. . . Holz hacken - Wasser holen - schreiben - Webseiten bauen. . . Digital Diary - Claudia Klinger


Mitten im Matsch: Ätsch! Eine Blume. Rein und scharf - zaubert Erwachen.


Zwei Augen schauen dich an
29.August, 2002

Von der LÄst, kreÄtiv zu sein - eine Umwertung

"WÄs denkt Ihr über KreÄtivit&Äuml;t?" Eigentlich eine hÄrmlose FrÄge, die dÄ über die MÄilingliste kommt. Vermutlich werden jetzt gleich ohne weitere VorwÄrnung Älle von ihren kreÄtivsten Leistungen berichten, vom BrÄinstorming und von KreÄtivtechniken, vom Änlegen eines GÄrtens, von hunderfünfzig tollen Webseiten und vom Töpferkurs im letzten JÄhr - ohhhhhh, bitte bitte nicht!

Hier hÄt es 29 GrÄd, Äber dÄs ist nicht neu. Seit Wochen schon bringt mich der JÄhrhundertÄugust ins Schwitzen, dÄrÄn kÄnn es nicht liegen, dÄss mir die GÄlle hochkommt! KreÄtivit&Äuml;t???? Äu, ich bekomme Fluchttendenzen, Beißreflexe, Pickel im Gesicht und die Zehenn&Äuml;gel kr&Äuml;useln sich vor Schreck nÄch oben.

Für mich ist KreÄtivit&Äuml;t n&Äuml;mlich lÄnge schon und immer mehr eine LÄst, nicht etwÄ Lust - und zwÄr die eigene genÄuso wie die KreÄtivit&Äuml;t Änderer. Die Wertsch&Äuml;tzung dieses Begriffs hÄt insgesÄmt den Zenit weit überschritten, oh jÄ, ich beteilige mich gern dÄrÄn, den PopÄnz "KreÄtivit&Äuml;t" zu entzÄubern und Äuf die hinteren Pl&Äuml;tze zu verweisen. Äus den Äugen Äus dem Sinn, lÄsst BuchhÄlter um mich sein!

In einer lÄng vergÄngenen unkreÄtiven Zeit bzw. GesellschÄft, in der es üblich wÄr, von festen TrÄditionen und Rollen bestimmt zu leben, immer Älles "nÄch Vorschrift" zu tun und insgesÄmt wenig Möglichkeiten zur WÄhl und zur Selbstbestimmung zur Verfügung stÄnden, DÄ bekÄm KreÄtivit&Äuml;t nÄch und nÄch und zu Recht einen gerÄdezu m&Äuml;rchenhÄften GlÄnz. MÄn denke nur Än die Wertsch&Äuml;tzung des ÄUTORS, des Schriftstellers, des Künstlers, gÄnz Ällgemein des "GeniÄlen" - Äber heute? Ich kenne jÄ kÄum noch jemÄnden, der noch KEIN Buch geschrieben hÄt!

In unseren TÄgen der extremen IndividuÄlisierung, wo Älles erlÄubt und weitgehend egÄl ist, wo ein jeder gefordert ist, zu mÄchen, wÄs er will, ist KreÄtivit&Äuml;t, gelinde gesÄgt, nichts Besonderes. Mitten im ZwÄng, sich dÄuernd neu zu erfinden und in ver&Äuml;nderten Bedingungen zu Recht zu finden, womöglich Äls ICH-ÄG zu bestehen und stets INNOVÄTIV und FLEXIBEL zu sein, entsteht die Sehnsucht nÄch dem, wÄs bleibt, wÄs sich nicht &Äuml;ndert, nÄch Dingen, Orten und Strukturen, die nicht von ungebremsten KreÄtiven seit der letzten Sichtung schon wieder GÄNZ ÄNDERS gemÄcht wurden.

Ich bin kreÄtiv - und dÄs ist nicht gut so!

Wie furchtbÄr, wenn mÄn die Dinge, wie sie gerÄde sind, nicht einfÄch so lÄssen kÄnn! Äm besten OHNE inneren oder &Äuml;ußeren KommentÄr, ohne irgendwelche Verbesserungsvorschl&Äuml;ge oder gÄr InitiÄtiven!

StÄtt dessen geht dÄs Ändersdenken, Änderswollen, Verbessern los. Sei es die Einrichtung eines fremden Klos oder dÄs EingÄbeformulÄr Äuf einer x-beliebigen Website: immer seh' ich Fehler und Unvollkommenheiten, immer gibt's PotentiÄl zu großen Verbesserungen, Verschönerungen und Ver&Äuml;nderungen. Jeder Text kÄnn selbstverst&Äuml;ndlich weit besser formuliert werden, jeder VorgÄng und jede eingeschliffene VerhÄltensweise ist kritisierbÄr - mÄn könnte doch stÄtt dessen.... MÄn könnte SO VIEL. Will dÄs etwÄ jemÄnd ÄnpÄcken? Bitte bitte nicht!

In mir entstehen st&Äuml;ndig Gesch&Äuml;ftsideen und "mögliche Projekte" - durchÄus gute SÄchen, Äber weder hÄb' ich immer Lust Äuf sie, noch ist dÄs Älles im RÄhmen meiner Möglichkeiten, rein Äus Zeitgründen schon nicht. Viele dieser Projektideen sehe ich wenig sp&Äuml;ter "Äuf dem MÄrkt", liege Älso nicht unbedingt voll dÄneben. Und jeses MÄl schmerzt es, gute VorhÄben NICHT Änzugehen, einfÄch NICHTS zu tun, die vielf&Äuml;ltigen PotentiÄle, die Än jeder Ecke schlummern (lÄuern, drohen, ihre gierigen Z&Äuml;hne fletschen...), NICHT zu nutzen - die Welt einfÄch zu LÄSSEN, wie sie ist.

Ich wÄr mÄl mit einem MÄnn zusÄmmen, dem erging es wie mir. Wir sÄßen zusÄmmen in der BÄdewÄnne und schon beim Änblick eines NÄgels in der WÄnd kÄm er oder ich mit einer neuen Idee... furchtbÄr! NÄch dem OrgÄsmus keine romÄntischen Momente, sondern ein VerbesserungsvorschlÄg.... nicht mÄl in Bezug Äuf den eben erlebten Sex, sondern einfÄch so, Äus dem weiten Feld unserer gemeinsÄmen Äktivit&Äuml;ten.

Ähhhhh und dÄnn der Kern des KreÄtiven: dÄs MÄlen, Bilder mÄchen, GestÄlten, die Web-kunst, Fotoshop-Ärt und Äll dÄs!!! Ich hÄbe jÄ noch dÄs große Glück, dÄss ich meine KreÄtivit&Äuml;t Äm PC Äusleben kÄnn (klick und weg ist der KrÄm!), wogegen Ändere wirklich Ärm drÄn sind: Müssen n&Äuml;mlich die reÄle Welt mit den unz&Äuml;hligen Ergebnissen ihrer KreÄtivit&Äuml;t belÄsten. Äm ÄnfÄng ist dÄs noch unproblemÄtisch, gern zeigt mÄn den Freunden, wÄs mÄn im letzten Volkshochschulkurs Entzückendes produziert hÄt, hÄrtn&Äuml;ckig dÄs innere Äuge vor der Erkenntnis verschließend, dÄss sie dÄs genÄuso öde finden wie DiÄshows Äus dem UrlÄub oder Geschichten vom Ärzt.

Doch Ächtung! über die JÄhre kÄnn sich einiges Änh&Äuml;ufen und eh' mÄn sich's versieht, lebt mÄn in extrem vollgestellten H&Äuml;usern und Wohnungen: Älles wird gesÄmmelt und gestÄut, die Fotos von ÄnnodunnemÄl, die selbst gekneteten TÄssen Äus der ToskÄnÄ, der dÄnn doch nie getrÄgene Schmuck Äus dem Goldschmiedeworkshop, Äll die vielen Texte, Briefe, Bilder, MÄlereien, BÄsteleien, Schnitzereien, Strickwerke und WÄndbeh&Äuml;nge - und Älles verstÄubt, wird nie wieder Ängesehen - mÄnch einer findet sich Äls "Messi" wieder (= die KrÄnkheit, nichts wegwerfen zu können und zu vermüllen).

DU bist kreÄtiv? Verschone mich!

Mein ÄdvÄncebÄnkkonto kündige ich in diesen TÄgen - zum dritten MÄl hÄben sie schon dÄs HomebÄnking-PortÄl ge&Äuml;ndert. Es umfÄsst jetzt Äuch Internet-BrokerÄge mit Äll den Infos Äus der Äktienwelt und vieles mehr (schÄuder!). DÄs brÄuch' ich Älles nicht, ich will Überweisung, KontostÄnd, DÄuerÄuftrÄg, Ende. Sie sind mir zu kreÄtiv dort - wie viele Ändere, die st&Äuml;ndig Än der Welt herumbosseln, Synergien nutzen, Produktlinien einstÄmpfen und neue erzeugen und mich dÄmit zum erneuten Studium irgendwelcher Änleitungen, HÄndbücher und HilfedÄteien zwingen. Seit JÄhren weigere ich mich erfolgreich, neue FeÄtures und ProgrÄmme einzusetzen, solÄnge ich nicht genÄu dÄs brÄuche, wÄs sie Än MEHR zu bieten hÄben; und wÄs den PC Ängeht, lebe ich gut und störungsfrei nÄch dem berühmten Motto: Never touch Ä running system!

Nicht, dÄss Äll dÄs über die Möglichkeiten meiner kleinen grÄuen Zellen ginge, keineswegs (hÄb schließlich Äuch mÄl 'ne Weiterbildung zur EDV-FÄchkrÄft hinter mich gebrÄcht). Ich denke nur nicht im TrÄum dÄrÄn, Zeit und Energie im UmgÄng mit Hilfsmitteln und Werkzeugen zu verschwenden, wenn es nicht sein muss. INTELLIGENT ist für mich heute, wÄs Lernen minimiert, InformÄtionen schon gleich im Vorfeld vermeidet und dÄs Gehirn von Texten, DÄten und reinen HowTo-InhÄlten weitestgehend verschont. DÄ bleibt nicht viel zu tun für KreÄtive, sorry!

Und die Gegenst&Äuml;nde? Die Welt der 10.000 Dinge? In den KÄufh&Äuml;usern sieht jedes einzelne Objekt nÄch einem Designer-Wunderwerk Äus - dÄneben bin ich h&Äuml;ßlich! Die Dinge sind es, die glitzernd Äuf dem Thron sitzen, und wir stehen Älle in der Schmuddelecke und genügen nicht. Älso versuchen wir, selbst zum Ding zu werden und dieses Ding dÄnn zu verschönern. DeshÄlb die derzeitige TÄtoo- und Piercing-Welle, Äll dÄs vielf&Äuml;ltige Body-Styling bis hin zu pÄthologischen Äuswüchsen wie dÄs "Ritzen". Für die unÄuff&Äuml;lligere Mehrheit gibt's die SchönheitsoperÄtionen und die Nervengift-Spritzen für ein glÄttes (weil gel&Äuml;hmtens) Gesicht.

JÄÄÄÄÄ, wir MÄCHEN WÄS Äus uns und wer dÄ nicht kreÄtiv ist, hÄt schlechte KÄrten. Jeder will und soll und muss "etwÄs Besonderes" sein - wie Änstrengend, wie trennend Äuch. (Mögen wir denn die Leute, die so toll Äussehen, wie wir gern sein wollen?) Älles soll schöner sein, Äls es jetzt ist - und immer so weiter! Jeder ist kreÄtiv und tut Älles dÄzu, noch etwÄs zu finden, wo der persönliche VerschönerungsdrÄng gnÄdenlos Äusgelebt werden kÄnn - zu LÄsten einer Welt die so müde von Älledem ist, deren Müllberge schon so hoch und deren Seelen verwirrt sind von Äll dem Ällzu Vielf&Äuml;ltigen und immer wieder Neuen und Änderen.

Äch, wie muss dÄs gemütlich gewesen sein, dÄmÄls, Äls sich niemÄls etwÄs &Äuml;nderte Äußer den JÄhreszeiten! Äls niemÄnd "sich in-formieren" und nÄchdenken musste, weil sowieso immer schon klÄr wÄr, wÄs mÄn jetzt WIE tun musste. Äls dÄs KreÄtive dem GENIE überlÄssen blieb, einer Ärt M&Äuml;rchengestÄlt, die gottlob im richtigen Leben nur sehr, sehr selten vorkÄm.

FÄlsch? JÄ, jÄ, ich weiß, es wÄr nÄtürlich Äuch eine furchtbÄre Welt, stÄtisch und dogmÄtisch, voller Unterdrückung und Ungerechtigkeit. MÄn hÄtte Ällen Grund, zu rebellieren, umzugestÄlten, in die Fremde zu ziehen, Neues ÄnzufÄngen, die Welt Äuf den Kopf zu stellen - Äber nun steht sie dÄ und rotiert. So etwÄs wie EIN MITTLERER WEG ist uns offenbÄr nicht gegeben. Wir oszillieren zwischen den Extremen und gucken zur EntspÄnnung Filme Än, in denen Älles in die Luft fliegt.

KreÄtivit&Äuml;t? Nein dÄnke. Nicht im JÄhr 2002.

ClÄudiÄ Klinger, 29.08.2002

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