerlich zum Umzug „ja“ gesagt hatte, erlebte ich eine Welle dieser Wehmut und dachte, das sei der Anfang einer längeren Trauerphase. Aber nein, das war schon alles!

Mir zeigt es, daß es der richtige Zeitpunkt ist, die Stadt zu verlassen. Ich komme hier „auf keinen grünen Zweig“ und genau der ist es, der mir fehlt. Da kann ich noch so erfolgreich in meiner Webarbeit sein: die Freude, die dabei aufkommt, ist garnicht zu vergleichen mit dem Hinaustreten auf eine Wiese, wenn der Morgentau noch auf den Pflanzen liegt, wenn der Nebel noch nicht ganz verschwunden ist und die Luft so klar ist, wie der Geist nur sehr sehr selten!

Es geht darum, eine Welt zu erleben, wo die Dinge sind, wie sie sind. Wo die Bäume ohne mich wachsen und die Blätter auch ohne meine Designkünste wunderbar aussehen. Ist es nicht seltsam, daß alles von Menschen Gemachte des Designs bedarf, der bewußt veranstalteten guten Gestaltung? Dagegen ist alles, was „da draußen“ ohne uns wächst, vom Regenwurm zur Rose, vom Mistkäfer zur Hanfpflanze, vom Efeu zum Kastanienbaum in sich stimmig und deshalb schön. Waren nicht z.B. auch alle Hunde schön, bis wir sie in die seltsamsten Falten und Gestalten gezüchtet haben?

Na, ich wollte jetzt nicht eine Brandrede über den „bösen Menschen“ halten, der alles kaputt und häßlich macht – ich frage mich nur, wie es dazu kommt, daß unsere Erzeugnisse und die von uns veränderten Tiere und Pflanzen nicht ebenso aus sich heraus „schön“ sind – warum sind wir selbst nicht so einfach schön wie jede x-beliebige Straßenkatze, warum machen wir nicht ganz „von selbst“ schöne Dinge? Daß es Kunst und große Werke auf jedem Gebiet gibt, steht dem nicht entgegen, spricht eher dafür. Denn daß es „Kunst“ gibt, heißt ja, daß normalerweise Kunst fehlt….

Wenn ich eine Webseite neu gestalte, ist es kein „machen“ im üblichen Sinn. Ich weiß nicht, was es werden wird und experimentiere herum – mit Farben, Formen, Texten, Buchstaben, Bildern. Nachdem ich eine Einzelheit verändert habe, lasse ich das Ganze auf mich wirken und „von irgendwo“ kommt dann ein Empfinden: das sollte aber noch ein Stück nach rechts, etwas Rotes wäre schön…. Manchmal kommt auch nichts und wenn ich dann trotzdem „mache“, dann wird es nichts. Merkt vielleicht keiner, aber ich merke es.

Vielleicht zehren wir in solchen Momenten der Kreativität vom selben Grund, aus dem auch die Pflanze wächst. Das ist keine „Leistung“, allenfalls die Leistung, zu warten, in sich hinein zu hören, anstatt irgendetwas dahin zu stellen, weil es nunmal Mode ist.

Vor zehn Jahren wär‘ es mir unmöglich gewesen, die Stadt zu verlassen. Eine verrückte Vorstellung, auf all die Möglichkeiten zu verzichten: Kultur, Stimmungen, Läden und Märkte, Szenen und Subkulturen, das MultiKulti-hafte und das gewisse Metropolen-Feeling: ja, hier bin ich im Mittelpunkt der Welt, am Puls der Zeit, in der Hauptstadt Berlin. In Berlin leben ist dazu noch diametral anders als etwa das Leben in München. München steht für den erfolgreichen und satten Mainstream und die Blüten, die er hervorbringt, Berlin für die Brüche, das Unstimmige, das 1000-fach gespaltene und zersplitterte der (Post-)Moderne.

In Berlin ist das „anything goes“ Normalität, nicht nur im positiv-spielerischen, sondern in jedem denkbaren Sinne. Berlin ist alles andere als aufgeräumt und ordentlich, keine schmucke Normalität legt die Gemütshaltung nahe, daß doch irgendwie alles in Ordnung sei, im Gegenteil. Und damit hat Berlin eine gewisse Wahrheit, denn unser Leben in den „entwickelten“ Industrieländern ist tatsächlich eine Wahnsinnsveranstaltung – auch wenn Öko heute „out“ ist. Ein Leben im Dienste der Wirtschaft, des UMZU, des Zweckrationalen, des Konkurrenzkampfs, das jede Menge Müll erzeugt, außen wie innen.

Jedem einzelnen bleibt aber die Möglichkeit, das Leben als eigenes zu erkennen und zu fragen: Was will ich? Was macht mir Freude? Was würde ich tun, wenn ich mal davon absehe, daß dies und jenes mich zu zwingen scheint? Ich frage mich das seit langem jeden Tag. Und immer ist da der Wunsch nach Erde, nach Pflanzen, Tieren, Wasser, Wind und Wetter – nicht nur im Urlaub, sondern JEDEN TAG. Und ab Juli werde ich (dem Netz sei Dank!) wirklich mitten drin leben – sofern ich nicht vorher einen Unfall habe, toi toi toi. :-)

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