Thema: Alltag

Claudia am 09. November 2001 — Kommentare deaktiviert für Sag niemals nie!

Sag niemals nie!

Seit Anfang September geh‘ ich in ein Fitness-Center, ich glaub es kaum!. „Sport ist Mord“ war schließlich jahrzehntelang mein Wahlspruch: Verschwitzte Jogger mit modischem Stirnband, muskelbepackte Bodybuilder an martialischen Geräten, Mädels im Aerobic-Wahn, alles Mitglieder einer verirrten Sekte, die „Fit for fun“ und einen gestylten Body als oberste Werte zelebriert. Geistflüchtlinge, Renegaten, bedauernswerte Gestalten, die ihre Orientierungslosigkeit im Physischen zu überwinden suchen: Gewicht, Puls, Kraft, alles immerhin verlässlich messbare Größen, da weiß man, was man ist!

Fitnesscompany BerlinUnd jetzt lauf‘ ich selber übers Band. Glücklicherweise ist Joggen heute out und „walken“ angesagt, sonst‘ hätt‘ ich den Einstieg vermutlich nie geschafft. Bei 6,2 km/h bring ich in zehn Minuten einen virtuellen Kilometer hinter mich, verbrauche dabei 75 Kalorien, gerate leicht ins Schwitzen und fühl‘ mich so wohl dabei, daß ich oft noch zehn Minuten „rudern“ dranhänge, oder gar‘ weiterlaufe zum wöchentlich angesagten „Cardio-Training“: 40 Minuten auf der Stelle treten, mein Gott, wo bin ich gelandet?

Im September hatte ich die Einladung zum (fast) kostenlosen Probemonat im Briefkasten gefunden, ein Center in meiner Nähe, dass ich auch zu fuß erreichen kann. „Jetzt probierst du’s einfach mal aus“, dacht‘ ich mir. Gerade war ich nämlich dabei, wieder in eine verschärfte „Gesund-Leben-Phase“ einzuschwenken, fettarm essen, viel Rohkost, nicht rauchen, abnehmen – selber orientierungslos geworden, ödete mich alles an, was nur über einen Monitor zu erleben ist, von der Brotarbeit über die vielfältigen Kommunikationsformen bis hin zum künstlerischen Selbstausdruck und politischen Engagement. Immer nur Tasten drücken, Maus-klicken und denken? Nein danke, das kann doch nicht alles sein! Die Sauna als wunderbare Abwechslung in einem Bildschirmleben hatte ich ja schon kennen gelernt – nun war es vom passiv Schwitzen zum aktiven Anstrengen gar kein so großer Schritt. Und eine Sauna gibt’s im Center ja auch, da spart man richtig Geld!

Yoga

Yoga-AsanaGanz unbedarft in Bezug auf die körperliche Ebene war ich nicht, als ich mein „Probetraining“ absolvierte. Über zehn Jahre ZEN-Yoga liegen hinter mir und ich bin nicht so verrückt, das eine durch das andere ersetzen zu wollen, bewahre! Obwohl eine Yogastunde von außen betrachtet vornehmlich aus körperlichen Übungen und Haltungen besteht, liegt der Schwerpunkt doch auf der psychisch-geistigen Ebene: Sich selbst kennen lernen, indem man das Zusammenspiel von Körper, Gefühl und Denken bemerkt, dazu die Schwingungen aus der Umgebung, die Veränderungen im Lauf der Jahreszeiten, Momente der Stille, Entspannung, Nicht-Denken… – wer bis dahin hauptsächlich auf der mental-intellektuellen Ebene lebt, lernt die Welt auf ganz neue Art kennen, die vordergründige Abgetrenntheit des „Ich denke“ entpuppt sich als Illusion, aber auch das völlige Ausgeliefertsein an Emotionen – Wut, Ärger, Panik, Euphorie – nimmt deutlich ab. Man erkennt: Eindrücke von außen (und auch innere Grübeleien) erzeugen üblicherweise automatenhafte Gefühlsreaktionen, die wiederum das Denken bestimmen. Aber diese „Gefühle“ sind samt und sonders im Grunde körperliche Reaktionen – im Bauch, im Brustbereich, um den Solarplexus, im Becken -, gepaart mit Veränderungen der Atmung.

Je mehr ich mir dieses Geschehens übend und beobachtend bewußt werde, desto weniger kann ich dieser Ebenen-Verkettung verfallen. Wenn der Körper einmal gelernt hat, auf eine plötzliche Verspannung (Angst, Angriff…) mit Tiefer-in-den-Bauch-atmen zu antworten und sie so augenblicklich wieder zu lösen, dann bedeutet das einen ungeheuren Freiheitsgewinn im Psychisch-Geistigen, im Realen Leben mit all seinen Schrecken und Freuden. Voraussetzung ist eine Flexibilisierung des Körpers, damit er seine Zustände überhaupt von Augenblick zu Augenblick verändern kann und nicht in jahrzehntelang entwickelten Dauerverspannungen festhält, die nicht nur zum Muskel- , sondern auch zum Charakterpanzer geworden sind, wie man ihn überall beobachten kann, wo man Menschen trifft.

Obwohl nun Yoga, wie ihn mein Lehrer Hans-Peter Hempel lehrt, dazu herausfordert, sich vollständig kennen zu lernen, alle unberührten Räume und Gerümpelecken des eigenen Daseins zu betreten und zu „belichten“, ist es mir doch in all diesen Jahren gelungen, ganz unbemerkt eine bestimmte Ebene weitgehend zu vermeiden, die mir schon als Kind als der Horror schlechthin erschien: alles, was richtig anstrengt und Kraft kostet, wobei man heftig ins Schwitzen gerät, wo die Muskeln nicht nur gedehnt werden, sondern auch Krafteinsatz bringen müssen. Es gibt solche Übungen, auch im Yoga, aber sie machen eher einen kleinen Teil aus und den konnte ich durchaus „halblang“ angehen, ganz unauffällig, lange Zeit sogar, ohne dass es mir bewusst geworden wäre.

Und jetzt walke ich 40 Minuten, mach‘ Sonntags den Langhantel-Kurs, verausgabe mich an den Geräten und GENIESSE es auf einmal, ins Schwitzen zu geraten! Ich hab‘ keinen Ehrgeiz, schwere Gewichte zu stemmen, sondern stell‘ mir alles so ein, dass ich gerade mal eine gewisse Anstrengung verspüre – und in nur fünf Wochen mußte ich pro Gerät schon ein- bis zwei „Briketts“ nachlegen, damit das Gefühl das gleiche bleibt. Wow! Da ich den ganzen Tag am Computer sitze, fühle ich mich wie ein neuer Mensch, wenn ich mittags eineinhalb bis zwei Stunden Fitness plus Sauna einschiebe. Meine Freude an der Arbeit ist weit größer, die Laune besser und auch der Output ist MEHR geworden, obwohl ich geglaubt hätte, soviel Zeit könne ich doch der Sache nicht opfern.

Ach ja, bevor ich’s vergesse: Auch die Angst, mit einem nicht-perfekten Körper unter lauter jungen Halbgöttinen und Göttern zum Gespött zu werden, war völlig unbegründet: Solche sind – zumindest in meinem Center – eher eine kleine Minderheit. Das mittlere Alter ist stark vertreten und derzeit steigt der Anteil der Over60s gerade spürbar an!

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Claudia am 06. November 2001 — Kommentare deaktiviert für Herbstspaziergang

Herbstspaziergang

Einfach mal durchs Kiez spatziert, über den Boxhagener Platz:

Boxi - Platz in Friedrichshain

Ein besetztes Haus: „Alle Macht geht vom Fernsehen aus“

Hausfassade

Baum im Herbst:

Baumgestalt

S-Bahn-Geleise, gesehen von der Modersohnbrücke aus:

Geleise

Nochmal ein Baum:

Gelbe Blätter

Ein gelbes Haus in der Holteistraße:

Gelbes Haus

Herbstgestrüpp:

Gestrüpp

***

Update: Das sind keine besonders schönen Fotos! Ursprünglich wurden sie auch ganz anders gezeigt:

Javascript-Galerie

Bevor das Digital Diary ein WordPress-Blog wurde, war es noch möglich, eine Art klickbare Javascript-Galerie einzufügen. Mit dem Mausklick auf die runden Bildchen poppte ein zweites Fenster in der Größe des jeweiligen Fotos auf. WordPress macht sowas nicht mit, schade!

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Claudia am 02. November 2001 — Kommentare deaktiviert für Identität und Gewohnheit

Identität und Gewohnheit

Derzeit rauche ich wieder. Nicht viel, nicht mehr so, daß das Zimmer total verqualmt ist, aber immerhin: Das „innere Gestell“ ist wieder da und stützt meinen Tag.
 
Die Summe der Laster (oder der Lasten?) bleibt immer gleich: Aus meiner Herbstdepression bin ich ‚raus, dafür aber wieder an der Kippe – bei bester Laune! Eine Zeit lang, mehrere Wochen, hab‘ ich gar nicht geraucht und es war tatsächlich ganz easy. Dann gelegentlich das Mitrauchen bei Freunden, draußen, bei Besuchen und in Kneipen. Schließlich der Entschluß, mich wieder zum Rauchen zu bekennen – Erleichterung!
 
Im Diary-Forum ist ein schönes Gespräch über Identität zu lesen, das hat mich zu diesem Eintrag inspiriert. Anders nämlich, als in anderen Nichtraucherphasen, hab‘ ich diesmal einen Identitätsverlust verspürt – deutlicher, als alle anderen Empfindungen, die auftreten, wenn ich meine abstinenten Zeiten durchlebe. Wie schon öfter beschrieben, erlebe ich die Wirkungen der Zigaretten als eine Art „inneres Gerüst“: die Wahrnehmung wird ein bißchen abgedichtet gegen körperliche Empfindungen, es wird leichter, ganz in Gespräche oder in die Welt hinter dem Monitor zu versinken. Mit Zigaretten kann ich „virtueller“ leben, mehr im Geist, weniger im Körper.
 
Als Nichtrauchende hatte ich mein Leben entsprechend verändert: Oft ins Fitnesscenter, viele Spazergänge, viel Bewegung – und immer weniger hatte ich Lust auf die Welt der Worte, Bilder, Ideen und Texte. Der Sommer ist sowieso eine Zeit, die das von sich aus nahelegt, wogegen der Herbst mit seinen kühlen Wettern und heftigen Winden eine Verinnerung bedeutet: Genau wie die Blätter vom Baum herunter wirbeln, fühle ich mich leichter, konzentrierter, dem Denken, Reden und Schreiben zugeneigter. Wie eine Art Heimkommen.
 
Und genau da liegt meine Identifizierung. Die Claudia im Fitnesscenter, in der Sauna, draußen am Strahlauer Strand, ist eine Spätentwicklung. Eine Art Update und Zusatzfeature: ganz wunderbar, fühlt sich toll an, solange sie neu ist. Aber dafür die alte, die „eigentliche Claudia“ verlieren? Die Frau, die seit Jahrzehnten Texte und Bilder, Ideen und Projekte generiert? Das ist das Zentrum meiner (relativen!) Identität und wenn ich bemerke, daß ich daran immer weniger Freude habe, ja, mich von allem, was nur auf dem Papier, im Kopf oder hinter dem Monitor stattfindet, geradezu genervt fühle – dann wird es wirklich ernst!
 
Ein interessantes Phänomen: Die Gründe, wieder mit dem Rauchen anzufangen, verlagern sich im Lauf des Lebens auf höhere Ebenen. Mitte zwanzig konnte ich keine 24 Stunden „ohne“ durchhalten, weil mein gesamtes Nervenkostüm, all meine psychophysischen Empfindungen derart durch den Wind waren, daß ich zwischen Schreien und Heulen schwankte: Agressivität und Wehleidigkeit wechselten sich ab und ich war schlicht nicht gesellschaftsfähig. Heute kann ich locker aufhören, verlebe Tage und Wochen eine angnehme Intensivierung körperlicher Empfindungen, fühle mich befreit vom inneren Gestell und bekomme Lust, zu tanzen und zu singen. Und zwar so nachhaltig, daß mir mein ganz persönliches Leben entgleitet, das, was ich über Jahrzehnte als „Ich“ entwickelt, kennen und schätzen gelernt habe: die Schreibende, die Kreative, die Computer-Frau… :-)
 
Für alles gibt es günstige und ungünstige Zeitpunkte: meine nächste Nichtrauch-Phase werde ich in den Frühlung legen, am besten in den Mai. Wenn die Zeit des Nach-außen-Gehens anfängt, wenn Texte und Monitore sowieso langweilig werden und die Energien des allgemeinen Erwachens und physischen (!) Wachsens das Innere nach Außen drängen. Dann hab‘ ich länger Zeit, mich mit einer neuen Identität auseinander zu setzen – auch jetzt schon behalte ich ja ein Stück „Claudia 2.0“ bei, gehe immerhin weiter ins Fitness-Center…
 

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Claudia am 28. Oktober 2001 — Kommentare deaktiviert für Freude am Herbst

Freude am Herbst

Gestern ein Spaziergang über die Friedhöfe bis zum Friedrichshain. Keine Sonne, sondern diesiges Herbstwetter. Gerade so verhangen und grau, daß die bunten Farben der Blätter aus sich selber leuchten, wie sie es nur tun können, wenn sie nicht vom Spiel mit Licht und Schatten überstrahlt werden.
 
Wenn ich so eine Beobachtung hinschreibe, wird sie mir gleich zur Metapher, zur verschlüsselten Botschaft der Welt, die uns etwas sagen will – aber was? Was wäre in unserem Leben „Licht & Schatten“ ? Zwar wunderschön, lebenswichtig und unverzichtbar – aber doch das je eigene Blühen einer jeden persönlichen Farbe herabmindernd?

Ahornbuddha

Mit einem Strauß bunter Blätter kam ich dann heim, fotografierte sie, legte sie auf den Scanner – und gab ihnen damit eine Art „ewiges Leben“ – das virtuelle nämlich: ein Datenleben im Cyberspace, ohne Zerfall und Tod solange die Festplatten existieren.
 
Es gibt tatsächlich Menschen, sogenannte „Transhumanisten“, die wollen das „mit sich selbst“ auch gern veranstalten: Das Bewußtsein auf die Platte downloaden und der Welt aus Fleisch und Blut adé sagen – naja, wem’s gefällt! Für mein Empfinden könnte der Irrtum kaum größer sein, in dem sie sich befinden, wenn sie meinen, ihr Bewußtsein bestünde aus mentalen Inhalten, die sich ganz easy als „Daten“ in Software abbilden lassen. Und selbst wenn es anders wäre: Was wäre denn ein Leben ohne Tod? Wie sollten wir je etwas wertschätzen, wenn kein Ende abzusehen wäre, an dem wir es ganz gewiß verlieren werden?
 
Meine Herbstdepression ist vorbei! Ich genieße es sehr, wieder Freude und Interesse an den Dingen zu fühlen. Ein langer Besuch bei einer Frau in meinem Alter, die ich gerade erst kennen lerne, hat den Ausschlag gegeben: ein ganz anderer Lebensstil, eine fliessende Kommunikation von Geist zu Geist – und viele Stunden ergötzliches Zusammensein, Essen gehen in Berlin Mitte, zuletzt eine ulkige Suche nach dem verlorenen Auto (WO nur haben wir es abgestellt?). Ein wunderbarer Tag mitten im REAL LIFE, neue Inspirationen – und angesichts eines fremden Menschen fühle ich mich deutlich stärker als Individuum, als wenn ich immer nur im Rahmen meines häuslichen Cocooning verharre, das ich in letzter Zeit ein wenig übertrieben hatte.
 
Wohlbefinden braucht alle Ebenen: Geist, Psyche, Körper – und für die Psyche sind neue Eindrücke unverzichtbar. Der Gedanke „ich hab‘ doch schon alles erlebt“ ist genauso falsch wie die Ideen der Transhumanisten – und führt, ernst genommen, einfach nur in die Depression.

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Claudia am 24. Oktober 2001 — Kommentare deaktiviert für Der Name der Dose

Der Name der Dose

Heut‘ Nacht konnte ich kaum schlafen und doch erinnere ich mich an einen langen Traum: Ich war amerikanischer Soldat und fürchtete mich vor anderen amerikanischen Soldaten, die mit dem Auftrag unterwegs waren, alle Kollegen einzufangen, die bereits am Milzbrand erkrankt waren. Wegen der Ansteckung. Milzbrand hatte ich nicht, aber Angst. Nicht ganz so schlimm, wie man das aus einem typischen Alptraum kennt, sondern eher so, als sähe ich einem Film zu, in dem ich die Angst spielte. Wie eigenartig! Im Wachzustand empfand ich bisher nämlich nicht den Schimmer einer Angst in dieser Sache, das Unbewußte macht mal wieder, was es will.
 
Offenbar geht es nicht nur mir gerade nicht besonders gut – ich nannte es gestern der Einfachheit halber „Herbstdepression„. Immer gut, der Sache einen Namen zu geben, noch dazu einen von der Jahreszeit oder dem Wetter abhängigen, da ist schon gleich mitgesagt, dass es ganz von selbst wieder vorüber geht. Eigentlich lehren uns das die alten Märchen: Wenn irgendwelche Bösewichter, Geister, Gnome, Teufel, feindliche Zwerge und dergleichen dem Held der Geschichte Angst einjagen, dann kann er sie nur dadurch loswerden oder freundlich stimmen, daß er ihren Namen findet. „Ach wie gut, daß niemand weiß, daß ich Rumpelstilzchen heiß“ – aber die Königin hat es dann doch herausgefunden!
 
Das Namen-Vergeben ist eine sehr menschliche Macht: mit der Benennung distanzieren wir uns, grenzen das, worunter wir leiden, als Phänomen vom Ganzen ab und können dann damit umgehen: es ist zum Objekt geworden, das man ins Regal stellen oder an Spezialisten weiter reichen kann. Herbstdepression: damit könnte ich zum Arzt gehen und er wüßte ganz sicher ein Mittelchen dagegen. Aber solange ich nur aufs Papier starre und nicht in der Lage bin, zu schreiben, und meine Formulare angucke anstatt sie auszufüllen, solange ich grüble, was wohl der „reale“ Grund meiner diffusen Ängste ist und alles und jedes daraufhin abklopfe, ob es mir irgendwie schaden kann oder gar will, womöglich noch weiter grüble, was das alles für die Zukunft bedeuten mag, solange bin ich ganz drin in der Sache, hoffnungslos verstrickt ins eigene Kopfkino.
 
Zum Arzt werd‘ ich natürlich trotzdem nicht gehen, bewahre! Das hilfreiche Spiel mit der Etikettierung der Phänomene führt oft genug in die Irre, wenn man die Ebenen wechselt und versucht, materiell einzuwirken auf etwas, das man ja nur geistig abgegrenzt hat. Nur in meinem Denken, dem ich durch das Vergeben von Namen bestimmte Gestalten gebe, existiert die „Herbstdepression“ als „Sache“. Sobald ich ein Mittel, eine Droge, ein Psychopharmakon einwerfe, beraube ich mich aller Flexibilität, z.B. der, die Dinge wieder ganz anders zu sehen. Die Wirkungen müssen dann erstmal ausgestanden werden und bringen alles durcheinander: unmöglich, zu wissen, was jetzt alles Wirkung ist und was nicht. Ich werde zum Spielball unbekannter Stoffe, zum Objekt freundlicher Spezialisten, für die ich typischerweise als ganzer Mensch kaum existiere, sondern eben nur als „Depressive“.
 
Klar, wenn es so schlimm ist, daß man morgens nicht mehr aufstehen will, ist vermutlich eine Tablette besser, als wochenlang liegen zu bleiben! Ich hab‘ gut reden, halte ich mich doch mit meinen Betrachtungen im Reich von Stimmungen auf, die sich binnen Stunden oder maximal Tagen völlig verändern können. Mehr noch: gelegentlich geht mir die Welt, wie ich sie betrachte und dadurch ein Stück weit mit schaffe, derart auf die Nerven, daß ich mich selber gern mal in die verführerischen Arme einer Droge (z.B. Chianti) werfe, damit sich „auf die Schnelle“ ‚was ändert. Das ist dann wie Karusell-Fahren in einem kaputten Fahrgeschäft: am Anfang macht es Spaß, doch dann wird’s mir schlecht, weil es viel zu lange dauert; ich bin gefangen in den Wirkungen der Stoffe.
 
Wer die Macht der Worte gegenüber der banalen Wirkung der Stoffe rühmt, darf nicht enden, ohne auf die Rückseite der Medaille hinzuweisen: „Was für ein schöner Sonnenuntergang!“ – so ein Satz, mitten hineingesagt in eine wundersame Abendstimmung, die uns als ganzer Mensch ergreift, kann genau diese Stimmung zerstören. Benennen ist eben auch Töten, und meistens wollen wir das nicht. Niemand hat das schöner ausgedrückt als Rilke in einem Gedicht „Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort“..
 
Gestern schrieb mir ein Leser, das Digital Diary könne ja nun nicht mehr mit „vom Leben auf dem Land“ untertitelt bleiben. Richtig, ich hatte zwar das ursprüngliche „Vom Leben auf dem Land und in den Netzen“ im Titel der Website verändert, aber noch nicht im Logo. Da steht jetzt erstmal „Vom Sinn des Lebens zum Buchstabenglück“. Mehr ist mir gestern nicht eingefallen, doch ist das eher ein Name mitten aus der Herbstdepression. Falls also jemandem von Euch ein passender Untertitel einfällt, schreibt mir bitte!
 
Und jetzt mach‘ ich mich an die Formulare…

Angler
Angler an der Spree, 20 Minuten Fußweg von meiner Wohnung

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Claudia am 23. Oktober 2001 — 1 Kommentar

Herbstdepression

Niemals jammern und klagen – diese unausgesprochene Vorgabe steht immer schon über diesem Webdiary. Und das nicht nur, weil ich mich natürlich gern von meiner besten, also STARKEN Seite zeige, sondern weil mir kaum je im Leben Texte begegneten, mit denen ein Autor oder eine Autorin es vermocht hätte, auf unterhaltsame Art zu jammern und zu klagen. (Und sag‘ mir jetzt keiner, Unterhaltung müsse ja nicht sein, wir hätten doch schon übergenug Spaßgesellschaft: So schnell, wie du wegklickst, wenn ich hier langweile, kommst du garnicht erst in die Lage, so einen Gedanken überhaupt zu fassen!)
 
Ein weiterer Grund, alles Lamentieren über das eigene Befinden lieber bei sich zu behalten, ist der sich sofort aufdrängende Vergleich: Die Kinder in Afghanistan, zum Beispiel. Und immer und zu jedem Zeitpunkt ist die Welt voll von solchen Beispielen, die mich zum Verstummen bringen oder gar meinen Schreibimpuls um 180 Grad drehen, so daß allenfalls eine Lobrede entstehen will, eine Hymne der Dankbarkeit auf den (unverdienten) paradiesischen Zustand, in dem wir alle leben – und auch das geht eigentlich nicht, verdammt nochmal!
 
Warum überhaupt schreiben? Warum nicht einfach schweigen, wenn die Inhalte in den Filtern hängen bleiben, die für dieses Diary gelten? Tu ich ja, tu ich oft genug, doch hat das seine Grenzen, will ich diese einmal geschaffene und jahrelang verfestigte Form der Selbstveröffentlichung nicht beschädigen. Und das werd‘ ich nicht, ist es doch eine der wenigen festen Strukturen, die mein ach-so-befreites und flexibles Leben begleiten und durch das bloße „immer-wieder-so“ stützen!
 
Im Lauf der Jahre hab‘ ich zu meinem Erstaunen festgestellt, daß Routinen etwas Hilfreiches, ja, Rettendes sind: Zum Beispiel ein Arbeitstag im Büro mit festen Uhrzeiten, wiederkehrende Pflichttermine am Abend aus irgendwelchen Mitgliedschaften. Auch simple Volkshochschulkurse und andere Just-for-Fun-Gewohnheiten – „immer Sonntags Tatort gucken“ – entfalten ihre stützende Kraft, sobald man sich mies fühlt, sobald ich mich der Frage „Was jetzt?“ einfach nicht mehr stellen will oder kann (und das ist im Grunde kein Unterschied, wenn man mal genau hinguckt!). Klar, auch in meinem Leben gibt es ein paar solcher Stützroutinen, aber die meisten davon sind „prekär“, sind freiwillig, können täglich wegfallen, um ihre Aufrechterhaltung muß ich mich bemühen. Dabei vermisse ich zunehmend „unfreiwillige“ zementierte Strukturen, solche, die es zumindest möglich machen, in stupide Bewußtlosigkeit zu versacken und einfach nur zu funktionieren. Also genau das, wovon ich mich die meiste Zeit meines Lebens befreien, bzw. gar nicht erst hinein verstricken wollte! Ist das nicht pervers?
 
Heute beneide ich in dunklen Stunden Menschen, die ein sogenanntes „normales Leben“ führen, bzw. das, was ich immer dafür gehalten habe und gemieden, wie der Teufel das Weihwasser: Um dreißig geheiratet, zwei Kinder, ordentlicher Beruf mit geregelten Arbeitszeiten und festem Einkommen, ein Haus und rundrum ein kleiner Garten, zum Nachbarn hin die blickdichte Hecke, in der Garage das Drittauto, die Bude vollgestellt mit materiellem Besitz, die Papier- und Behördenexistenz verplant und abgesichert bis zum Lebensende – und zweimal im Jahr die Fernreise ins große Anderwo bei garantiertem heimischen Standard.
 
Es ist nun aber nichts mehr übrig geblieben, wodurch ich die Tendenz zum Lästern, wie sie im letzten Absatz entgegen der Aussage durchschlägt, rechtfertigen könnte oder wollte. Heute kenne ich genug Menschen, die ein solches „normales Leben“ führen, um zu wissen, daß sie ebenso viel bzw. wenig Anlaß zum Unglücklichsein haben wie ich in meiner manchmal angst-machenden „Freiheit“. Und nichts von dem, was und wie ich geworden bin, indem ich mich gegen all das wehrte, kann ich mir irgendwie selber zuschreiben: War es doch nur eine Reaktion auf die Katastrophe des persönlichen familiären Lebens, wie sie mir als Kind begegnet und deshalb zum Point of Never-to-Do geworden ist.
 
So, bevor ich nun hier ernsthaft zu langweilen beginne, indem ich meine Herbstdepression im Detaille ausbreite, schließe ich lieber mit ein paar Zitaten des großen Cioran, den an Negativität bei gleichzeitig hohem Unterhaltungswert keiner je übertreffen wird:

„Man kann die Fehler seiner Mitmenschen nicht vermeiden, ohne eben deswegen auch ihre Tugenden zu fliehen. So richtet man sich durch Weisheit zugrunde.“

„Mit zunehmendem Alter vermindern sich nicht so sehr unsere intellektuellen Fähigkeiten, als vielmehr jene Kraft zu verzweifeln, deren Charme und deren Lächerlichkeit wir in unserer Jugend nicht zu schätzen wußten.“

„Wie alle Bildstürmer habe ich meine Götzenbilder nur deshalb zerschlagen, um mich vor ihren Scherben hinzuknien.“

„Als entschlossener Wundertäter erhebt man sich, um seine Tage mit Mirakeln zu bevölkern, und dann sinkt man auf sein Bett, um bis zum Abend Liebeskummer und Geldsorgen wiederzukäuen…“

„Ein Mönch und ein Metzger streiten sich im Innern einer jeden Lust.“

„Die glanzvollen Taten sind das Vorrecht der Völker, denen das Vergnügen, lange bei Tisch zu sitzen, fremd und deshalb die Poesie der Nachspeise unbekannt ist.“

„Im selben Maße, wie wir unsere Schandflecken tilgen, werfen wir unsere Masken ab. Es kommt der Tag, da unser Spiel stehen bleibt. Keine Schandflecken mehr, also auch keine Masken mehr. Und kein Publikum mehr – wir haben unsere Geheimnisse, die Lebenskraft unserer Miseren, überschätzt.“

Alle Zitate aus: E.M.Cioran, Syllogismen der Bitterkeit

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Claudia am 12. Oktober 2001 — Kommentare deaktiviert für Drogen: Nichts genügt!

Drogen: Nichts genügt!

Seit dem letzten Rauch-Stop vor gut zwei Wochen erlebte ich zwei „Rückwendungen“ – ich sage Wendungen statt (Rück-)Fälle, weil ich nicht zufällig, beiläufig oder unüberlegt der Versuchung verfallen bin, sondern recht bewußt für den Abend einen Gift-Input ansetzte: Rotwein UND Zigaretten… Am nächsten Tag dann wieder das „gesunde Leben“… Der Körper braucht etwas länger, das Nikotin auszuscheiden als den Alkohol, es scheint tatsächlich das stärkere und tiefer gehende Gift zu sein (so fühlt es sich auch an, wenn man genau hinspürt).

Gut ist, dass sich das Gefühl von „Normalzustand“ jetzt ohne Zigaretten einstellt. Es verlangt mich nur noch für kurze Momente (nach dem Essen…) nach der Kippe, doch vergesse ich das auch sehr schnell wieder, weil ich an dem Gedanken nicht festhalte. Und es ist schon ein kleines Wunder, zu bemerken: Dass man sich nämlich zwei Minuten später ohne jedes Verlangen vorfindet – und ganz OHNE geraucht oder irgend einen Ersatz angewendet zu haben! Das verändert sich auch nicht nach einem Abend mit zwanzig Zigaretten und mehr, das „Herausgleiten“ geschieht wie selbstverständlich.

Warum aber diese Input-Abende? Oberflächlich gesehen sind es ganz alltägliche Anlässe: zum Beispiel einen ganzen Tag im Auto, eine Reise zu einem Auftraggeber – abends dann der Wunsch, auf einfache und anstrengungslose Weise abzuspannen und geistig abzudriften. Also Chianti kaufen und mit dem Lebensgefährten über Gott und die Welt plaudern, angeregt durch den Wein, der geschwätzig macht und mentale Inhalte auf einmal so interessant erscheinen läßt, daß man wochenlang über sie philosophieren wollte… na, und ganz pragmatisch gesehen ist DAS eine Situation, die ich OHNE Zigaretten einfach nicht als vollständig erleben kann – noch nicht, wer weiß, vielleicht nie.

Das ist also die Oberfläche. Darunter liegt der Wunsch, in gewissen Abständen aus dem „vernünftigen Leben“ auszutreten, für ein paar Stunden in ein Dasein ohne Zukunft und Vergangenheit zu gelangen, zu leben wie ein Kind: den Augenblick feiernd, völlig ver-rückt und ohne Angst vor Folgen, ja, überhaupt OHNE viel Gedanken. Meine gelegentlichen Abende mit stofflichen Giften sind insofern reine Regressionen in einen kindhaften, prämentalen Zustand, der von der durchgehenden leichten Anspannung des „vernünftigen Lebens“ ein wenig entlastet, ohne etwas an der Grundsituation zu ändern. Und weil ich heute im Alltag lange nicht mehr so „entfremdet“ lebe wie etwa in meinen politisch aktiven Zeiten, ist das Bedürfnis nach „Ausstieg“ sehr viel geringer geworden und damit auch das Gefühl der Abhängigkeit von bewußtseinsverändernden Stoffen.

Rennen und beten

Im Forum schrieb ein Leser an einen anderen, der es geschafft hat, sowohl Alkohol als auch Zigaretten aufzugeben: „Und welche Droge nimmst du jetzt? Rennst du oder betest du??“ Ich empfinde diese Formulierung als spöttisch-zynisch, genau wie der Gefragte. Wer mal selber ernsthaft versucht hat, von diesem oder jenem Stoff zu lassen, empfindet es als wenig hilfreich, wenn jemand signalisiert: Ist doch eh alles egal, ob du dich nun zudröhnst oder Sport treibst, ob du meditierst oder malst, dein Auto pflegst oder Schach spielst…. Aus meiner Erfahrung reden so Menschen, die es für sich aufgegeben haben, aus einer bestimmten süchtigen Verstrickung herausfinden zu wollen. Und weil das letztlich nicht wirklich zufrieden stimmt, bleibt dann diese gewisse Agressivität, die sich gegen andere wendet, die es versuchen oder gar schaffen.

Insbesondere der antispirituelle Impuls ist hier erwähnenswert, denn ohne eine spirituelle Entwicklung findet niemand aus dem Kreis der Süchte (stofflicher und nicht stofflicher) heraus, davon bin ich restlos überzeugt. Das muss nicht bedeuten, im Sinne tradierter Religionen gläubig zu werden oder einer spinnerten Sekte beizutreten, sondern es geht darum, den Zugang zu einer „ganz anderen“ Seinsweise zu finden: Eine Form des Daseins, die nicht spaltet zwischen „vernünftigem Leben“ einerseits, Ekstase, Abenteuer und Exzess andrerseits, hier die Welt der Formulare, Rentenansprüche und Rationalisierungen, dort das Märchenreich der heftigen Gefühle, der Träume und Drogen, der völligen Hingabe ans Dasein.

Mit nichts als dem Weltbild unserer Gazettenweisheit (vom Urknall bis zum Antrag auf Vorsteuerabzugsberechtigung) ist eine wache und bewußte Hingabe ans Dasein jenseits eskapistischer Ausnahmezustände (=Hingabe „als ob“) nicht möglich. In diesem Weltbild bloßer Oberflächen und Zahlen kommt der Mensch, wie er (und sie) sich selbst erlebt, nicht vor. Dieses Bild der Welt zeigt immer nur ein „Aussen“, wogegen wir uns zuerst und zumeist als ein „Innen“ erleben. Das eine mit dem anderen zu vereinen, oder besser gesagt, das eine als das andere zu erkennen, ist das Ziel spiritueller Wege und Übungen. Man kann darüber endlos viele Bücher lesen, doch ersetzen diese niemals die Sache selbst, leider – sonst wäre ich lange „dort“. :-)

Bei mir ist grad eher das Fitness-Center dran. Seit fünf Wochen lauf‘ ich da übers Laufband, spiel mit den Kraftmaschinen und setz mich hinterher in die kleine Schranksauna – es ist wunderbar! Mein Leben lang hab‘ ich verkündet: Sport ist Mord – und jetzt fängt es an, mir Spaß zu machen, unglaublich! Das ist eine grundstürzende Veränderung und der Abschied von den Zigaretten scheint dadurch erstmalig richtig machbar zu werden.

Bin gespannt, wie es ist, physisch stark zu sein, erst jetzt bemerke ich nämlich, wie schwach ich doch immer war. Auch in über zehn Jahren Yoga-Übungen bin ich diesem bestimmten Aspekt der Körperübungen ausgewichen: alles, was richtig anstrengt, wobei man ins Schwitzen und in heftiges Atmen gerät, hab‘ ich weitestmöglich vermieden. Das war auch gar nicht schwer, denn Yoga-Asanas sind ja nicht zuvorderst dafür da, um Kraft und Fitness zu entwickeln, sondern Bewußtheit für das, was ist, speziell für das Zusammenwirken von Körper, Gefühl und Denken, Mensch und Welt, innen und außen. Daß ich einen bestimmten Bereich des Daseins weiterhin ausschloß, ja scheute, wie der Teufel das Weihwasser, ist mir nicht besonders aufgefallen, bzw. ich konnte die These „Sport ist Mord“ sogar besser rechtfertigen als je zuvor. Jetzt hol ich das halt nach – und mach für jetzt mit dem Schreiben Schluß und fahr ins Center!

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Claudia am 10. September 2001 — Kommentare deaktiviert für Schöne Welt: Unter Nackten

Schöne Welt: Unter Nackten

Nie hätte ich geglaubt, eines Tages ein Sauna-Fan zu sein! Bis mich meine Schwester vor gut zwei Jahren in die Wiesbadener Thermen führte, war das ganz undenkbar: Nackt unter völlig fremden Menschen? Sich womöglich anstarren lassen, mit dem herrschenden Schönheitsideal aus den Werbespots verglichen werden? Nicht mit mir! Dazu diese Hitze: Wie soll ein Mensch bei 90 Grad überhaupt überleben? Weiter → (Schöne Welt: Unter Nackten)

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