Claudia am 25. Dezember 2004 — Kommentare deaktiviert für Lass dich weiterleiten!

Lass dich weiterleiten!

Nun sind sie da, die stillen Tage. An Weihnachten und Jahreswechselfesten nehme ich dieses Jahr in keiner Weise teil. Weder versammle ich „Jahresendzeitmuffel“ zum besinnlichen Schreiben, noch ist mir selbst danach zumute, weder öffentlich noch privat. Anstatt Texte über Sein und Selbst zu verfassen, genieße ich einfach diese Tage und Nächte, die so wunderbar „undefiniert“ sind, wenn man am allgemeinen Umtrieb keinen Anteil hat.

Da ihr aber nun schon mal gekommen seid, bereit, einen Text im Umfang von drei Din-A4-Seiten zu lesen (ja, sooooo LANG ist ein durchschnittlicher Diary-Eintrag!) und dafür fünf bis zehn Minuten Lebenszeit zu opfern, sollt ihr nicht ohne Alternativen bleiben.

Das wird jetzt aber NICHT die große, wohl sortierte Linkliste zu Freunden und Bekannten, sondern ich zeige hier nur ein paar Seiten, die ICH in diesen Tagen (mehr oder weniger zufällig) besuchte: Nachdenkliches, Unterhaltendes und Informatives, auch „bloß Nützliches“ kann vorkommen. Evtl. wächst die Liste noch bis Januar. Kommt drauf an, ob mich etwas anspricht und ob ich überhaupt Lust auf Surfen habe.

Warum Satsang cool ist – aus dem Tagebuch „Nicht“

Einträge „vom einfachen sprechen“ – Ulrikes Blog

Mit Firefox per Du – 11 Kapitel einer Browser-Freundschaft – (ich bin umgestiegen. Microsoft Explorer ade… )

Mit den Augen eines Freiers – Warum ich ins Bordell gehe

Männer und Sex(ualität) – Erotik im Geschlechterverhältnis – Dokumentation einer Tagung (75 Seiten PDF)

Ich wünsch‘ Euch allen das Beste! Nehmt’s mir nicht übel, dass ich keine Weihnachtsmails versende, ist nicht bös gemeint!

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Claudia am 17. November 2004 — Kommentare deaktiviert für Eis auf heißer Haut

Eis auf heißer Haut

Diesmal ist die Drehschranke ausgefallen und die Frau an der Kasse fordert dazu auf, das Plastikarmband trotzdem ans rote Lämpchen zu halten. Klar, der Saunagast muss ja einloggen ins System, das die Schrankschlösser und eventuell gespeichertes Geld verwaltet. Kleider sind hier nicht erlaubt, aber ohne Chip geht nichts.

Bei meinem ersten Besuch im Blub war gleich das ganze System ausgefallen. Die Leute saßen nackt auf den Bänkchen vor den Spinden und warteten. Mein Begleiter und ich setzten uns in voller Montur dazu, was sollten wir machen? Die Stimmung war erstaunlich gut, niemand ärgerte sich lautstark über die digital verriegelten Schränke, deren rotes Lämpchen nicht mehr zu grün wechseln wollte, Chip-Kontakt hin oder her. Ein Loch in der Zeit hatte sich aufgetan und alle nutzten es, um ein bisschen zu plaudern und miteinander zu scherzen. Sauna ist in manchen Momenten Utopia – echter Friede in Frottee-Handtüchern und Badelatschen.

Nach ca. zehn Minuten erschien ein nervöser junger Mann, der uns verkündete, der Server sei abgestürzt, aber der Admin sei nun gerade dabei, sich einzuloggen. Man werde sehen. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, aber nicht wegen der Raumtemperatur. Ein Fremdkörper in Verteidigungsbereitschaft, der nicht mitbekam, dass gerade kein Angriff drohte.

Nach dem Dampfbad, mit dem ich immer beginne, um der Lunge ein Reinigungserlebnis zu verschaffen, das sie dringend braucht, liege ich im verglasten Halbdunkel unter Palmen. Mein Körper arbeitet auf Hochtouren, um die lange nicht erlebten intensiven Reize zu verarbeiten. Überall angenehmes Prickeln, spürbar intensiver strömt das Blut durch kleinste, ansonsten wohl kaum mehr gekannte Äderchen. Den Atem fühle ich bis hinunter in den großen Zeh und wenn ich mich darauf konzentriere, kann ich überall ein sanftes Pulsieren spüren – ah, wozu noch denken?

Um mit dem Mitmenschen in Kontakt zu bleiben. Mein Begleiter beantwortet die nicht gestellte Frage, indem er das Wort erhebt. Wir sind zwei voneinander getrennte Wesen und können das Pulsieren, das Atmen und Strömen nicht gemeinsam spüren. Wenn ich also mit meiner Aufmerksamkeit in mein Erleben hinein gehe, entferne ich mich von ihm, bin seiner nicht mehr gewahr – und das erscheint als Sünde gegen den Geist des Miteinanders.

Träge fließen meine Gedanken dahin, ich höre zu, nicke, verstehe, merke dann plötzlich, dass mir ein Stück fehlt, muss wohl abgedriftet sein, egal. Atmen ist so schön, es fällt mir schwer, daneben noch etwas zu veranstalten. Vielleicht wär‘ ja ein Leben als Pflanze auch nicht übel.

Bis Mitte dreißig glaubte ich, man könne die Getrenntheit überwinden, indem man sich zusammen aufs Bett legt und fest umarmt. Also ganz oft ausprobiert, mit den unterschiedlichsten Mitmenschen in ebenso verschiedenen Beziehungsformen, mit und ohne Sex. Es klappt aber nicht, man macht sich höchstens etwas vor. Was im glücklichsten Fall stattfindet, ist genau dasselbe wie ohne Berührung: Man driftet ab in die eigenen Bestandteile, wird zur Zelle, zum Blutstropfen, zum Luftstrom in der Nasenhöhle, zur Hautoberfläche, zur sich hebenden und senkenden Brust. Berührung, einmal angenommen, sie sei optimale Resonanz, ohne den Schimmer eines Missklangs, verschmilzt nur einfach mit jenem Orchester sinnlicher Empfindungen, in das hinein ich mich auflöse. Ich verschwinde – egal, ob in Richtung vegetabiler Trance oder in Richtung Orgasmus: je mehr ich die Aufmerksamkeit von der Welt der Bedeutungen abziehe und mich ins Spüren des Daseins vertiefe, desto weniger ist da jemand, der noch jemand anderen treffen könnte. Man mag zusammen KOMMEN, aber man kommt dennoch nicht zusammen.

Irgendwie sind wir jetzt doch zusammen in die Blockhaussauna gekommen, fünf Minuten vor der vollen Stunde, dann beginnt nämlich der Aufguss. Wunderbar, mal wieder all diese vielfältig geformten Nackten zu sehen, echte Menschen, keine Werbeplakate. Gegenüber eine zierliche Asiatin mit so kleinen Brüsten, dass das Wort „Knospen“ mal wirklich passt. Neben ihr die schlanke Endzwanzigerin in vorgebeugter Haltung, auch ihre winzigen Erhebungen betrachte ich mit Staunen. Ich merke, warum ich hinschaue: wer weiß denn, wie lange so etwas noch zu sehen ist?! Mein Blick archiviert das Gesehene bereits für eine Zukunft gleichmäßig aufgeblasener Silikonbrüste, in der es wirklich Mut kostet, sich mit „abweichenden Formen“ überhaupt noch zu zeigen. Dabei werde ich das doch gar nicht mehr erleben – oder doch?

Ich hab‘ mir einen Schneeball aus zusammen gedrückten Eisbröckchen mitgebracht. Inmitten der glühenden Winde, die der Herr des Aufgusses mit einem großen Handtuch entfacht, nachdem er Wasser mit Melissen-Aroma auf die heißen Steine gekippt hat, kühle ich meine Haut mit Gefrorenem. Das ist zwar nicht Sauna-gerecht, denn nur trockene Haut kann richtig schwitzen, aber ich genieße es, will heute gar nicht die reine Lehre, das garantiert Gesunde und Förderliche, will nur spüren und genießen: Eis auf heißer Haut.

Der Mann vor dem Ofen gibt sich Mühe, gießt neu auf, wedelt durch die Luft, doch hält er das Tuch falsch, so dass ihm zwar die Anstrengung ins Gesicht geschrieben steht, aber kaum ein echter „Gluthauch“ entsteht. Ich vermisse Christian, den Meister der Elemente, der so unnachahmlich gelassen das Handtuch schwingt. Der es versteht, durch langsame Steigerung der Intensität die Anwesenden an ihre Grenze zu bringen, bis ein Aufstöhnen durch die Runde geht, wenn er kundig die Luft peitscht. Auf der dritten Etage, wo es sowieso am heißesten ist, glaubt man glatt, nun gleich zu verbrennen. Die Tür ist zu, das Schild „Achtung, Aufguss!“ verwehrt Neuen den Zutritt, und selbstverständlich wagt es niemand, inmitten des Rituals den Raum zu verlassen – ums verrecken nicht, denk ich mir manchmal, während ich mir das Handtuch über den Kopf ziehe, um mich ein wenig gegen das Schlimmste abzuschirmen. Warum tun wir uns das an, frag‘ ich mich, während ich zusammengeduckt den nächsten Gluthauch erwarte und Andere, die noch weit leidensbereiter sind, sogar aufstehen, um der heißen Luft eine größere Fläche zu bieten. Und warum bin ich jetzt mit dem Aufguss des „Ersatzmanns“ nicht zufrieden, wo doch alles so schön im locker erträglichen Wellness-Bereich bleibt?

Mein Eisball ist geschmolzen, den kleinen Rest lasse ich mir auf der Zunge zergehen. Ich genieße die konzentrierte Stille, die Abwesenheit jeglichen Geredes. Es genügt, zu fühlen, zu spüren, zu sehen. Jeder für sich, und doch alle zusammen, niemand will etwas vom Andern, denn das, was ist, reicht völlig aus – na ja fast! Wenn Christian das Handtuch geschwungen hätte….

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Claudia am 15. November 2004 — Kommentare deaktiviert für Mit dem Notebook im Bett

Mit dem Notebook im Bett

Zum ersten Mal bin ich mit dem Computer im Bett. Ein lieber Freund hat mir einen Notebook geschenkt, weil er meine Klagen über das Leiden am langen Sitzen nicht mehr hören mochte. Schon einmal hatte ich ernsthaft ins Auge gefasst, künftig liegend oder halbliegend zu arbeiten und mir dafür auch eine Möbelkonstruktion ausgedacht. Aber damals hörte ich letztlich auf den Rat eines Geliebten, der meinte, unzählige Menschen verbrächten täglich viele Stunden am Monitor, ohne deshalb krank, behindert oer missgelaunt zu werden. Es läge an mir, eine gesunde Herangehensweise zu entwickeln, anstatt die zeitgemäße Standardstellung zu vermeiden. Mehr Bewegung, öfter ins Fitness-Center, bessere Ernährung – ich weiß, ich weiß!

Aber ich tu’s nicht, bzw. nicht genug. Der Mausarm und die Druckschäden an gottlob nicht so wichtigen Nerven werden nicht etwa besser. Doch davon soll jetzt nicht die Rede sein, ich habe keine Lust mehr, mich öffentlich am Riemen zu reißen und Ermunterndes über die Zukunft zu sagen. Eine Zukunft, die sobald sie Gegenwart wird, mich doch wieder auf dem Stuhl vorfindet…

Hierjetzt aber liege ich im Bett, Kissen unter dem Rücken und unter den Knien eine Rolle, geformt aus der zweiten Bettdecke – toll! Ich habe darauf geachtet, keine eierlegende Wollmilchsau zu erstehen, sondern ein schlankes, leichtes Gerät, dessen Gewicht (nur 1,8 Kilo!) ich jetzt kaum spüre. Die Maus hab‘ ich gar nicht erst dran gesteckt, nur das Netzteil.

Zur Verwendung des Notebook kam mir schnell die Idee, ihn NICHT in meine Arbeitswelt einzubinden, KEINE zweite Fassung meines Tower-PCs zu erschaffen mit allem, was ich so brauche – und vor allem keinen Internet-Zugang! Dann könnte ich nämlich E-Mail lesen, wäre für alle erreichbar, hätte alle meine halb erledigten Aufgaben und Werke griffbereit – es wäre ein zweiter Arbeitsplatz und dessen Forderungen könnte ich mich nicht entziehen. Ich würde noch mehr arbeiten, halt jetzt in liegender Stellung.

Lieber nicht! Ich habe nicht vor, meine Arbeitszeit zu verlängern, das Reich der Pflichten und Ziele noch weiter wachsen zu lassen, sondern ich sehne mich nach Zeit für mich. Für mich am PC! Dazu komme ich kaum noch, denn wenn ich alles geschafft habe, was ich schaffen muss, bin ich üblicherweise viel zu malträtiert vom Sitzen, als dass ich da nun noch ein bisschen schreiben, bildbearbeiten oder eigene Webseiten entwerfen wollte (auch ein Grund für die Diary-Flaute). Und schon morgens mal eben drei Stunden in ein Thema versinken, bevor ich die Außenwelt an mich heran lasse, kann ich mir derzeit nicht leisten.

Mit dem Notebook steht mir nun auch außerhalb der „Sitzzeiten“ ein PC zur Verfügung – eine Zuflucht, die mir signalisiert: hier befindest du dich im nicht vernetzten Sektor. Tu, was du willst!

Oh nein, bitte nicht schon wieder! Überall muss ich tun, was ich will, muss mit den Gegebenheiten interagieren, um es zu erreichen, muss es pflegen und erhalten, wenn es dann da ist, muss immer Neues wollen und Neues schaffen – und weiter und weiter. Es ist ok, ich kann nicht klagen, im Gegenteil, meine Arbeit macht mir Freude. Und das ist keine Schönrederei, denn zum Beispiel der gerade laufende Kurs „Erotisch schreiben“ ist der spannendste, der bisher stattfand. Ich genieße die entstehenden Texte, das offene und friedlich-lustfreundliche Miteinander von Männern und Frauen, das gelegentliche erotische Knistern – kann Arbeit schöner sein? Auch im Webseiten-Sektor baue ich gerade an einem Projekt, das mir gefällt. Ok, alles könnte etwas einträglicher sein, aber daran arbeite ich ja, oder bilde mir das zumindest ein.

Umso besser es gelingt, in selbst geschaffenen Feldern und Formen zu arbeiten, mich „zu verwirklichen“, wie man so sagt, umso sinnvoller erscheint die Frage, ob es eigentlich noch mehr gibt als DAS. Wenn ich es mal abstrahiere, besteht mein Leben daraus, Misstände zu bemerken und zu bereinigen, mich vom Gegebenen inspirieren zu lassen, Änderungen und Verbesserungen ins Werk zu setzen, die jedoch auch immer wieder verbesserungsbedürftig sind, zu weiterem Bearbeiten heraus fordern – und immer so weiter. Ein übergeodnetes Ziel gibt es – zum Glück! – nicht, ich bewerte meinen Erfolg oder Misserfolg anhand der Resonanz, die ich erfahre, und daran, ob das, was ich tue, nun auch das ist, was ich mir erträumt habe, als ich damit anfing. Ich bin die Maus in einem zu großen Teilen selbst gebauten Laufrad, das eingebunden ist ins große Räderwerk, das unsere Welt am laufen hält. Nichts dagegen, aber ist das schon alles?

Der Raum des Schreibens

Mir scheint, ich bin reif für die Insel. Doch nicht das entlegene Eiland im Pazifik, nicht der Urlaub, die Kur, die Ayurveda-Wellness-Woche locken mich, sondern ein immaterieller Ort des Innehaltens, den ich gelegentlich aufsuche, um frei von Zielen und Zwecken dem nachzuspüren, was Dasein sonst noch bedeutet. Einfach Ruhe, Beruhigung der bewegten Oberfläche, egal in welchen Formen das stattfindet – aber KEINE Sitzmeditation!!! (Wenn ich DARAN denke, fällt mir die ganze Absurdität auf, die darin liegt, Menschen, die in der Mehrzahl den ganzen Tag sitzen, zum Zweck der Besinnung dazu anzuhalten, noch mehr zu sitzen!)

Der „Raum des Schreibens“ jenseits eines „Um-Zu“ war mir im Zuge der mehr werdenden Arbeit entglitten. Gleichzeitig hatte ich in diesem Sommer damit aufgehört, „alles, was mich bewegt“ und doch nicht ins Diary passt, an jenen fernen Geliebten zu mailen: diese alte Geste des Mich-Mitteilens, die ich einst auch jahrelang gegenüber meinem Yogalehrer pflegte, passt nicht mehr. Besser gesagt, hat sie Nebeneffekte, die zunächst nicht auffallen, aber im Lauf der Zeit eine Art „Zweitrealität im Kopf“ erschaffen, die mit den real existierenden Beziehungen zwischen Sender und Empfänger kaum mehr etwas zu tun hat. Ich nenne es die „Internet-Verstrickung“: das Ausbluten der Realität zugunsten der Virtualität. Was „der Möglichkeit und Kraft nach vorhanden“ ist, ist dennoch nicht WIRKLICH vorhanden – aber das ist oft kaum mehr spürbar, bis das Reale sich zurück meldet und klar wird, was bloßer Gedanke ist und was Fakt.

Heute kommuniziere ich anders, beziehungszentrierter. Der Wunsch, schreibend etwas auszudrücken, was mich beeindruckt, hat im Web und anderen, an ein allgemeines Publikum gerichteten Medien den rechten Ort – nicht aber in der persönlichen Kommunikation, deren Charakter immer dialogisch bleibt, auch wenn man bis zum Abwinken und in beiderseitigem Einverständnis monologisiert. Denn was der Andere nicht sagt, denke ich mir dazu, lege ich in sein Schweigen hinein, ob ich mir dessen bewusst bin oder nicht. Ich öffne mich, zeige mich, ergründe die letzten Winkel meiner Seele – und das Schweigen des Gegenübers interpretiere ich als liebevolles Zuhören: Er versteht mich, wie niemand sonst.. und das ist nur die erste einer Reihe aufeinander aufbauender Annahmen, die zusammen ein Gebäude ergeben, das nicht auf Grund steht, sondern ein Luftschloss ist. Herrlich anzuschauen, aber nicht real!

In dieser Irrealität erlebte ich ein Gefühl der Geborgenheit, das mich inspirierte, die Selbstentblößungen auf ungekannte Gipfel zu treiben. Gleichzeitig dümpelte die „Außenseite“, nämlich dieses Webdiary in zunehmender Langweiligkeit vor sich hin. Ich habe ja kein Interesse daran, mein Denken und Erleben zu „diskutieren“: es ist, wie es ist, und je näher mir etwas geht, desto weniger möchte ich mich mit Lesern auseinander setzen müssen, bei denen ich vielleicht anecke. Wozu sollte das gut sein? Ich schreibe ja nicht, um mir Rat zu holen, jemanden zu meiner Sicht der Dinge zu bekehren, oder um zu streiten, sondern … ja WARUM DENN???

Hier stockt der Schreibfluss und mir fällt nichts ein. Ich schreibe, weil ich schreibe – ich projiziere meine Deutungen in die Leere und das tut mir gut.

Was ich an Nähe und Geborgenheit in einer „tief gehenden“ und schrankenlosen persönlichen Kommunikation erlebe, das bin ich selbst, das ist einfach das „bei mir sein in Wahrheit“. Es kommt nicht vom Anderen, wie man meinen könnte. Der Andere bietet lediglich einen „geschützen Raum“, vergleichbar dem, den ich in meinen Kursen und privaten Coachings errichte.

So ein „geschützter Raum“ ist wundervoll: er gibt Gelegenheit, sich selbst zu begegnen, ohne Angst haben zu müssen. Auf Dauer aber muss man ihn verlassen, genau wie man irgendwann den Sandkasten verlässt, um die Welt zu gewinnen.

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Claudia am 09. November 2004 — Kommentare deaktiviert für Diary-Flaute unterm Gerüst

Diary-Flaute unterm Gerüst

Die vierte Woche unterm blickdicht verhangenem Gerüst ist rum. Hab‘ ich mich dran gewöhnt? Der Bauarbeiter vor meinem Fenster wuchtet gerade eine Platte in den vierten Stock, ich sehe grobe, farbverkleckerte Schuhe und ebensolche Hosen, höre dumpfe Stimmen sich etwas Unverständliches zurufen. Die laute Geschäftigkeit hält erfahrungsgemäß etwa eine Stunde an, dann machen sie ihre erste Pause.

Gleich werde ich die Texte der Teilnehmer aus dem Kurs „Philosophieren in der ersten Person“ kommentieren. Die neuen Szenen der „Erotiker“, wie ich die Mitschreiber aus „Erotisch schreiben“ bei mir nenne, hab‘ ich gestern nacht noch geschafft. Auch die beiden Coaching-Klienten sind versorgt, warten jedoch auf neue Schreibimpulse, genau wie alle Anderen.

Vor einem guten Jahr hab‘ ich mit Schreibimpulse.de angefangen: das erste eigene Webprojekt im kommerziellen Sektor. Ein gänzlich neuer Versuch, dem, was ich gerne tue, die Form einer Dienstleistung zu geben, die zu meinem Einkommen beiträgt. Wenn gute Nachrichten auch langweilig sein mögen: es ist ein Erfolg! Zwar ist nicht jeder Kurs ausgebucht, denn meine Werbemöglichkeiten sind beschränkt, doch ist der Spaßfaktor in jeder neuen Runde hoch: Es ist wunderbar, dabei zu sein, wenn sich Menschen ihren „wesentlichen Themen“ öffnen, wenn sie schreibend Neues, gar Brisantes riskieren – auch wenn es mal schlaffe Phasen gibt, kommt immer wieder ein Text, der alle berührt, der MICH berührt und aus dem „Alltagsschlaf“ heraus reißt.

Es ist das erste Mal, dass ich zwei Kurse und einige Einzelpersonen gleichzeitig betreue. Liegt es daran, dass hier im Digital Diary wochenlange Flaute herrscht? Ja und nein. Ich empfinde ein Gefühl der Verpuppung, passend zum verhangenen Gerüst, das mir den Blick nach draußen versperrt, passend zum November, den ich spüre, aber kaum sehe. Jahrelang war ich mit der Form, die ich fürs eigene Schreiben in Gestalt des Digital Diary wählte, vollkommen zufrieden: es war nie ein Tagebuch, das vom Frisörbesuch am Morgen und vom Problem mit dem Lebensgefährten berichtet, auch kein Blog, das mit ein paar Sätzen mehrmals am Tag bekannt macht, dass es mich noch gibt, sondern im wesentlichen eine Plattform für meine „Gedanken über die Welt“: unsortiert, ohne Zwang, mich selbst in eine Schublade einzuordnen, weder, was die Textsorte angeht, noch von den Themen her.

Im Moment habe ich das Gefühl, aus der selbst geschaffenen Mega-Schublade heraus zu wachsen. Was ich über die Welt, das Leben, und mich selbst denke, reizt mich zur Zeit nicht zu Artikeln für die Allgemeinheit. Es wird vielleicht durch die Kurse und die damit einher gehenden Privatgespräche „dialogisch verbraucht“, bzw. sinnvoll genutzt. Zudem begegne ich im Erotik-Kurs der Faszination des belletristischen Schreibens. Schien mir das früher belanglos, bloßes „Werke schaffen“, dem ich mein mich tief befriedigendes „Philosophieren in der ersten Person“ entgegen setzte, so erkenne ich jetzt das Potenzial, das in solchem Schreiben steckt: nicht mehr am Faktischen, selbst Erlebten kleben und gedanklich um Einordnung und Bewertung ringen, sondern im freien Spiel der Worte dem Form geben, was man ausdrücken will: es ZEIGEN, nicht SAGEN!

Als ersten Schritt, diesem Schreiberleben Gestalt zu geben, werde ich auf Schreibimpulse.de ein erotisches Webzine eröffnen: mit Teilnehmertexten, eigenen Beiträgen und Einsendungen frei schweifender Autorinnen und Autoren. Der Plan bringt mich ein Stück „back to the Roots“: 1996 bis 1998 gab es die Cyberzines „Human Voices“ und „Missing Link“ mit Gedichten, philosophischen Prosa-Texten und einer aktiven Community rund ums Geschehen. Ich bin gespannt, wie das neue Projekt im Vergleich dazu werden wird! (Wer dazu Beiträge einsenden will, kann sie mir bereits schicken: ich wähle allerdings nach eigenen Kriterien aus, welche ins Webzine kommen).

Und das Digital Diary? Die Flaute wird vorüber gehen, wenn das Neue festere Konturen gewonnen hat. Es ist noch jedes Mal weiter gegangen, auch wenn ich immer mal wieder dachte: Was soll ich denn da noch schreiben? Ich hab‘ doch eigentlich alles gesagt!

Jetzt ruft mich die Arbeit: im Moment pflege ich einen wenig nachhaltigen Stil, esse unregelmäßig, ignoriere das Fitness-Center, gönn‘ mir nicht mal Sauna und war prompt über zwei Wochen schwer erkältet. „Mich-selbst-am-Riemen-reißen“ kommt derzeit allein den festen Pflichten zugute. Ansonsten überlasse ich alles seiner Eigendynamik, bemühe mich nicht ums „gesunde Leben“ oder andere Meta-Ziele: in der Verpuppung löst sich alles, was war, vollständig auf – zumindest ist das bei Raupen so, wie es bei mir ist, wird sich zeigen.

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Claudia am 12. Oktober 2004 — Kommentare deaktiviert für Porno für Frauen

Porno für Frauen

Seit das Internet die Welt vernetzt, schaue ich mir neugierig alles an, was es im Web so zu sehen gibt. Immer wieder mal surfe ich auch durch die „Schattenreiche“, betrachte die Bilderwelten der Sex-Seiten mit ihren unzähligen „Galerien“ und lese so manche „Erotic Story“. Es heißt, Frauen werden eher durch Geschichten angesprochen, Männer durch Bilder – und so „im Großen und Ganzen“ stimmt das vielleicht auch. Weiter → (Porno für Frauen)

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Claudia am 06. Oktober 2004 — Kommentare deaktiviert für Kleine Nachrichten im Oktober: Verdunkelung, Ärger, Schreiben, Harmonie

Kleine Nachrichten im Oktober: Verdunkelung, Ärger, Schreiben, Harmonie

Es klopft und hämmert, gerade bauen sie ein Gerüst auf, um die Fassade des Mietshauses zu erneuern, in dem ich wohne. Heut‘ wird sich also meine physische Nahwelt verdunkeln und ich werde zwei Monate Düsternis und Lärm ertragen müssen. „Besser jetzt als im Frühling“, sagte der Hauseigentümer, und wo er Recht hat, hat er Recht. Ich bin gespannt, ob es mir gelingen wird, diesen Teil der „Außenwelt“ einfach auszublenden und frohgemut weiter meine Tage vor dem PC zu verbringen!

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Ich habe es gewagt, einem Autor, den ich gerne lese, etwas aus dem eigenen Erleben zu berichten – mit Bezug auf seinen letzten Artikel, in dem es darum ging, wie beschissen er sich fühlt, wenn andere Menschen ihn penetrant von etwas zu überzeugen versuchen, von dem er genau weiß, dass es falsch ist.
In einer solchen Situation kann ich zwar schweigen, weil ich weiß, dass Argumentieren sowieso nichts bringt, doch nicht immer ist es ein „gelassenes Schweigen“: anscheinend lebt in mir immer noch der Wunsch, Andere zu meiner „Sicht der Dinge“ zu bekehren – und genau das erlebe ich dann als „genervt sein“, als Ungeduld und Ärger. Warum sollte es mich sonst stören, wenn Andere irren? Allenfalls Mitgefühl wäre angebracht, schließlich sind SIE es, die mit den Folgen der eigenen Blindheit und Verbohrtheit leben müssen.
Dieses Mitgefühl empfinde ich allerdings nur dann, wenn ich gerade ganz mit mir im Reinen bin, wenn ich nichts will und nichts brauche, sondern „alles fließt“. Also eher selten.

Der Weblog-Autor war über den freundlich vorgetragenen Versuch, meine Erfahrung mit ihm zu teilen, offensichtlich „not amused“. Er fühlt sich „belehrt“ und schimpft nun vor sich hin, bzw. rein ins WorldWideWeb.

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Ich wundere mich immer wieder darüber, was Menschen so alles nervig finden können: wollte man sich danach richten, dürfte man nicht mal mehr „Piep“ sagen! Manche können scheinbar mit Freundlichkeit und Anteilnahme nichts anfangen: fühlen sich geradezu bedroht, vereinnahmt, von fremden Mächten in unüberschaubare Pflichten genommen. Das „Fenster zum Anderen“ verschließt sich so mehr und mehr. Spontane angstfreie Kommunikation wird unmöglich, denn die Empathie im Miteinander funktioniert nicht: die Freundlichkeit wird gar nicht GEFÜHLT, geschweige denn beantwortet. Statt dessen verdunkelt irgend ein feindseliges „Denken über den Anderen“ jeglichen Kontakt. Angenehm ist es gewiss nicht, so zu empfinden.

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Meinen alten Bürostuhl, auf dem ich so gelitten habe, hab‘ ich getauscht und sitze nun auf einem schlichteren Teil, das ANDERE Leiden mit sich bringt: nicht mehr Beine und unterer Rücken schmerzen und schlafen ein, sondern Hals und Schultern verspannen sich. Abwechslung ist gut, sag ich mir. Wenn’s gar nicht mehr geht, benutze ich den Swopper, der absolute „Gesundstuhl“, der zu „aktivem Sitzen“ zwingt und nach jeder Seite frei schwingt. Ein tolles Teil, aber eben auch anstrengend! Letztlich werde ich, egal auf welchem Stuhl ich sitze, einfach öfter aufstehen und etwas anderes tun müssen.

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Mein neues Kursthema „Erotisch schreiben“ fasziniert mich! Zwar schreibe ich seit Jahren schon gelegentlich Szenen und Geschichten, doch sah ich das lange als bloßen Teil der persönlichen Kommunikation mit einem „Geliebten in der Ferne“: lustvolles Schreiben, aber nicht weiter erwähnenswert, jedenfalls nicht im beruflichem Sinn. Jetzt sehe ich – inspiriert durch den kommenden Kurs und ein persönliches Schreib-Coaching, das bereits angelaufen ist – die vielen Facetten dieser „Unternehmung“: Erotisches Schreiben eignet sich aufs Wunderbarste, die Basics dessen zu vermitteln, was ich unter „gutem Schreiben“ ganz allgemein verstehe. Ich glaube nämlich nicht ans „Pauken“ schreibtechnischen Wissens, sondern sehe das Schreiben als Geste des Beobachtens und Mitschreibens: Je mehr Dimensionen und Aspekte mir im Rahmen des „Geschehens“ einer erotischen Fantasie bewusst sind, desto besser wird das Schreiben. Und was könnte sich dazu besser eignen, als Texte rund ums erotische Erleben, das wir ja alle teilen?

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„Ich will nicht streiten, ich will Harmonie!“, sagt ein lieber Freund, der mir gelegentlich von frustrierenden Erfahrungen mit der Kommunikation im Internet berichtet. Ich weiß gut, wovon er spricht: Bloßer Text, ohne Mimik und Gestik, ohne die Möglichkeit, das eben Gesagte angesichts der Reaktion des Anderen zu relativieren, birgt unendlich viele Möglichkeiten zum Missverständnis. Als Schreibende bin ich weitgehend machtlos, kann nicht wissen, was der Leser in meine Worte alles hineindeuten wird, und wenn ich zuviel darüber nachdenke, kann ich das Schreiben gleich ganz lassen.

„Harmonie“ ist etwas, das ich in mir selber herstellen muss, wenn ich darauf Wert lege. Wer angesichts einer feindseligen Reaktion ausschließlich denkt: Was habe ICH falsch gemacht? Womit hab‘ ICH das verdient?, lebt in ständiger Verteidigungshaltung – nicht gerade harmonisch! Zudem geht dieses Denken davon aus, dass es wünschenswert wäre, das eigene Verhalten in vorauseilendem Gehorsam stets allen üblen Möglichkeiten anzupassen, die da vielleicht lauern mögen. Wo aber bliebe dann das Eigene, die „Harmonie mit mir selbst“?

Wenn ich mich so verhalte, dass ich selber in aller Klarheit dazu stehen kann, ist auf meiner Seite alles geleistet. Was der Andere damit anfängt, ist seine Sache. Versteht er etwas falsch, bin ich gern bereit, noch einmal zu erläutern, was ich meinte. Wenn er aber „darüber sauer ist“, dass ich bin, wie ich bin, kann ich’s auch nicht ändern. ER müsste sich ändern, wenn ihm die Welt so nicht gefällt – oder er kreist eben weiter in üblen Stimmungen und Missgefühlen.

Ich habe in den ersten Netzjahren schmerzlich gelernt, darauf zu achten, meine EIGENEN üblen Gefühle nicht ins „öffentliche Gespräch“ der Netze zu kippen. Emotional begründete Auseinandersetzungen kommen überhaupt erst in Betracht, wenn ich jemanden persönlich und nicht nur per Email kenne. Und selbst dann stimmt meistens der Spruch von Baghwan Sri Raynesh: „Denk nicht, sie sind gegen dich. Dafür haben sie gar keine Zeit!“.

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Claudia am 18. September 2004 — 4 Kommentare

Im Griff des Virus – droht „sozusagen“ das Ende der Kommunikation?

Ich habe schon gar keine Lust mehr, mit meinen Mitmenschen in Sprechkontakt zu treten: spätestens im zweiten Satz werde ich erwischt, sozusagen aufgestört durch den ekelhaften Sprachvirus, von dem die deutschsprachige Bevölkerung befallen, sozusagen restlos infiziert ist. Sagt tatsächlich mal jemand einen ganzen Satz ohne das UNWORT, kann ich sozusagen sicher sein, dass es im nächsten dann gleich zwei oder sogar dreimal vorkommt. Niemand scheint es zu stören, dass die Rede mit sozusagen affenartiger Geschwindigkeit zum Radebrechen und Stottern verkommt. Ja, ich wage, es tatsächlich zu sagen, es ist eine Krankheit, sozusagen eine Epidemie!

Nachdem die neue Rechtschreibung das intuitive richtig Schreiben sozusagen „wegrasiert“ hat und niemand mehr sicher weiß, was groß und klein, auseinander und zusammen geschrieben wird, greift der neue Virus nun die Lautsprache an, die bisher noch problemlos funktioniert hat.

Woher er kommt? Ich weiß es nicht, aber wenn ich den Fernseher anschalte, was ich aus sozusagen guten Gründen selten tue, springt mich der Virus sofort aus allen Kanälen an. Sobald jemand nicht direkt vom Blatt oder Lauftext abliest, ist alles zu spät. Moderatoren und Gäste, Politiker und empörte Montagsdemonstranten, Interviewer und Befragte – sie alle wollen etwas sagen, wollen es SO sagen, aber nicht wirklich (auch so eine Krampf-Wendung!) darauf festgenagelt werden. Selbst Menschen, die ein gutes Sprachgefühl haben und komplett überflüssige Füllwörter nicht über die Lippen bringen, entgehen der Krankheit nicht. Sie verwenden das Unwort KORREKT, aber inflationär, spicken ihre Rede mit Vergleichen und Metaphern, als gelte es, einen Lyrik-Preis zu gewinnen, doch in Wahrheit hält nur der Virus sie fest im Griff. Es gibt keine Rettung vor Ansteckung, auch nicht für den, der sich „der Gesellschaft“ weitgehend entzieht oder sie in Grund und Boden kritisiert. Vielleicht haben Gehörlose eine echte Chance, ich beneide sie!

*

Ein Virus kann nur einen Wirtskörper befallen, dessen Immunsystem es nicht mehr schafft, den Eindringling abzuwehren. Erschreckend, dass sich praktisch niemand mehr als immun erweist! Vom Harz-Opfer bis zum Top-Manager, vom C4-Professor bis zum Parkbank-Penner: alle sind infiziert, wagen es nicht mehr, frischfröhlich etwas zu meinen und auch zu sagen, müssen trotzdem etwas sagen und tun es sozusagen „als ob“. Der kommunikative Stress der Informationsgesellschaft hat uns geschwächt und ausgelaugt: stets informiert sein (=mal googeln…), stets im Stande sein, zu allem und jedem „Stellung zu nehmen“, immer am Ball, immer auf Draht. Der real existierende Mitmensch wird zum Angstgegner: steht er doch einfach so da und fordert Antwort, will meine „Sicht der Dinge“, aber die Dinge sind derart viele geworden, dass ich mit dem Meinen gar nicht mehr nach komme.

Was folgt, ist ein innerer Zusammenbruch. Das Individuum muss erkennen, dass das traditionelle Denken nicht mehr funktioniert: Eine Sache von allen Seiten betrachten, sie analysieren, bewerten und Schlüsse ziehen, die orientierend wirken in Rede und Handlung – wer hätte denn dafür noch Zeit! Besonders betroffen sind Politiker, die man bereits früh um sechs aus den Federn reißt, damit sie Äußerungen anderer kommentieren, die es noch zeitiger erwischt hat. Das ist halt die Kehrseite der Macht, mögen wir meinen und uns auf der sicheren Seite wähnen: Irrtum, wir werden fortwährend kommunikativ angegriffen! Der Mann an der Wohnungstür, der niemals gleich zugibt, für die Firma ARCOR unterwegs zu sein, will meine Telefonrechnungen sehen und prüfen, ob ich nicht zuviel bezahle. Meine Zahnärztin schaut mit gerunzelter Stirn auf den Abdruck, den sie gerade genommen hat und meint: „Da werden Sie sich aber von einigen Zähnen trennen müssen. Wir wollen doch eine langfristige Lösung!“. Die Süddeutsche Klassenlotterie ruft an und fragt, ob ich Günther Jauch kenne, und die Süddeutsche Zeitung will nach zwei Wochen Geschenk-Abo wissen, wie ich das Blatt finde. „Zu dick“, sage ich, „nicht zu schaffen. Aber gut, dass es sie gibt!“

Um in der Welt zu bestehen, muss ich Bescheid wissen, die Kasse im Auge des Anderen klingeln sehen, muss wissen, was droht, und darf mich nicht bequatschen lassen, jetzt „noch mehr zu sparen“. Wenn ich nebenbei noch Wert darauf lege, zu den Guten zu gehören, bin ich zehntausendfach in der Pflicht, das Richtige zu meinen und auch zu sagen: Rechtzeitig zu sagen, nicht erst dann, wenn alles zu spät ist, wie die neuen Kämpfer für die alte Schreibung.

Aber was ist richtig? Was ist GUT? In Thailand ist es der Regierung endlich gelungen, das großflächige Abholzen der Wälder zu stoppen: Natur wird geschützt und die Arbeitselefanten müssen nicht mehr schuften. Gut so? Was die Umweltschützerin und den Tierfreund freut, belastet das soziale Gewissen: Hunderttausende sind arbeitslos, auch die Elefanten. Die ziehen jetzt mit ihren Besitzern bettelnd durchs nächtliche Bangkok, von niemandem gefordert, geschweige denn gefördert – gut so?

Ich weiß, dass ich nichts weiß – griechische Philosophen konnten mit solchen Weisheiten noch punkten, wir dagegen wissen, dass wir wissen könnten und sollten (…mal googeln), aber nie genug Zeit haben werden, einer Sache auf den Grund zu gehen. Schlimmer noch: es gibt gar keinen Grund, belehren uns Denker und Weise unserer Zeit. Der Beobachter verändert das Beobachtete, nach meinem Glauben wird mir geschehen, das Ding an sich ist sowieso unerkennbar, Überzeugungen schaffen Erfahrungen – und wie bitte soll ich mich noch trauen, etwas zu sagen, wenn jemand fragt?

„Sie kennen doch Günther Jauch?“ So eine Frage will mich mit dem guten Gefühl ködern, das entsteht, wenn ich einfach mal „ja“ sagen kann, ein schlichtes JA ohne wenn und aber. Aber es funktioniert nicht, die Absicht ist zu offenkundig und überhaupt: KENNE ich denn Günther Jauch? Ich kenne ihn sozusagen nur aus dem Fernsehen und zappe dann immer gleich weiter. Gilt das?

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Gibt es Rettung? Eine Heilung des Immunsystems, auf dass es dem Virus sozusagen den Garaus mache? Ich zucke jedes Mal zusammen, wenn ich mich dabei erwische, wie mir das schreckliche Füllsel über die Lippen kommt, sich sozusagen den Raum erzwingt, den ich ihm freiwillig nicht geben will. Wiederstand scheint zwecklos: ich werde assimiliert. Heute morgen fand ich im Artikel eines Autors, den ich wegen seiner ansonsten glasklaren genauen Sprache schätze, viermal „sozusagen“! Es greift also schon auf Geschriebenes über – was können wir tun?

Vielleicht hat ja Thomas Gottschalk mit seinem „Ich will es gar nicht wissen, sondern nur weitersagen!“ hellsichtig den Weg aus der Krankheit gewiesen. Denken, verstehen wollen, einen Sinn sehen und diesen verwirklichen – weg damit auf den Müllhaufen der Geschichte! Wer diesen Ballast des Humanen, diese Ausschwitzung einer hypertrophierten Großhirnrinde restlos entsorgt hat, kann aufatmen und locker auf Knopfdruck sprechen. Der kann ALLES sagen, kann Mitmensch und Medien bis zum Abwinken mit klaren Antworten beliefern, gerade so, wie sie in den Kopf einfallen. Wer wird denn Ordnung schaffen wollen, wo das Chaos regiert? Ich gebe zu, diese Lösung gefällt mir nicht. Zu sehr bin ich dem alten Denken verhaftet, das unverdrossen an der Suche nach dem Guten, Wahren und Schönen klebt. Doch die andere Möglichkeit, dem Virus den Boden zu entziehen, ist fast noch verstörender: wir könnten schweigen, einfach nichts mehr sagen, sämtliche Meinungs- und Kommunikationsfronten dauerhaft bestreiken. Still sein, in die Sonne blinzeln, ein paar Schritte gehen…

Eine furchtbare Vision, nicht? Egal – ich probier das jetzt einfach mal aus, halte den Mund, verlasse die Tastatur und geh‘ in die Sauna: gemeinsam schweigen ist besser als alleine, da bin ich mir sozusagen fast sicher.

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