Claudia am 08. Januar 2014 —

Vom Bemühen, das Bewusstsein zu verlieren

Nachts möchte ich gerne schlafen. Meist gelingt das auch, doch gelegentlich nutzt mein über den Tag mit vielerlei medialen Eindrücken überversorgtes Gehirn die plötzlich freie Zeit vor dem Einschlafen, um mir aktuelle Menschheitsprobleme zur Verarbeitung vorzulegen.

Wie aber lässt sich so etwas wie „Die Welt nach Fukushima“ so verarbeiten, dass man danach gut schlafen kann? Geht gar nicht! Und zuvor hatte ich auf PHOENIX auch noch einen unglaublich eindringlichen Film gesehen, in dem die Kinder von Fukushima berichten, wie sie das ganze Desaster – Erdbeben, Tsunami, AKW-GAU – und die Zeit danach erlebten. Bei uns ist das ganze Thema weitgehend aus dem Medien verschwunden, doch dort bleibt die Umwelt auf unabsehbare Zeit verstrahlt – mit unfassbar deprimierenden Folgen für die Menschen.

Festhalten, egal wie verrückt…

Abgesehen vom Desaster selbst hat es mich richtig fertig gemacht, zu sehen, wie viele Menschen sich dort immer noch Illusionen hingeben. Sie bleiben in der Nähe ihrer verstrahlten Dörfer, gewöhnen sich ans ständige Messen der Strahlung und erwarten von ihrer Regierung, dass diese verlautbart, ob und wann eine Rückkehr möglich sein wird. Dabei reichen ein paar Info-Klicks im Netz, um zu erkennen, dass das Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte nicht möglich sein wird. Sie „putzen“ verstrahlte Dächer, Wege und Plätze, doch die Natur rundum lässt sich nicht putzen und emittiert weiter soviel Strahlung, dass jegliches „Dekontaminieren“ binnen kurzem wiederholt werden müsste. Ein Vater erlaubt seinem Kind täglich 30 Minuten Spielzeit draußen auf einem asphaltierten Platz – wegziehen will er nicht, sagt er, denn er weiß nicht, OB ER ANDERSWO EINEN JOB BEKOMMEN würde. Und natürlich muss die Familie zusammen bleiben, sagt die Mutter.

Verdammt, ich will doch endlich einschlafen und nicht auch noch in Wut über das Schaf-Verhalten der armen Betroffenen geraten! Ich konzentriere mich auf den Atem, die Szenen verschwinden, dafür tauchen die Fischer auf, die tonnenweise gefangenen Fisch von Tepco-Mitarbeitern messen und wiegen lassen und dann wieder ins Meer werfen: Über 80 Bequerel belasteter Fisch kann nicht vermarktet werden, aber der AKW-Betreiber zahlt eine Entschädigung pro Kilo. Na klar, deshalb macht es ja ungemein Sinn, weiter die Netze auszuwerfen: fangen, messen, wiegen, zurück werfen… tonnenweise!

Genug, genug, das ist doch weit weg und ich kann an alledem sowieso nichts ändern.. atmen… spüren, wie die Luft durch das Nasen-Innere weht… Ich stelle mir mein LEERES Hirn vor, still, dunkel, keine Inhalte, keine Katastrophen, gar nichts…

Da reisst mich die nächste Ungeheuerlichkeit unserer Tage aus der Trance, die das nahe Einschlafen ankündigt. How the NSA Almost Killed the Internet (Archivversion) – ein ausführlicher Bericht über das „Jahr in der Hölle“, das die Tech-Titanen Google, Facebook, Microsoft u.a. in 2013 erlebten – und wie sie sich in der Situation vorfanden, gegen ihre eigene Regierung „um ihr Überleben kämpfen“ zu müssen.

Den umfangreichen WIRED-Artikel hatte ich nachmittags gelesen und obwohl mein Englisch nicht ganz für alle Details ausreicht, verstand ich doch genug, um das ganze Ausmaß des Dilemmas und die weitgehende Machtlosigkeit selbst dieser Giganten mitzubekommen. Nicht, dass mir das Schicksal von Google oder gar Facebook persönlich viel bedeutet, doch macht der Artikel deutlich, dass selbst für die USA-Wirtschaft wichtige weltweit aktive Firmen nichts, aber auch gar nichts gegen die Datensammelwut der NSA und der auf „Kampf gegen den Terrorismus“ gepolten Regierung zu tun vermögen. Die NSA-Leute sind und bleiben überzeugt, dass ihr Tun unverzichtbar ist, um „Leben zu retten“ und sämtliche üblen Auswirkungen rechnen sie alleine der VERÖFFENTLICHUNG ihrer finsteren Aktivitäten an – böser Snowden, böse Presse:

„But they do not see any of those points as a reason to stop gathering data. They chalk all of that negativity up to monumental misunderstandings triggered by a lone leaker and a hostile press. NSA employees see themselves as dealing with genuine deadly threats to the nation, and it makes them crazy when people assume that spooks at Fort Meade are intent on stealing their privacy.
“It’s almost delusional,” Ledgett says. “I wish I could get to the high mountaintop to scream, ‘You’re not a target!’”

So so, wir alle sind keine Ziele, wohl aber durchweg verdächtig und den Algorithmen ausgeliefert, die nach Gutdünken finsterer Spione Zusammenhänge zwischen Datenspuren herstellen, die wir über die Jahre im Netz hinterlassen. Da ich mich als Bürgerin des 21.Jahrhunderts daran gewöhnen musste, dass WIRTSCHAFT und WACHSTUM normalerweise die obersten Kriterien politischen Handelns darstellen, ist es nun umso erschreckender, zu erkennen, dass es doch etwas gibt, das DARÜBER steht: die totale Überwachung von allem und jedem!

Was nützt es aber, wenn ich deshalb nicht einschlafen kann? Gar nichts! So sehe ich also meinem eigenen Polit-Kopfkino zu, in der Hoffnung, dass es irgendwann verblasst und ich endlich das belastete Bewusstsein verliere. Traumlose Leere, ich komme…

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Diskussion

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8 Kommentare zu „Vom Bemühen, das Bewusstsein zu verlieren“.

  1. Traumlos wünsche ich mir meine Nächte nicht. Da wird viel verarbeitet. Ich habe meine Traumlieblingsstellen- und orte..
    Und es kann einem niemand rein schauen (noch nicht).Vor dem Schlafen gucke ich am liebsten Thea Dorn, Denis Scheck oder andere Bücherleute.
    Gruß von Sonja

  2. ah, ich ahne, du ahnst langsam, warum ich zb. beim zu bett gehen immer ein hörbuch laufen habe ;-)

    tröstende worte später, im moment gibt’s einfach zu viel zu tun, aber wenn dir der wired artikel nicht ganz klar war, hör dies

    http://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2014/01/11/dlf_20140111_1640_782a2d41.mp3

  3. so und jetzt noch ein paar tröstende (?) anmerkungen:

    also, erstens sind wir jetzt so alt, daß man von uns nicht mehr 100% beim vorantreiben der revolution hin zu einer besseren welt erwarten kann, und dieses „man“ schliesst uns selbst mit ein.

    zweitens: empathie ist für mich so eine primärtugend wie es etwa die demut für ben ist. essentiell. das leid jedes einzelnen wesens, dessen wir gewahr werden, „rührt uns an“ … der buddhismus sagt uns aber auch: mitleiden und nicht verstricken.

    also: den menschen in fukushima „nutzt“ meine empathie nichts, sie „nutzt“ nur mir, weil ich mir sagen kann: ich fühle mit und (ich bin bzw.) das ist gut. meine ggfl. entstehende wut auf die, die das zu verantworten haben, schadet denen nichts – aber sie schadet mir.

    was nichts daran ändert, daß es gut & richtig ist, „mit zu leiden“. das unterscheidet leute mit bewusstsein von solchen mit instinkten.

    drittens: es gibt nur eine rettende position – die historische betrachtung der gegenwart als etwas zwischen gestern und morgen. ich befürchte, wir gucken alle zu viel auf das „jetzt“

    nicht ganz wie in diesem wunderbaren comic von anne emond, die ja auch die gegenwart missachtet ;-)

    wir regen uns ständig auf, alles ist immer ganz schrecklich schlimm und muss SOFORT behoben werden. zu blöd: so ist das nicht, alles braucht seine zeit. und so haben wir im moment halt die situation, daß 10% der karten auf dem tisch liegen, wir aber nicht wirklich sehen könnten, daß das irgendetwas verändert.

    meine these: wir erleben gerade wieder so einen versuch des alten, das neue auf „den platz zu verweisen“. darüber hätte ich gerne nachdem ich mich zu jahresanfang so über diese knilche bei der zeit aufgeregt habe, nur zu gerne was geschrieben, aber dann bin ich in die arbeitsfalle getappt.

    so viel: die alten medien, die politik, die „herrrschenden“ haben gerade verstanden, daß ein „shitstorm“ auch nur etwas ist, was man irgendwie aushalten können muss und daß die sog. „netzgemeinde“ auch nur ein zerstrittener haufen ohne bedeutung ist. so reagieren sie nämlich.

    aaaaber: in „wirklichkeit“ ist es nur der prozess als solcher, der zeit braucht, bis jedem hirni die konsequenzen klar sind. google hat gerade verstanden, daß glass nichts wird, weil die nsa gezeigt hat, was sie damit machen wird. das ist geschäftsschädigend – und wenn früher die ölindustrie noch die spielregeln der politik allein bestimmen konnte – jetzt wird es silicon valley. und, ahem, die bezahlen die gehälter der nsa mit ihren steuern …

    und das gefällt denen gerade, weil sie es gerade erst selbst verstanden haben, gar nicht. der artikel in der wired kommt ja erst _jetzt_. und nun müssen sich alle erst dazu „verhalten“. ergebnisse? frühestens in einem halben jahr …

    die frage ist, wird sich die regierung über deren interessen wirklich hinwegsetzen können? ich denke _nicht_. einmal abgesehen davon, daß selbst obama mittlerweile ein paar sachen klar geworden sind. das dauert noch ein bißchen, bis das „alte“ ohne gesichtsverlust dem neuen platz machen _kann_.

    nur, platz machen wird es früher oder später eh …

    ich hoffe, die vorstellung, daß wir uns in einem prozess befinden und nur das licht am ende des tunnels nicht sehen, dich halbwegs „tröstet“, weil du so gut wie ich weisst, daß ich da etwas beschreibe, was wir in den letzten 30 jahren verstanden haben sollten: die affen kreischen immer am lautesten, wenn sie auf dem rückzug sind.

    im moment kreischen die affen des alten besonders laut ;-)

    fukushima, claudia, das können weder du noch ich ändern, es sei denn einer von uns beiden erfindet eine methode, radioaktivität aus dem boden raus zu kriegen, was aber eher unwahrscheinlich ist – ich habe keinen plan, wie ich es machen könnte und du auch nicht …

    so wenig wie wir beide den giftmüll, den die mafia in italien verbuddelt hat, da wieder wegbekommen, der jetzt dazu führt, daß dort kinder an krebs erkranken. der zustand dort dürfte in etwa dem in fukushima entsprechen.

    du siehst: ich hätte jeden tag 20 themen, die mir eigentlich den verstand rauben sollten. aber ich habe auch eine menge guter hörbücher zum einschlafen – es ist nicht wichtig, ob wir uns über diese dinge „empören“, es ist okay, wenn wir mitfühlen, und richtig, daß wir uns interessieren.

    aber: wir brauchen vor allem ne menge geduld mit uns und der welt.

    tippfehler darf jeder behalten, der sie findet, keine zeit zum korrekturlesen

  4. @Hardy, sehr herzlichen Dank, das sind wirklich tröstliche Überlegungen!! Ist ja auch nicht so, dass es mir jeden Tag und jede Nacht so geht… dass meine Empörung/Wut niemandem nützt, sag ich mir selber ja auch.

    Und etwas Schönes HÖREN ist eine gute Idee, ich bin da leider etwas entwöhnt, will mich aber durchaus wieder reinfinden… fürs erste hör ich bei mieser Stimmung meine Playlist MachtLaune.

    Und nun ruft erstmal die Arbeit!

  5. [..] laune

    immerhin zwei titel, die ich noch nicht kannte ;-)

    wenn ich das recht sehe, behütet gerade eine person in deiner nähe eine festplatte mit meinem „hearer’s digest 1900-2012“. wenn ich mal deprimiert bin, wähle ich ein jahr (am besten was anfang der 70er) und dann geht es mir auch sofort wieder gut …

    [..] Ist ja auch nicht so, dass es mir jeden
    [..] Tag und jede Nacht so geht

    ich weiss, wie es _mir_ geht und denke mal, da du die welt sicher nicht weniger aufmerksam betrachtest als ich, kann ich gut nachvollziehen, wie es dir mit dem ganzen elend da draussen geht: ihn auszublenden und uns auf unseren nächsten malle-urlaub und eine sangria-sause fokussieren ist nicht und war wahrscheinlich nie drin.

    ein freund, den ich vor jahren mal dazu brachte, nicht nur sachbücher, wie man ein auto repariert etwa, zu lesen und der heute buchhandlungen wie restaurants besucht, meinte dazu: „früher, als ich noch über nichts nachdenken musste, war alles soooo einfach. aber je mehr man über die dinge nachdenkt, um so schwieriger werden sie. und um so einsamer wird man, weil die anderen sich offensichtlich darüber keine gedanken machen müssen.“

    das erste „richtige“ buch, das er gelesen hat, war übrigens „comic trigger“ von r.a. wilson und es hat sein leben verändert. er ist heute sehr viel einsamer als früher. aber auch sehr viel klüger und sitzt für die grünen in einem norddeutschen stadtrat.

    wie man’s macht … ;-)

    das blöde am denken und der empathie ist ja: man kann nicht einfach wieder damit aufhören …

  6. ps: die edit funktion spinnt mal wieder ;-)

  7. @hardy: ich wette, die 2 unbekannten Songs waren der „Musentango“ und „Morgens bin ich immer müde“ von Laing.. :-)

    Die Edit-Funktion hab ich jetzt fürs erste abgeschaltet – werde es nach Gesamt-Update wieder probieren.

    Grade hab ich auf PHOENIX eine tolle Doku gesehen, die zeigte, wie sich indische Dörfer in trockenen Gebieten mittels aufwändiger Wasserwirtschaftsumbauten zu prosperierenden Gemeinden entwickeln – toll!

    Man muss halt auch mal was Positives anschauen, nicht nur immer das Elend…

  8. [..] Man muss halt auch mal was Positives anschauen

    ich dachte, genau das hättest du dir am jahresanfang vorgenommen ;-)

    manchmal ist es auch einfach so, daß wir uns nur aufregen „wollen“ und dabei die relationen übersehen. ist zwar jetzt ein klitzekleines bißchen offtopic, aber ich fand zum beispiel dieses interview in sachen petition gegen einen sexuell halbwegs ausgeglichenen unterricht in bw erhellend: alle kreischen über die paar tausend vollidioten … und eine gegenpetition toppt schon nach ein paar tagen die eigentliche um das doppelte.

    die leute, wir, sind nicht bekloppt, claudia, und auch wenn es an der oberfläche ruhig aussieht, der see ist tiefer als gedacht.

    das löst nicht alle probleme mit einem schlag, aber … naja, es erinnert uns daran, daß am ende _wir_ gewinnen werden und der planet peu a peu ein besserer ort. wie das geht, hast du ja demonstriert: man macht eine kleine geste. das bewirkt mehr als fünf stoßseufzer ;-)