Claudia am 14. April 2014 —

Vom Verschwinden der Friedlichkeit

Nein, ich will nichts über die brisante Zuspitzung in der Ukraine schreiben, nicht über die einseitige Berichterstattung lästern und auch nicht darüber, dass trotz der eskalierenden Lage auf Twitter #Tatort, #jauch und #dsds trenden. Offenbar gelingt es vielen, von allem, was droht und ängstigt, einfach abzusehen. Z.B. auch davon, dass unsere Daten nirgendwo mehr sicher sind: 75% geben an, nichts am eigenen Verhalten geändert zu haben. Andere „Aufreger“ muss man künftig nicht mal mehr selber ignorieren: Dass wir bald keine Fleischskandale mehr haben werden, weil die EU eine Geheimhaltungspflicht für die Kontrollbehören einführen will, wird uns vor einer Menge unschöner Nachrichten schützen. Und „bloßstellende Bilder“ werden jetzt auch endlich verboten. Niemand soll behaupten, die Politik unternehme nichts für unseren inneren Frieden, wenn der äußere schon den Bach runter geht! Selber schuld, wenn man noch Artikel zum Klima-Bericht liest, oder gar die Kommentare darunter! Oder sich von der Aufforderung des Schweizer Armee-Chefs beunruhigen lässt, der das Anlegen von Notvorräten empfiehlt: auf Cyber-Angriffe sei ja niemand wirklich vorbereitet.

Eigentlich will ich mich grade innerlich sammeln und beruhigen, indem ich blogge. Mich auf etwas Bestimmtes konzentrieren, das aus der Masse der Nachrichten und Verlautbarungen des Tages heraus ragt oder über etwas schreiben, das mich davon ablenkt – wie etwa die Tomaten-Anzucht auf meiner Fensterbank. Aber heute will mir das partout nicht gelingen, überall nehme ich exorbitante Steigerungen der Feindseligkeiten war. Bei den Piraten, einstmals Hoffnungsträger im politischen System, ergießen sich Hasswellen über den noch nicht zurück getretenen „Restvorstand“, der beschimpft, angegriffen, beleidigt, verklagt und angezeigt wird. Fundamentalistische Trolle sorgen mit öffentlichen Aufrufen dafür, dass auch in der normalerweise friedenspolitisch engagierten evangelischen Kirche wieder interne Glaubenskriege ausbrechen. Der Hass im Internet wird immer öfter Thema, einschließlich der absurden „Liebe zum Hass“. Es ist aber nicht „das Netz“, auch draußen im richtigen Leben geht die Post ab. In ganz Europa werden die Roma verfolgt und schikaniert, man sucht wieder Sündenböcke und ist dabei nicht zimperlich. Je mehr „soziale Schieflage“ der Finanzkapitalimus den Bevölkerungen zumutet, desto größer wird der Bedarf, Schwächere auszugrenzen, um sich so noch „als was Besseres“ fühlen zu können. Rechte Parteien sind überall auf dem Vormarsch, Israel konfisziert und bebaut weitere Flächen im Westjordanland, in Syrien geht der Giftgas-Krieg weiter, tausende afrikanische Kriegs-Flüchtlinge aus Eritrea und Somalia stranden nun in Agrigent statt Lampedusa. Wo man hinschaut, breitet sich MEHR Chaos aus – was ist nur los mit der Welt?

Auf Hor.de steht heute:


Optimierung komplexer Systeme
Veränderung von Gleichungen
Ökonomie der Knoten in den Sätzen
aber du, wie du die Massakermaschine
ausschaltest, mein Text.

Schade, dass mein Text das heute nicht kann. Leider auch an keinem andern Tag.

***

Update, 18.54: Doch noch was Positives, ausgerechnet bei den Piraten: sie haben sich offenbar mal nicht gestritten, sogar zusammengearbeitet…

Diskussion

Kommentare abonnieren (RSS)
7 Kommentare zu „Vom Verschwinden der Friedlichkeit“.

  1. Davon absehen – aber auch die Zipfel erwischen, wo man was tun kann. Sonst geht Leben nicht, sonst kommen die Magengeschwüre und horrenden Ängste nach außen, die Ichwerdverrücktkappe stülpt sich über einen. Auch nicht Sinn der Sache. Mein Denkapparat jedenfalls ginge kaputt, wenn ich nicht davon absehen würde…

  2. Danke Sonja! Mach ich ja auch oft, aber manchmal….

  3. Hallo Berlinerin:)

    ….Auf Hor.de steht heute:
    ….Optimierung komplexer Systeme
    ….

    ja auch heute steht der Text von Dirk
    wie ein Fels in der aufgeregten Brandung
    der allgemeinen internettität:)

    (aber) Dirk lässt sich Zeit, dieses
    geniale textfragment steht schon länger (1 monat??)
    in den Notizen auf der Haupseite.
    und immer wenn ich dort vorbeiflaniere
    grüble ich über das universum, das leben
    und den ganzen rest.(danke dirk:)).

    wir sind der geist der strasse
    eingewobener sternenstaub der welt
    freunde sind mir wirklichkeit
    und anderswo vermag ich nichts zu ändern

    kurzgruss
    aus sz
    ingo

  4. Danke Ingo, schön dich mal wieder zu lesen! Erfrischend, deine Gelassenheit…

    ***

    Dass Journalisten machtvoller Medien mal ernsthaft über Volkes Meinung nachdenken, empfinde ich heute schon als „gute Nachricht“.

    Wie Putin spaltet

    Woran liegt es, dass so viele Bürger die Krimkrise ganz anders beurteilen als Politik und Medien?
    ZEIT ONLINE, 10.4. von Bernd Ulrich

    „Wenn die Umfragen nicht täuschen, dann stehen zurzeit zwei Drittel der Bürger, Wähler, Leser gegen vier Fünftel der politischen Klasse, also gegen die Regierung, gegen die überwältigende Mehrheit des Parlaments und gegen die meisten Zeitungen und Sender. Aber was heißt stehen? Viele laufen geradezu Sturm, bei den Leserbriefen scheint der Anteil der Kritiker noch deutlich höher zu sein als seinerzeit anlässlich von Sarrazins Buch.“

    Drauf gekommen bin ich über den aktuelleren Artikel, der schon wieder etwas „angefressener“ geschrieben ist:

    Eine Debatte zum Gruseln

    „Die deutsche Diskussion über Putin macht beklommen. Ist es noch möglich, eine Position zur Ukraine zu beziehen, ohne als Russlandversteher oder Kriegstreiber dazustehen?
    14.4. Ein Kommentar von Christian Bangel“

    Auch die Kommentardebatten sind lesenswert, angesichts der Masse hab ich allerdings nur die unter letzterem Artkel ein Stück weit mitgelesen.

  5. für den hass und die ungezogenheit hatte ich ja schon ein paar erklärungen angeboten, das erklärungsmodell in „liebe zum hass“ finde ich auch durchaus schlüssig, wenn man die fähigkeit zur selbstironischen betrachtung unterstellt.

    auch so ein massenphänomen: angst und die anbiederung an das starke. ich glaube, die deutschen spinnen gerade ein bißchen, weil sie sich fürchten und kein vertrauen haben.

    genau das halte ich ja für so gefährlich. objektiv gesehen hat putin für eine schockwelle, was das vertrauen in den anderen betrifft, gesorgt, erscheint mit seinen truppen hinter der grenze einerseits bedrohlich und andererseits „viril“. ich halte ihn für ein würstchen und denke mit jean asselborn, dem luxembourger aussenminister, daß er schon längst verloren hat – weil von dem vertrauen lebt russland nun mal. nur wenn wir übersehen, daß er im grunde aus dem fenster gesprungen ist und bei stockwerk 17 von 20 behauptet, er könne fliegen … und von hier untern man noch den eindruck haben könnte, das wäre wirklich so … können wir übersehen, daß er gnadenlos auf den boden klatschen wird.

    der rubel löst sich in rauch auf, leute schaffen ihr geld aus russland und auf die dauer wird man ihm einfach nicht mehr so weit vertrauen, daß man sich von ihm abhängig macht. wir sind halt an einem punkt in zeit und raum, an dem es zum fürchten ist, ob jetzt doch noch zwanghaft schulhof gespielt werden muss oder nicht.

    da besteht dann die gefahr, daß irgendjemand die nerven verlieren könnte.

    das gros derer, die jetzt protestbriefe an die sender schickt, sagt ja deutlich: „nicht mit uns“. aber man sollte auch nicht übersehen, daß da viel im grunde überflüssige panik den leuten ein bißchen das gehirn vernebelt und seltsame blüten treibt wie liebesbriefe an putin aus reihen der „linskpartei“ und der NPD … das ist ne ziemlich amorphe masse und die tendiert halt dazu, die (wasauchimmer)versteher auszugrenzen.

    sorry, da müssen wir durch, es bleibt uns ja auch nichts übrig, oder?

    ach ja, ganz gut zum thema, der hintergrund politik von gestern, 20 min

  6. Danke Hardy, ich habs mir tatsächlich angehört!

    „…. erscheint mit seinen truppen hinter der grenze“

    sogar die Infos, von denen wir fest ausgehen, werden medial von an sich vertrauenswürdigen Medien in Frage gestellt. CNN (die offenbar im Gegensatz zu unseren MegaMedien noch ein Aufklärungsinteresse haben) hat jedenfalls am 8.4. noch keine „Tanks“ im angeblichen Aufmarschgebiet feststellen können:

    http://edition.cnn.com/video/data/2.0/video/world/2014/04/08/ukraine-border-russia-military-black-pkg.cnn.html

    Nun ist das schon ein paar Tage her und ich nehme an, sie sind zumindest JETZT da, wenn dies von westlichen Politikern immer wieder bekräftigt wird.

    Im Artikel „Wie Putin spaltet“ wird sehr gut heraus gearbeitet, welchen Vertrauensverlust „der Westen“, die USA, die EU bei der Bevölkerung zu verzeichnen hat und warum. Bei zwei Dritteln der Gründe bin ich dabei!

    Du sprichst vom Vertrauensverlust Putins, doch hat der „uns“ immerhin nie so enttäuscht, wie es westliche Machtpolitiker vermochten und auch taten. Satellitenbilder von Husseins Massenvernichtungswaffen, vorgezeigt mit aller institutionalisierten Autorität der Weltmacht USA – und was war damit? Nichts…

    Obwohl ich immer gerne eine Lanze für pauschal gebashte Politiker/innen breche, denke ich manchmal: viele von ihnen haben wohl alle zuviel Praxis in Sachen „das Volk belügen“, so dass ihnen (und den ihnen verbundenen Journalisten) gar nicht mehr richtig auffällt, was für ein Langzeitschaden im Vertrauen der Bürger durch sowas entsteht.

    Dann: die beschworenen „gemeinsamen Werte“ des Westens – jedes Mal, wenn ich das höre, denke ich z.B. an die Todesstrafe (der viel mehr Schwarze zum Opfer fallen), an das für mich barbarische Strafrecht und Gefängniswesen der USA, an den Drohnenkrieg gegen niemals angeklagte einzelne „Terroristen“ da irgendwo, an Guantanamo, das immer noch existiert, an Abu Graib und vieles mehr (natürlich auch die Hybris der NSA etc.)
    Ich konnte eine Liste machen – immer links das jeweilige Verhalten und rechts die „westlichen Werte“, die dadurch aufs heftigste konterkariert werden…

    Dass vielen Bundesbürgern die „führenden Politiker und Journalisten“ mittlerweile wie geschichtsvergessene, wertelose Nachplapperer am US-amerikanischen Rockzipfel vorkommen, sollte da nicht wundern!

    (Natürlich gibt es auch das „andere Amerika“ – aber das ist leider seit langem nicht mehr an der Macht.)

  7. claudia

    [..] Du sprichst vom Vertrauensverlust Putins

    ahem, _in_ putin. ich bin kein zwanghafter „putinversteher“ (hihi, ich wollte es partout auch mal verwenden), verstehe aber auch bis zu einem gewissen grad, was ihn treibt. noch weniger bin ich ein fan der „westlichen werte“, sehe aber auch, daß es das wohl gibt „den westen“ und bin bis zu einem gewissen grad froh, daß es so ist, da neige ich nicht zur selbstgeisselung.

    und ja, der artikel ist gut, um die sachen, die so ungeordnet in meinem kopf herumschwirren, halbwegs zu sortieren.

    [..] sollte da nicht wundern!

    im gegenteil, ich verstehe nicht, daß scharz/rot sich nicht traut, snowden freies geleit oder gar asyl anbietet – rot/grün hätte das gekonnt und vor allem gemacht.

    wir waren schon sehr viel weiter …